Das Werk von Ror Wolf ist eines der außergewöhnlichsten in der deutschen Sprache. Und eines der vielseitigsten. Nachdem Wolf in den späten 1950er Jahren erste Moritaten und Bildcollagen veröffentlicht hatte, folgten bis zu seinem Tod 2020 Werke in nahezu allen Genres und Medien: Prosa, Gedicht, Essay, fiktives Lexikon, Hörspiel und Film. Jan Wilm betrachtet erstmals das Gesamtwerk Ror Wolfs und zeigt seine wiederkehrenden Motive, die Eigensinnigkeit und das Formbewusstsein seiner Ästhetik sowie die radikale Erneuerungslust seiner Sprache, Bilder und Klänge. Mit zahlreichen Bildcollagen ausgestattet und gespickt mit Auszügen aus Gesprächen, die Wilm in den letzten Jahren mit Ror Wolf geführt hat, durchstreift »Ror.Wolf.Lesen.« die große Ebene der Wolf'schen Welt. Das Buch ist kritischer Blick und berührende Hommage an den Autor und Freund zugleich. Es erzählt vom Lesen Ror Wolfs und lädt ein zum Entdecken eines Werks, das immer humorvoll, melancholisch, reflektiert, existenziell und spielerisch geblieben ist. Ein Buch für Ror-Kundige und Wolf-Neulinge gibt »Ror.Wolf.Lesen.« eine persönliche wie ästhetische Antwort auf die Frage, was in allen Lebenslagen zu tun ist und bleibt: Ror Wolf lesen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.12.2022„Ausblicke angenehm traurig“
Dem Leben zusehen, wie es zu Kunst wird: Ror Wolf als Tagebuchschreiber
Schon dass er Ror Wolf hieß, war ein Kunstgriff. Eigentlich war sein Name Richard Georg Wolf, und er wurde 1932 im thüringischen Saalfeld geboren. Aber durch die anagrammatische Verkürzung zu Ror machte der Autor klar, wie wenig er damit zu tun haben wollte. Dass der 2020 im Alter von 88 Jahren verstorbene Schriftsteller eine Art Tagebuch geschrieben hat, ist deshalb eine spektakuläre Entdeckung. Seine Kunst war immer freischwebend, abseits aller autobiografischen Erfahrungsverarbeitung, und seine Texte entsprachen derselben Ästhetik wie seine aus Fundstücken zusammengeschnitzelten Collagen, die an den großen Surrealisten Max Ernst anschlossen, ihn aber bis ans Ende des Jahrhunderts katapultierten.
Ror Wolfs Notizen sind meist äußerst knapp gehalten, in einem geradezu thomasmännischen Registrieren – worin das Tagwerk bestand, mit welchem Verleger, Kollegen oder welcher Geliebten der Chronist gerade zu tun hatte oder was genau das Unerträgliche der insgesamt 34 Wohnungen im von übelsten Ausdünstungen durchzogenen Rhein-Main-Gebiet war, die er bewohnte. Den Rekord hält wohl die Dachwohnung im Wiesbadener Panoramaweg, dort wohnte das Ehepaar Wolf vom 28. April bis zum 15. Juni 1983.
