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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Momentaufnahmen eines alltäglichen Versagers: Gunnar Deckers Biographie des Dichters Rainer Maria Rilke darf mit weniger Vorurteilen rechnen, muss aber geringeres Vorwissen berücksichtigen. Das Resultat ist zwiespältig.
Anfang 1922 hat Rainer Maria Rilke Ärger mit seiner Tochter Ruth. Ruth will heiraten, und Rilke hat zur Ersteinrichtung ihrer Wohnung die Hälfte der hunderttausend Mark zugesagt, die auf seinem Honorarkonto beim Insel-Verleger Anton Kippenberg aufgelaufen sind. Aber die Inflation in Deutschland hat, wie der im Schweizer Wallis lebende Dichter sehr wohl weiß, den Wert des Geldes stark reduziert. Für Ruths Wünsche reichen fünfzigtausend Mark deshalb nicht aus: Sie verlangt weitere zwanzigtausend. Rilke gewährt ihr die Hälfte. Über diese zehntausend Mark hinaus aber, so schreibt er am 27. Januar an Kippenberg, der als Vermittler fungiert, "sollten wir in unserem ergänzenden Entgegenkommen nicht gehen". Der Verleger freilich insistiert. In Briefen schildert er Ruths Probleme bei der Gründung ihres Hausstands. Endlich gibt Rilke nach. Am 10. März meldet ihm Kippenberg, er habe die gewünschte, "nun aber endgültig restliche" Summe an Ruth überwiesen.
Das Gefeilsche zwischen Leipzig und dem Wallis findet in einer entscheidenden Phase von Rilkes Schaffen statt. In diesen Wochen, genau zwischen dem 7. und dem 26. Februar 1922, vollendet er in seiner Klause auf Schloss Muzot bei Sierre die "Duineser Elegien" und verfasst die fünfundfünfzig "Sonette an Orpheus". Während er also morgens und mittags darüber verhandelt, wie hoch die finanzielle Mitgift für seine Tochter ausfallen soll, und sich in Anzug und Krawatte am Tisch sitzend von seiner Hausangestellten Frida Baumgartner - er nennt sie "Geistlein" - bedienen lässt, schreibt er abends und nachts Verse wie jene sarkastischen über das "Geschlechtsteil des Gelds", das "sich vermehrt, anatomisch", oder die hymnischen über den Bettler, dessen Schönheit und Würde "nur dem Aufsingenden säglich. / Nur dem Göttlichen hörbar" seien. Es ist der Grundwiderspruch von Rilkes Leben. Denn einerseits ist er ein Dichter, der bedeutendste seiner Zeit. Und andererseits ein Mensch, der sich im Alltag keineswegs mit Ruhm bekleckert hat.
Von "Wendepunkten und Widersprüchen in Rilkes Leben" will Gunnar Decker in seiner Biographie des Dichters erzählen. In den beiden Kapiteln über die Entstehung der "Sonette", den Abschluss der "Elegien" und die Mitgiftverhandlungen mit Kippenberg gelingt ihm das beispielhaft, obwohl - oder gerade weil - er die Gleichzeitigkeit von Schaffensrausch und väterlicher Knauserei nicht ausdrücklich hervorhebt. An vielen anderen Stellen dieses Sechshundert-Seiten-Buchs indessen wirken Deckers Kommentare zu Rilkes Lebenswandel besserwisserisch, manchmal auch überheblich. Das liegt nicht allein an jener historisch-kritischen Haltung zu seinem Gegenstand, wie sie jedem heutigen Biographen gut ansteht (auch wenn ein Satz wie "Gegen die Sorgen anderer Menschen erweist er sich zuverlässig als immun" die Grenze zur Schulmeisterei streift). Es hat auch mit einer grundsätzlichen Zweideutigkeit in der Anlage seines Buches zu tun, das sich nie ganz sicher zu sein scheint, ob es eher eine Biographie des Werks oder des Autors sein will.
Seit seinem Leukämietod im Dezember 1926 schwankt Rilkes Charakterbild im Auge der Nachwelt. Auf eine Phase der Huldigungen, für die die Biographien von Fritz Klatt und Hermann Kunisch stehen, folgte mit der Polemik von Egon Schwarz gegen "Das verschluckte Schluchzen" eine regelrechte Kriegserklärung, die wiederum in den abwägenden Darstellungen Wolfgang Leppmanns und Donald Praters literaturgeschichtlich abmoderiert wurde. Heute ist das profane und politische Dasein des Dichters kein Aufreger mehr - abgesehen von seinen Frauenbeziehungen, denen sich seit der Jahrtausendwende eine reichhaltige Publizistik gewidmet hat, zu der auch Gunnar Decker mit einem Reclam-Bändchen seinen Teil beitrug.
