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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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"Wessen Zeitgenosse bin ich? Mit wem lebe ich?", fragte Roland Barthes 1977 in seiner ersten Vorlesung am Collège de France, die auf Deutsch unter dem Titel "Wie zusammen leben" erschienen ist. Als Barthes die Fragen stellte, war er gerade im Olymp des französischen Wissenschaftssystems angekommen. In Sicherheit wiegt ihn das aber nicht, im Gegenteil wird er gerade in diesem Moment von Selbstzweifeln befallen. Zweifel, die sich aber nicht um das Ich dieses Professors für Semiologie drehen und auch nicht um die Wörter und ihre Bedeutungen, für die er beruflich zuständig ist. Es sind Zweifel, die sich mehr oder weniger direkt auf das beziehen, was die Worte und Zeichen versuchen einzufangen: Auf die Wirklichkeit und die Gleichwertigkeit der in ihr vorkommenden Gegenstände. Wird er es schaffen, in seinen Vorlesungen zum Beispiel durch die Küche in seinem Sommerhaus zu gehen und allen Gegenständen, Zuständen, Gerüchen und Lichtverhältnissen in der ihnen gemäßen Gleichwertigkeit zu begegnen, und nicht etwa das Teesieb übersehen?
Es geht in Barthes' von Zweifeln durchzogenen Überlegungen also um nichts weniger als das Ganze in seinen Erscheinungen. Oder anders gesagt: Für Barthes war die von den Wissenschaften bevorzugte Komplexitätsreduktion nie ein Weg. Die Welt war und ist immer in jedem ihrer Winkel komplex, auch deshalb trifft man ständig auf unentscheidbare Dinge oder Situationen, denen man angemessen nur unentschlossen begegnen kann. Komplexität, Unentschlossenheit und das Unentscheidbare werden deshalb zu Begriffen und Haltungen im Leben Barthes', die er gegen das etablierte Wissen der Universitäten in seine Texte einführt. Und es ist die große Leistung von Tiphaine Samoyaults Biographie, dass sie diese Spannung in jeder Lebenssituation aufscheinen lässt.
Den Zweifel als Konstante im Leben dieses Glückskinds und Spezialisten des Glücks, der, aus einer mediterranen, afrikanisch-römischen Familie stammend, unter der römischen Sonne geboren wurde. Einer Sonne, "die den Menschen überflutet wie eine absolute Erkenntnis und ihm jegliche Zuflucht im weichen, dunklen Betrug verwehrt, ihn zu einer Art harten Glücks zwingt, zu einer Luziditätswut, die den Menschen nur in die Wüste versetzen kann", wie Barthes in einem Brief schrieb. Dass Barthes mit seiner "Klarheitswut" zu einem der bedeutendsten Intellektuellen des letzten Jahrhunderts wurde, der von Gide über Sartre bis zu Foucault die Heroen des französischen Denkens begleitete, tritt auf der Folie seiner zweifelnden Selbstbefangenheit zwar nicht in den Hintergrund. Barthes' Denken wird von Samoyault im Nachvollzug seines Lebens aber so grundiert, dass die Vereinnahmung des Namens Barthes aus der Biographie heraus nicht um sein kompromissloses Gleichheitsgebot herumkommt. Effizient ist das natürlich, wenn es ums Schreiben geht, nicht.
Cord Riechelmann
Tiphaine Samoyault: "Roland Barthes - Die Biographie". Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle und Lis Künzli. Suhrkamp, 871 Seiten, 39,95 Euro
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