Dennoch geht sein Tagebuch über das bloße Registrieren weit hinaus. Es ist eine Einübung darin, alles Geschehen und sämtliche Gefühle sofort in eine künstliche Distanz zu rücken und zu einem sprachlichen Artefakt zu machen. Zwischen Bemerkungen wie „Viersen: Abendseminar mit Konrad Pfaff: 15 Zuhörer“ oder „DLF sendet ‚Reise in die Luft‘“ können manchmal auch Sätze stehen wie: „Hier gähnt alles und alles schnappt nachts und tappt über das Dach. Ja, so ist es. Ausblicke angenehm traurig. Der fliegende Robert fliegt vorüber. Gebogene Bäume. Das Klappern des Briefkastenschlitzes. Der Wind saust durchs Haus.“
Solche Passagen wirken wie Vorstudien zu Ror-Wolf-typischen Collagen, die er aus unterschiedlichen Materialien zusammenklebt. Auch die Wohnungsprobleme scheinen sich sofort zu verselbständigen und Teil des grotesken Alltagshorrors zu werden, der Wolfs Texte von Anfang an durchzieht: „Das unaufhörliche Weiterwachsen des Küchenschimmels“, das ist ein frei stehender Satz, der auch über einem eigenen kleinen Prosastück dieses Autors stehen könnte, und das Knacken der Heizung, der Urin- und Fäkaliengeruch in einem Hochhaus oder das „Lachen des Matrosen“ in der Wohnung unter der eigenen – das alles wird Teil des Unheimlichen, das Wolfs Literatur prägt und das sich sofort loslöst von einem individuellen Erfahrungskern. „Der Sinn der Welt ist ihr Zerplatzen“, heißt es einmal programmatisch: Solch eine Sentenz bereitet unweigerlich das nächste Prosastück oder die nächste Collage vor.
Wie nebenbei erfährt man einiges über Wolfs Kollegen, über seine Radioredakteure und seine Verleger. Von Suhrkamp über Athenäum, Haffmans, Luchterhand zu Schöffling – diese Notizen sind Teil einer bundesdeutschen Kulturbetriebsgeschichte. Und sie künden auch von der enormen Bedeutung, die die Hörspielabteilungen der Rundfunkanstalten für Schriftsteller hatten. Charakteristisch für diesen Autor ist aber die Stilisierung, die Anordnung der Szenen zu einzelnen Slapstick-Nummern, und das grundiert auch von Anfang an die Tagebucheinträge: „HR: Hörspiel: Lauterbach findet die ‚Reise in die Luft‘ nicht übel, aber er versteht die Sache nicht. Ich frage, was es daran zu verstehen gäbe. Gemacht wird das Stück auf jeden Fall.“
Ror Wolf suchte ständig nach seinem Platz zwischen Kafka und Buster Keaton, und seine Tages- und Monatsnotate haben den Charakter einer Regieanweisung dafür. Besonders effektvoll wird diese Technik dann, wenn es um das Intimste geht. Im Alter von 27 Jahren heiratete er Erika, die mit ihm alle Wohnungen durchlief und die ganz selbstverständlich seine Ehefrau blieb. Sie ist zwar immer präsent, taucht aber kaum auf, auch in den regelmäßigen Stippvisiten an immer dieselbe Stelle der belgischen Nordseeküste (ein Ferienort, der der Illusionslosigkeit der Wolf’schen Texte ideal zu entsprechen scheint) werden nie irgendwelche Gefühlsbewegungen oder Eheprobleme verhandelt.
Dagegen werden die verschiedenen Affären des Autors zu kleinen Fallbeispielen. „Frau E“ etwa scheint ihn auf der einen Seite sehr anzuziehen, auf den anderen Seiten, auf denen des Tagebuchs, arbeitet er dagegen sehr daran, diese Anziehung als ästhetisches Spiel zu inszenieren und Distanz zu gewinnen: „Frau E lächelt delikat in die Kamera. Irgendwie wirkt sie schon sprungbereit fauchend katzenhaft, gleich wird sie davonspringen, aber sie springt nicht davon.“
Ähnliches geschieht mit der Doktorandin „SR“, die er eine Zeit lang häufig trifft und dabei konstatiert: „SR wirkt ein wenig orientierungslos, empfindlich, zuweilen blasiert. Sie lügt viel, hier liegt ihr Talent. Sie macht ziemlich routiniert Männer an, von denen sie sich Vorteile verspricht. Das ist legal. Zuweilen eine starke laszive Ausstrahlung.“ Solche Stellen sind die einzigen, in denen etwas Direktes aufblitzt, aber sie gehen sofort über in Scherenschnitte und dienen einer Kunstwerdung. In einer der seltenen, aber pointierten poetologischen Reflexionen denkt Ror Wolf über den „Illusionismus“ seines Alter Ego namens „Raoul Tranchirer“ nach, dem er die Autorschaft seiner Collagen zuschreibt: „In einer magischen Beleuchtung ist alles möglich, was durch wahre oder gespielte Gefühle hergestellt werden kann. Die Grenzen des illusionistischen Raumes sind auch die Grenzen der Gefühle. Anstelle der Vermeidung übermäßiger Gefühle wird die Förderung gespielter Gefühle empfohlen.“ Sein persönliches Tagebuch ist dafür ein Praxistest.