Für eine neue Rilke-Biographie bedeutet das, dass sie sich frei von der Last vorgestriger Debatten ihrem Thema widmen, aber auch weniger Vorkenntnisse bei ihren Lesern erwarten kann. Sie muss den Rahmen, in den sie ihren Helden setzt, gleich mitliefern. Das gelingt Decker bei den Kurzporträts von Rilkes Brief- und Liebespartnerinnen, angefangen mit der quecksilbrigen Walküre Lou Andreas-Salomé, allemal gut, in den zeitgeschichtlichen Skizzen dagegen deutlich weniger. Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs setzt er fälschlich auf den 1. September 1914 statt auf die Tage zwischen dem 28. August und dem 4. September an, zur Novemberrevolution in München, an der Rilke als wohlwollender Beobachter teilnahm, hat er wenig zu sagen, und der historische Hintergrund von dessen Lob für die "schöne Ansprache" des Diktators Benito Mussolini bleibt bei Decker so gänzlich unerhellt, dass die Bewunderung des Dichters für den Despoten als Schnurre eines desorientierten Zeitungslesers erscheint.
Aber solche kleinen Patzer sind nicht das Problem dieses Buchs. Dessen entscheidende Schwäche, die ihm viel von seiner Wirkung nimmt, liegt in der Kluft zwischen Deckers Anspruch, in diese Lebenschronik auch eine Würdigung von Rilkes Werk einzuflechten, und dem, was ihm dazu tatsächlich einfällt. Dabei ist nichts gegen seine Einordnung des Dichters als "modernen Mystiker" einzuwenden, der die "Als-ob-Existenz Gottes" beschwöre. Aber Deckers Schnelldiagnosen zum "Cornet" ("Romantisierung militärischer Aktion") und zum "Malte Laurids Brigge" ("Ein Buch vom Ende und vom Anfang, von Sinnlosigkeit und Sinnschöpfung") sind nicht nur platt, sondern auch vollkommen überflüssig, und sein Gesamturteil über Rilkes Gedichte würde jede Sonntagspredigt zieren: "Sie reichen bis an den Grund unserer Existenz." Dass er dann auch noch das berühmte zweite Gedicht aus dem "Stunden-Buch" falsch zitiert ("Ich werde den letzten vielleicht nicht mehr vollbringen"), ist sozusagen die Cocktailkirsche auf einer Konditoren-Auslage süßsaurer Germanistenpoesie.
Der geduldige Leser dieser Biographie wird deshalb, um sich seine Begeisterung für Rilke zu bewahren, manches einfach überblättern und anderes, wie Deckers altkluges Schlusswort ("Von Jugend an gewiss ein echter Dichter, konnte er Talmi jedoch nie vermeiden"), sofort wieder vergessen. Aber es bleibt immer noch genug übrig, das man anderswo noch nicht oder nur ganz beiläufig erfahren hat. Etwa Rilkes Bemerkung über Lou Andreas-Salomés Mutter, in der sich sein eigener lebenslanger Mutterhass spiegelt: "ein einziger dicker Bazillus in Deiner Lebensspeise". Oder jener Brief vom 8. Dezember 1926, drei Wochen vor seinem Tod, in dem er bei seiner Vertrauten Nanny Wunderly-Volkart "echte weiche Nachthemden Système Dr. Lahmann" bestellt, "weiß oder beige". Oder auch jener Brief an die gleiche Adressatin, in dem er am 18. Februar 1922, vier Tage nach der Niederschrift der zehnten und letzten "Duineser Elegie", bekennt: "Chère, ich schreie nach - Lactobacilline." Ob ihn sein wohltätiger Engel aus der Deutschschweiz erhört hat? Wir wissen es nicht. Aber wir hören noch immer seine Verse. ANDREAS KILB
Gunnar Decker: "Rilke, der ferne Magier". Eine Biographie.
Siedler Verlag, Berlin 2023. 608 S., Abb., geb., 36,- Euro.
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