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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Dieser Aufstieg erstaunt noch immer: Der Althistoriker Michael Sommer schließt seine Gesamtdarstellung der römischen Geschichte ab - und spielt Doppelpass mit dem Zufall.
Den Umschlag ziert ein Foto der berühmten Kapitolinischen Wölfin mit den Zwillingen, bis vor kurzem visuelles Leitfossil der römischen Republik. Michael Sommer skizziert zu Beginn seines Buches, warum das so war - um dann die Weihe des symbolischen Anfangs zu demontieren: Nicht aus der Hand eines etruskischen Meisters stammt die Lupa im Konservatorenpalast, sondern aus dem frühen Mittelalter, wie technische Untersuchungen an der Bronze jüngst erwiesen haben. Diese Ambivalenz kennzeichnet in fruchtbarer Weise auch die Darstellung aus der Feder des seit kurzem in Oldenburg lehrenden Althistorikers, der damit seine zweiteilige "Römische Geschichte" abschließt (der Band über die Kaiserzeit erschien vor vier Jahren).
Denn zum einen stellt die Geschichte Roms, zumal die der Republik, einen für historisch Interessierte trotz der zeitlichen Distanz immer noch zugänglichen und durch Tradition gefestigten Gegenstand dar; ihre Tektonik erscheint nicht zuletzt durch die Darstellungen von Leuchttürmen wie Theodor Mommsen und Alfred Heuß halbwegs vertraut. Doch schon Heuß bemerkte vor genau einem halben Jahrhundert in der "Propyläen Weltgeschichte", gerade das Gewohnte enthalte für den historischen Verstand die Aufforderung, es in seiner scheinbaren Selbstverständlichkeit in Frage zu stellen.
Das meint zum anderen, das etablierte Bild dort zu modifizieren, wo die Forschung neue Perspektiven gesucht hat, zum Teil angestoßen durch Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart. In Sommers Sicht hat eine Alte Geschichte, die eurozentrische Verengungen überwinden wolle, herauszuarbeiten, wie vielfältig die Mittelmeerwelt in ethnischer, sprachlicher, kultureller und religiöser Hinsicht stets gewesen sei. Kapitel über den italischen und den mediterranen Kontext der römischen Geschichte tragen dem Rechnung. Und während Mommsen die zunächst herrschaftliche, dann kulturelle Einigung der Halbinsel durch Rom zur Nation als Weg zu einem immanenten Ziel beschrieb, hält Sommer diese für einen historischen Sonderfall, abgerungen einer ausgeprägten ethnischen und politischen Fragmentierung und nicht zu halten, nachdem die Kaiser nicht mehr für die Integrität zu sorgen imstande waren.
Wie Mommsen und Heuß behandelt auch Sommer die Geschichte Roms bis etwa zum Anfang des dritten Jahrhunderts vor Christus als ein Konglomerat von Gegebenheiten, die sich nur sehr langsam wandelten, während er die folgende Epoche mit Recht von beschleunigten Prozessen und katalytischen Ereignissen bestimmt sieht. Anders als die beiden großen Vorgänger betrachtet er das, was die Römer von den ersten Jahrhunderten ihrer historischen Existenz zu wissen glaubten, nicht als Mythen, denen man mit Quellenkritik zu Leibe rückt, soweit sie nicht ganz ignoriert werden, sondern als Dauerbaustelle von Erinnerungen und Konstruktionen, die für das Handeln der Römer in späterer Zeit formativ waren - ebenso wie die Struktur der Familie oder das Oben und Unten der Gesellschaft.
Die Ergebnisse der neueren Forschungen zur politischen Kultur (F.A.Z. vom 29. September 2004) mit ihrem magischen Viereck aus Konsens, Wettbewerb, Öffentlichkeit und Mobilisierung sind souverän verarbeitet, aber der bekennende Weberianer und Luhmann-Kenner Sommer löckt auch einmal wider den Stachel, wenn er sich weigert, Religion als System oder Subsystem anzusprechen: nein, "Religion war schlicht da, das Leben mit ihr war den Römern selbstverständlich". Und dankbar nimmt man entgegen, wie hier endlich der immer noch gern akzeptierten Appian-Erzählung von einer allgemeinen Agrarkrise Mitte des zweiten Jahrhunderts auf wenigen Seiten eine differenzierte Analyse entgegengestellt wird, die regionale Unterschiede und demographische Entwicklungen in den Vordergrund stellt.