Ror Wolf ist Ende der Sechzigerjahre durch seine Fußball-Hörspiele berühmt geworden, die die grafische Collagentechnik auf Töne, Wörter und Sätze übertrugen. Es ist im Tagebuch nachzuverfolgen, wie er auf dem Trainingsgelände der Frankfurter Eintracht die Rentner belauscht und eine Beziehung zu dem ein erfindungsreiches Frankfurterisch intonierenden Experten Herrn Blanz aufbaut, der dann als „Bananen-Heinz“ zu einer seiner beliebtesten Kunstfiguren wird. Wolf notiert im Februar 1979: „Dass die Leute fast alle glauben, es müsse sich, immer wenn einer mit Fußballsätzen arbeitet, am Ende dann tatsächlich um Fußball handeln.“ Das ist ein sehr schönes Beispiel für die Rolle des Realismus in der Kunst.
Auf eines der hervorragendsten Artefakte Wolfs macht Jan Wilm in seinem gleichzeitig erschienenen, gelehrten und unterhaltsamen Fan-Buch „Ror. Wolf. Lesen.“ aufmerksam. Für die Reihe „Das kleine Fernsehspiel“ im ZDF drehte Wolf 1975 den Stundenfilm „Keep Out“ über den Flügelstürmer Thomas Rohrbach. Der sitzt einmal am Tresen einer Bar, auf der Tonspur hört man das Geschrei erregter Fußballfans, und plötzlich sieht man in einem Spiegel im Hintergrund zwei Herren mit Spazierstöcken und Boater-Strohhüten, die im Foxtrott-Rhythmus den Song „Für eine Nacht voller Seligkeit“ anstimmen, der im Original 1940 von Marika Rökk in einem Ufa-Streifen gesungen wurde.
Der Darsteller einer dieser beiden Herren war der Schriftstellerkollege Wilhelm Genazino (der ohne Honorar auftrat, wie Wolf eigens notiert). Doch nicht nur das macht den Film zu einem anspielungsreichen Gesamtkunstwerk. Jan Wilm weist darauf hin, dass „Rohrbachs Geschichte“, der dem Drehbuch zugrunde liegende Prosatext Wolfs, an Robert Walsers Erzählung „Helblings Geschichte“ anknüpft. Es geht um einen Außenseiter, um einen Sonderling, um eine Künstlerfigur. Vom Linksaußen Thomas Rohrbach über Robert Walser bis hin zu dem Jazztrompeter Bix Beiderbecke, dem ein preisgekröntes Hörspiel Ror Wolfs gilt – hier zeigt sich die Ästhetik dieses Autor programmatisch. Im August 1980 gibt er sich die entsprechende Anweisung: „Es wird darauf ankommen, den Randpunkt, den ich besetzt habe, von Zeit zu Zeit für den Mittelpunkt der Welt zu halten.“
HELMUT BÖTTIGER
Ständig suchte er nach
seinem Platz zwischen Kafka
und Buster Keaton
Im Hintergrund stimmt
Wilhelm Genazino mit
Spazierstock den Foxtrott an
„Anstelle der Vermeidung übermäßiger Gefühle wird die Förderung gespielter Gefühle empfohlen“: Ror Wolf spielt Tischfußball in Mainz.
Foto: Sämmer/imago
Ror Wolf:
Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie. Tagebuch 1966-1996,
hg. von Klaus Schöffling. Schöffling & Co,
Frankfurt am Main 2022.
