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Klebrigkeiten
Josepha Mendels „Rolien & Ralien“
wirkt heute unangenehm vertraut
Rolien traut sich alles zu. Sie will Akrobatin werden und übt „den Todessprung“, sie beginnt schon als Kind mit ihrem ersten Roman und als sie sich in ihre Lehrerin verliebt, scheint sie es für möglich zu halten, dass diese ihr Schwärmen erwidern könnte. „Merkwürdig“ nennen die Freunde der Eltern die kleine Rolien. Dabei kennen sie nicht einmal das ganze Ausmaß der Merkwürdigkeit, sie kennen nicht Ralien, die imaginäre Freundin. Ralien kommentiert Roliens Leben wie von außen. „Ich denke in Büchersprache“, erklärt Rolien ihrer Mutter. „Wenn ich Doras Haare kämme, sagt jemand in mir: ,Jetzt nahm sie den Kamm.’“ Ein Kind, dass sich den Alltag als Roman denkt – Josepha Mendels „Rolien & Ralien“ beginnt beflügelnd experimentierfreudig. Legt man das Buch in der Mitte zur Seite, bleibt das Gefühl, man habe eine mutige, widerständige Stimme kennengelernt.
Mendels hat das Buch 1947 veröffentlicht, doch viele Sätze klingen, als hätte sie eine trotzige Twitter-Feministin getextet. „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Männer kennt sie, und sie mag keinen einzigen von ihnen“, schreibt Mendels. Später lässt sie Rolien Männer und Frauen in zwei Gruppen einteilen. Männer: „überflüssig“. Kinder und Frauen: „unentbehrlich“. Rolien findet Männer „aufgedunsen“, die Frauen hingegen: so schön! So weich! Und ja, Rolien, würde diese Frauen gerne küssen und berühren.
In der zweiten Hälfte bleibt vom heiteren Größenwahn des Anfangs nichts übrig. Rolien flieht vor dem bürgerlichen Leben ihrer Familie nach Paris. Sie will dort „lesen und schreiben und vielleicht an der Zeichenakademie arbeiten“. Paris als Verheißung der Freiheit, als Ort der Künstler und Genies – eine tausendfach erzählte Phantasie. Rolien steigt in den Zug: „Ich werde ein anderer, ich werde ich selbst.“ Um es kurz zu machen: Nein, Rolien wird nicht sie selbst. Rolien wird eine Frau. Vor 100 Jahren hieß das: Kunst machen die Männer, Rolien taugt maximal zum begehrten Körper.
Vor 100 Jahren? Besonders eine Szene in Mendels Erzählung wirkt unangenehmst vertraut. Rolien besucht den Künstler Charles. Er öffnet die Tür im „geblühmten Hausmantel“. Er zeigt Rolien Kinderzeichnungen und schwärmt davon, dass man dort die „ganzen sexuellen Phantasien einer Neunjährigen erkennen“ könne. Rolien ist gerade volljährig geworden, Charles ist deutlich älter. „Kleines Mädchen“, sagt er, „ich könnte dein Vater sein. Darf dein Vater dir einen Kuss geben?“ Drei Seiten später hat der Künstler genug von seiner jungen Freundin. Er erniedrigt sie. Und Rolien wird Zeugin, wie er mit exakt denselben Phrasen das nächste Mädchen in sein Atelier lockt.
Ein eitler Künstler in seidenem Morgenrock, der seine pädophilen Neigungen feiert und junge Frauen missbraucht? Frankreich hat so einen Mann wiederholt mit literarischen Preisen überhäuft, zuletzt 2013. Der Mann heißt Gabriel Matzneff, inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ihn. Mendels konnte Matzneff nicht kennen. Doch sie kannte die lange Linie der Mistkerle, die ihm vorausgingen.
NADIA PANTEL
Josepha Mendels: Rolien & Ralien. Aus dem Niederlädischen von Marlene-Müller-Haas. Wagenbach Verlag Berlin 2020. 192 Seiten, 19,99 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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