Eine Gesamtdarstellung hat stets das Chaos zu bändigen, damit daraus Geschichte wird. Sommer leistet das, bricht die Ordnung der folgerichtigen Etappen aber auch immer wieder auf. Die ersten Jahrhunderte galten schon immer als Flegeljahre, aber in solcher Deutlichkeit war in einem Buch dieser Art noch selten von der Anarchie im archaischen Italien oder einer gesamtitalischen Krise um das Jahr 500 die Rede. Das ingeniöse Bündnissystem in Italien? Sommer macht sich den Vergleich mit einem Verbrechersyndikat zu eigen, "das seine Opfer entschädigt, indem es sie zu Komplizen seines nächsten Coups macht".
Von der stabilen "klassischen Republik" zwischen dem Ende der Ständekämpfe und den Gracchen bleibt wenig übrig; die innerfamiliären, sozialen und vor allem demographischen Verwerfungen, welche im Jahr 133 und danach die Gewalt so rasch eskalieren ließen, hätten gut noch stärker akzentuiert werden können. Im letzten Teil des Buches schließlich weisen Zwischenüberschriften wie "Krisenmanagement", "Abenteuer", "Vabanque" und "Agonie" den Weg.
Ein anderes Moment hängt mit dieser Akzentuierung zusammen. Heuß hat in der Selbstverständlichkeit, die einem so vielfach untersuchten Gegenstand innezuwohnen scheint, noch eine weitere Gefahr gesehen. Man müsse sich immer wieder vor Augen führen, wie wenig die römische Geschichte in ihren Voraussetzungen und Anfängen auf das von ihr Erreichte hin angelegt war. Roms Aufstieg zur universalhistorischen Größe gebe vielmehr zum Staunen Anlass. Sommer nimmt den Ball auf - und spielt Doppelpass mit einem Kameraden, den früher die meisten Historiker wohl nicht gern in ihrer Mannschaft gesehen hätten: dem Zufall.
Doch ganz auf der Höhe der theoretischen Diskussion nutzt er den Zufall nicht etwa, um Lücken in Erklärungsketten zu schließen. Vielmehr gibt der Autor den damaligen Akteuren ihre Freiheit zurück, indem er die Konstellationen so unbestimmt erscheinen lässt, wie sie sich für jene darstellten - und öffnet ihnen dadurch überhaupt erst ein Feld zum Handeln. Komplementär dazu betont er das Experimentieren der römischen Politik während der Expansion in Italien und über den Mittelmeerraum hinweg, als der Gesamtwille der politischen Klasse zwar stets in die gleiche Richtung wies, zugleich aber die Konkurrenz in dieser Führungselite zusammen mit den durch die kurze Dauer der Ämter und Kommanden ebenso vervielfachten wie begrenzten Profilierungschancen ein breites Spektrum tatsächlichen Handelns und Ergehens erzeugte.
Auch am Schluss des Buches streut Sommer, wenngleich etwas halbherzig, Sand ins Getriebe einer prozessfixierten Historie: Zwar sei die Republik als kollektive Herrschaft der Aristokratie unter Zustimmung des Volkes am Ende klinisch tot gewesen; nur über den Todeszeitpunkt werde bisweilen noch gestritten. Doch auch der Stellenwert des Bürgerkriegs zwischen Pompeius und Caesar stehe nicht fest: Einbruch des Verhängnisses oder Exekution des Wechsels zur unvermeidbar gewordenen Monarchie, die auch bei einem anderen Ausgang von Pharsalos, Philippi oder Actium gekommen wäre, weil sie in Wirklichkeit schon da war oder wenigstens im großen Trend lag?
Historiker, so gibt Sommer zu bedenken, neigten dazu, die Wirksamkeit von Kontingenz zu unterschätzen, weil sich diese gegen alle Bemühungen zur Systematisierung und Rationalisierung sperre - und damit gegen den Kern der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Geschichte. Sein glänzend geschriebenes Buch zeigt, wie ein moderner Zugriff die Probleme einer Struktur- und Prozessanalyse meistern kann, ohne gleich die Waffen zu strecken und mit einer bloß virtuosen Komposition von Einzelszenen und Bildern als Surrogat von Folgerichtigkeit einen historischen Sinn lediglich zu suggerieren.
UWE WALTER
Michael Sommer: "Römische Geschichte I". Rom und die antike Welt bis zum Ende der Republik.
Kröner Verlag, Stuttgart 2013. 654 S., Abb., geb., 29,90 [Euro].
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