343 Seiten, 32 Euro.
Jan Wilm: Ror. Wolf.
Lesen. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2022. 186 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Dem Leben zusehen, wie es zu Kunst wird: Ror Wolf als Tagebuchschreiber
Schon dass er Ror Wolf hieß, war ein Kunstgriff. Eigentlich war sein Name Richard Georg Wolf, und er wurde 1932 im thüringischen Saalfeld geboren. Aber durch die anagrammatische Verkürzung zu Ror machte der Autor klar, wie wenig er damit zu tun haben wollte. Dass der 2020 im Alter von 88 Jahren verstorbene Schriftsteller eine Art Tagebuch geschrieben hat, ist deshalb eine spektakuläre Entdeckung. Seine Kunst war immer freischwebend, abseits aller autobiografischen Erfahrungsverarbeitung, und seine Texte entsprachen derselben Ästhetik wie seine aus Fundstücken zusammengeschnitzelten Collagen, die an den großen Surrealisten Max Ernst anschlossen, ihn aber bis ans Ende des Jahrhunderts katapultierten.
Ror Wolfs Notizen sind meist äußerst knapp gehalten, in einem geradezu thomasmännischen Registrieren – worin das Tagwerk bestand, mit welchem Verleger, Kollegen oder welcher Geliebten der Chronist gerade zu tun hatte oder was genau das Unerträgliche der insgesamt 34 Wohnungen im von übelsten Ausdünstungen durchzogenen Rhein-Main-Gebiet war, die er bewohnte. Den Rekord hält wohl die Dachwohnung im Wiesbadener Panoramaweg, dort wohnte das Ehepaar Wolf vom 28. April bis zum 15. Juni 1983.
Dennoch geht sein Tagebuch über das bloße Registrieren weit hinaus. Es ist eine Einübung darin, alles Geschehen und sämtliche Gefühle sofort in eine künstliche Distanz zu rücken und zu einem sprachlichen Artefakt zu machen. Zwischen Bemerkungen wie „Viersen: Abendseminar mit Konrad Pfaff: 15 Zuhörer“ oder „DLF sendet ‚Reise in die Luft‘“ können manchmal auch Sätze stehen wie: „Hier gähnt alles und alles schnappt nachts und tappt über das Dach. Ja, so ist es. Ausblicke angenehm traurig. Der fliegende Robert fliegt vorüber. Gebogene Bäume. Das Klappern des Briefkastenschlitzes. Der Wind saust durchs Haus.“
Solche Passagen wirken wie Vorstudien zu Ror-Wolf-typischen Collagen, die er aus unterschiedlichen Materialien zusammenklebt. Auch die Wohnungsprobleme scheinen sich sofort zu verselbständigen und Teil des grotesken Alltagshorrors zu werden, der Wolfs Texte von Anfang an durchzieht: „Das unaufhörliche Weiterwachsen des Küchenschimmels“, das ist ein frei stehender Satz, der auch über einem eigenen kleinen Prosastück dieses Autors stehen könnte, und das Knacken der Heizung, der Urin- und Fäkaliengeruch in einem Hochhaus oder das „Lachen des Matrosen“ in der Wohnung unter der eigenen – das alles wird Teil des Unheimlichen, das Wolfs Literatur prägt und das sich sofort loslöst von einem individuellen Erfahrungskern. „Der Sinn der Welt ist ihr Zerplatzen“, heißt es einmal programmatisch: Solch eine Sentenz bereitet unweigerlich das nächste Prosastück oder die nächste Collage vor.
