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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Stadterweiterung nach oben: Ein gut konzipierter Band präsentiert Beispiele von Dachaufbauten aus aller Welt.
Bei seinem ersten realisierten Neubau auf dem Dach eines Altbaus im historischen Zentrum von Wien 1988 bekam das österreichische Architektenduo "Coop Himmelbau" Ärger mit dem Denkmalschutz. Weil ihr dekonstruktivistisches Explosionsgebilde gegen alle konservatorischen Regeln verstieß, riefen die Architekten den damaligen Bürgermeister Helmut Zilk zu Hilfe. Der setzte die Baugenehmigung mit dem Argument durch: Das ist keine Architektur, das ist Kunst.
Das baukünstlerische Wiener Pionierprojekt bildet den Auftakt zu einer anregenden Sammlung von vierundzwanzig Dachaufbauten, die heute weit über die Architekturästhetik hinaus zum sozialökologischen Stadtumbau beitragen wollen. Denn Stadterweiterungen in die Vertikale schaffen neue Baugrundstücke ohne Bodenverschleiß und somit Wachstum ohne Zersiedlung, sie werten Bestandsbauten auf und stärken auch die Nachbarschaft mit Freiräumen für Stadtgrün, Gemeinschaftseinrichtungen und zuweilen auch Gastronomie.
Erfreulicherweise kommt das Buch der Turiner Architekturprofessoren Gustavo Ambrosini und Guido Callegari nicht als kiloschwerer Bildband voll luxuriöser Penthäuser daher, sondern als knapper Cicerone zu kleinen und großen, hübschen und hässlichen Dachlandschaften weltweit. Diese Vogelschau zeigt den Nachholbedarf der heutigen Architektur nicht nur in der Gestaltung, sondern vor allem in der Nutzung der Vertikalen. Die Autoren kritisieren zu Recht, dass die schöne Idee der Moderne, mit Flach- statt Satteldächern eine "fünfte Fassade" für Gärten, Sportstätten und Erholungsräume zu schaffen, nur asphaltierte Technik-Deponien für Antennen, Maschinen, Leitungen und Tanks hervorgebracht hat.
Diese Apparate sind in den Baubeispielen meist verschwunden - wohin, wird leider nicht gezeigt. Aber es steht zu vermuten, dass die Umwandlung der sommertags glutheißen Dachwüsten in belebte und bepflanzte Aufenthaltsräume auch viel Haus- und Klimatechnik überflüssig macht. Die Autoren untersuchen drei Typen von Aufstockungen - historische Wohnhäuser, konvertierte Industriegebäude und öffentliche Einrichtungen.
In Wien und Paris fällt auf, dass die Stadtzentren oberhalb der Traufkanten längst mit Akropolen, Hoch-Städten aus Lofts, Maisonetten und Studios überbaut wurden, die von der Erde aus gar nicht sichtbar sind. In Wien räkeln sich Aufbauten dank der örtlichen Kunstfreiheit freilich wilder als in Paris oder Barcelona, wo die Stadterweiterungen nach oben visuell und konstruktiv im Korsett der Belle Époque stecken.
Aber auch in Kopenhagen oder Mexiko-City werden historische Häuser von ihren Satteldächern befreit und mit Wohnungen, Terrassen und Vegetation völlig neu definiert. Während vor der Erfindung des Aufzugs die Piano nobiles auf der ersten Etage lagen und die Dienstbotenkammern unterm Dach, hat sich die Hierarchie umgekehrt. Doch oben entstehen längst nicht mehr nur Wohnungen für Millionäre, sondern auch für Sozialmieter.
Geförderte Dachapartments zeigt das Buch in Mailand und Köln. Auch die Beispiele für Industriebauten mit teils ruppig-rostigen Schuppen, teils silberglänzenden Schneewittchensärgen - die Beispiele stammen aus Antwerpen, Tallinn, Budapest und Schanghai - sind nach Auskunft der Autoren nicht unerschwinglich; die Baukosten sollen ein- bis dreitausend Euro pro Quadratmeter betragen. Den allzu knappen Projektbeschreibungen mit winzigen Grund- und Aufrisszeichnungen fehlen leider konstruktive und baurechtliche Erläuterungen.
Eines der skurrilsten Beispiele stammt aus Stockholm, wo das Architekturbüro Equator das Flachdach eines ehemaligen Postamtes mit einer dörflichen Kleinstadt überbaut hat. Glanzvoller setzten die Architekten Sauerbruch Hutton bei der Metropolitan School in Berlin-Mitte einer Blockrandbebauung ein neues Belvedere mit 3600 Quadratmetern Fläche auf. Aus Gewichtsgründen wurden vorgefertigte Holzrahmenkonstruktionen ähnlich wie im Schiffsbau verwendet, und mit seiner kupfernen Edelfassade reißt der schwungvolle Neuaufbau sogar die alte DDR-Platte darunter aus ihrer braungekachelten Tristesse.
Aufschlussreich sind die Hinweise auf die Förderungspolitik von Dachlandschaften in europäischen Metropolen. Das ohnehin intensiv bebaute und bewohnte Paris hat 2014 viele Dichtebeschränkungen abgeschafft und fordert Hauseigentümer sogar auf, ihre Altbauten mit jährlich zehntausend neuen Dachwohnungen zu erweitern. In Großbritannien darf jedes Haus ohne Genehmigungshürden zwei neue Geschosse bis zu dreißig Metern Gesamthöhe bekommen. Auch in Spanien und Österreich ist der Himmel nicht mit Denkmal-, Milieu- oder Brandschutzauflagen versperrt.
Was fehlt, ist eine Gegenüberstellung europäischer Baufreiheiten mit deutschen Blockaden. Neben der Prüderie des Denkmalschutzes hat auch die hiesige Feuerwehr mit immer gigantischeren Löschfahrzeugen die innerstädtischen Aufstockungen unerschwinglich teuer gemacht. Wo früher neben dem Treppenhaus der vorgeschriebene zweite Fluchtweg über die mobilen Rettungsleitern führte, müssen heute teure Feuertreppenhäuser gebaut werden, weil die Riesen-Leiterwagen in keine Stadtstraße mehr passen.
Resümierend rechnen die Autoren vor, dass in der EU etwa 24 000 Quadratkilometer Bodenfläche mit Gebäuden versiegelt sind. Die Mehrzahl davon stammt aus der Nachkriegszeit und bedarf energetischer, technischer und ästhetischer Ertüchtigung. Gerade die im Klimawandel erforderliche Porosität von sogenannten Schwammstädten könnte damit beginnen, den Erdboden zu schonen und Dachwüsten auf Alt- und Neubauten für Menschen zum Blühen zu bringen. MICHAEL MÖNNINGER
Gustavo Ambrosini und Guido Callegari: "Roofscape Design". Regenerating the City upon the City.
Jovis Verlag, Berlin 2021. 176 S., Abb., br., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Das empfehlenswerte Buch liefert spannende Anregungen, die nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis funktionieren." (In BauNetz, 02.2022)
"Das empfehlenswerte Buch liefert spannende Anregungen, die nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis funktionieren." (In BauNetz, 02.2022)