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Familienleben auf dem Schlachtfeld: Uwe Pörksen hat einen deutsch-dänischen Generationenroman geschrieben. "Riß durchs Festland" zeigt einen zwischen nationalen Kategorien zerrissenen Alltag.
Wer heute als Tourist nach Schleswig-Holstein oder in den dänischen Süden Jütlands reist, sucht eine ländliche Welt abseits der Zentren, weit weg von Weltpolitik und Schlachtenlärm. Dabei ist es kaum anderthalb Jahrhunderte her, dass sich hier einer der blutigen europäischen Nationalitätenkonflikte austobte. Seine Blutspur zieht sich vom ersten Ausbruch im Jahr 1848 über die Kulmination des Nationalhasses an den Düppeler Schanzen 1864 bis zu jener Volksabstimmung von 1920, die im Schatten des Weltkriegs endlich friedlich lösen sollte, was eine Serie von Kriegen nur immer schlimmer gemacht hatte - und der dann doch noch die deutsche Besetzung Dänemarks und die Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit folgten. Zwar hat sich seither das Verhältnis von Mehrheiten und Minderheiten in diesem Grenzland so glücklich entwickelt, dass es nun als Musterfall eines einträchtigen Miteinanders gilt. Aber noch immer bestehen halblaut alte Vorbehalte fort; noch immer sind, wo einst Wunden klafften, die Narben zu spüren. Von dieser Geschichte erzählt der neue Roman des 1935 in dieser Landschaft geborenen Uwe Pörksen.
Seit seinem Erzähldebüt "Weißer Jahrgang" (1979) ist der Sprachwissenschaftler immer wieder als Erzähler hervorgetreten. Noch nie aber hat er eine so ambitionierte und, im doppelten Sinne, umfangreiche Geschichte erzählt wie hier. "Riß durchs Festland" berichtet aus enger Vertrautheit von Familienerinnerungen und privaten Konflikten. Und zugleich handelt das Buch von den politischen Umwälzungen des bürgerlichen Bewusstseins, die 1864 auf der "Schlachtbank Düppel" grausame Wirklichkeit wurden. Das so drastisch überschriebene, eben in deutscher Übersetzung erschienene Buch des dänischen Journalisten Tom Buk-Swienty analysiert die Schlacht, in der Bismarcks Preußen über Dänemark triumphierte, als Modellfall der europäischen Katastrophe des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Pörksens Generationenroman zeigt die Innenansicht dieses Geschehens.
Am Anfang steht eine Fotografie - als Gegenstand des Erzählens und als Bild. Es zeigt drei Generationen einer Pfarrersfamilie in der Hafenstadt Eckernförde bei einer gleich dreifachen Hochzeitsfeier. Am selben Tag nämlich, an dem der Patriarch Hans Schlaikier Prahl und seine Frau goldene Hochzeit begehen, feiern ihre Tochter und deren Mann Silberhochzeit, und die Enkelin und ein Kieler Pastor lassen sich trauen. Aus den Aufregungen des derart potenzierten Familienfestes (in dessen Hintergrund das nahe Ende der Weimarer Republik zu ahnen ist) entwickelt sich ein verzweigtes Netz von Rückblenden in eine Geschichte, in der die Verhältnisse der Sprachen und Kulturen im Alltag wie in den großen politischen Verwerfungen immer vertrackter erscheinen, je länger erzählt wird.
Die Eröffnung macht schlagend sichtbar, worauf es Pörksen ankommt: das historische Gedenken und die erzählerische Vorstellungskraft ineinander übergehen zu lassen. Denn so offenkundig es hier um Ereignisse aus der eigenen Familie geht, so deutlich entfaltet sich auch die Freiheit der Fiktion. Insofern steht Pörksens Erzählen in der Tradition dessen, was zu Storms Zeiten "poetischer Realismus" hieß. Auch er will im Zufälligen und Einzelnen den notwendigen Gang einer geschichtlichen Entwicklung sichtbar machen. Aber er will zudem, und erst dies ist sein literarischer wie moralischer Vorsatz, die Muster enthüllen und entmachten, denen zu lange die Deutungshoheit gehört hat. Er zeigt, wie beharrlich auf beiden Seiten der heutigen Grenze die nationalen Kategorien den Alltag deformiert haben, bis zur Reduktion eines weiten, vielsprachigen Horizonts auf die unbarmherzige Dichotomie eines Entweder-oder. In ihr sieht Pörksen - darin ein Geistesverwandter Herman Bangs, der um 1900 aus derselben Landschaft und von denselben Konflikten erzählte - den Keim der Gewalt. War man nicht schon zweifelsfrei deutsch oder dänisch, so war man jedenfalls deutsch oder dänisch "gesinnt", ein Drittes durfte es nicht geben. Eben darum macht sich auch Pörksen auf die Suche nach den Zwischentönen und Übergängen, im beständigen Wechsel von politischen Panoramen und einer Nahsicht, die zuweilen die Grenzen zwischen den Figuren so verschwimmen lässt wie die der Sprachen und Nationen. Das macht dem Leser die Orientierung nicht immer einfach, aber wer hat gesagt, dass eine solche Geschichte sich einfach erzählen lasse? Immer deutlicher lässt Pörksen seine gut kulturprotestantischen Helden dabei in einem Konflikt agieren, der sich unbemerkt unterhalb der Fronten entwickelt: dem Widerstreit zwischen der Angstlust der nationalen Ideologien und dem christlichen Liebesgebot, das in der sonntäglichen Predigt so einfach klingt.
Am Ende des Romans ist in der Erinnerung ein Zeitalter vergangen; in der Konstellation des Anfangs aber sind es nur zwei Tage. Denn schon in der auf das Familienfest folgenden Nacht ist der Patriarch gestorben. Der Uralte, der im Schlusskapitel zu Grabe getragen wird - er hat fünf Kriege erlebt und sieben Staatsbürgerschaften, ohne sein Land zu wechseln. In den Totenreden behält der Satz Jesu über Nathanael, den "wahren Israeliten, an dem kein Falsch" war, das geheimnisvolle letzte Wort - in dänischer Sprache.
HEINRICH DETERING
Uwe Pörksen: "Riß durchs Festland". Roman.
Boyens Buchverlag, Heide i. H. 2011. 512 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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