Wie nebenbei erfährt man einiges über Wolfs Kollegen, über seine Radioredakteure und seine Verleger. Von Suhrkamp über Athenäum, Haffmans, Luchterhand zu Schöffling – diese Notizen sind Teil einer bundesdeutschen Kulturbetriebsgeschichte. Und sie künden auch von der enormen Bedeutung, die die Hörspielabteilungen der Rundfunkanstalten für Schriftsteller hatten. Charakteristisch für diesen Autor ist aber die Stilisierung, die Anordnung der Szenen zu einzelnen Slapstick-Nummern, und das grundiert auch von Anfang an die Tagebucheinträge: „HR: Hörspiel: Lauterbach findet die ‚Reise in die Luft‘ nicht übel, aber er versteht die Sache nicht. Ich frage, was es daran zu verstehen gäbe. Gemacht wird das Stück auf jeden Fall.“
Ror Wolf suchte ständig nach seinem Platz zwischen Kafka und Buster Keaton, und seine Tages- und Monatsnotate haben den Charakter einer Regieanweisung dafür. Besonders effektvoll wird diese Technik dann, wenn es um das Intimste geht. Im Alter von 27 Jahren heiratete er Erika, die mit ihm alle Wohnungen durchlief und die ganz selbstverständlich seine Ehefrau blieb. Sie ist zwar immer präsent, taucht aber kaum auf, auch in den regelmäßigen Stippvisiten an immer dieselbe Stelle der belgischen Nordseeküste (ein Ferienort, der der Illusionslosigkeit der Wolf’schen Texte ideal zu entsprechen scheint) werden nie irgendwelche Gefühlsbewegungen oder Eheprobleme verhandelt.
Dagegen werden die verschiedenen Affären des Autors zu kleinen Fallbeispielen. „Frau E“ etwa scheint ihn auf der einen Seite sehr anzuziehen, auf den anderen Seiten, auf denen des Tagebuchs, arbeitet er dagegen sehr daran, diese Anziehung als ästhetisches Spiel zu inszenieren und Distanz zu gewinnen: „Frau E lächelt delikat in die Kamera. Irgendwie wirkt sie schon sprungbereit fauchend katzenhaft, gleich wird sie davonspringen, aber sie springt nicht davon.“
Ähnliches geschieht mit der Doktorandin „SR“, die er eine Zeit lang häufig trifft und dabei konstatiert: „SR wirkt ein wenig orientierungslos, empfindlich, zuweilen blasiert. Sie lügt viel, hier liegt ihr Talent. Sie macht ziemlich routiniert Männer an, von denen sie sich Vorteile verspricht. Das ist legal. Zuweilen eine starke laszive Ausstrahlung.“ Solche Stellen sind die einzigen, in denen etwas Direktes aufblitzt, aber sie gehen sofort über in Scherenschnitte und dienen einer Kunstwerdung. In einer der seltenen, aber pointierten poetologischen Reflexionen denkt Ror Wolf über den „Illusionismus“ seines Alter Ego namens „Raoul Tranchirer“ nach, dem er die Autorschaft seiner Collagen zuschreibt: „In einer magischen Beleuchtung ist alles möglich, was durch wahre oder gespielte Gefühle hergestellt werden kann. Die Grenzen des illusionistischen Raumes sind auch die Grenzen der Gefühle. Anstelle der Vermeidung übermäßiger Gefühle wird die Förderung gespielter Gefühle empfohlen.“ Sein persönliches Tagebuch ist dafür ein Praxistest.
Ror Wolf ist Ende der Sechzigerjahre durch seine Fußball-Hörspiele berühmt geworden, die die grafische Collagentechnik auf Töne, Wörter und Sätze übertrugen. Es ist im Tagebuch nachzuverfolgen, wie er auf dem Trainingsgelände der Frankfurter Eintracht die Rentner belauscht und eine Beziehung zu dem ein erfindungsreiches Frankfurterisch intonierenden Experten Herrn Blanz aufbaut, der dann als „Bananen-Heinz“ zu einer seiner beliebtesten Kunstfiguren wird. Wolf notiert im Februar 1979: „Dass die Leute fast alle glauben, es müsse sich, immer wenn einer mit Fußballsätzen arbeitet, am Ende dann tatsächlich um Fußball handeln.“ Das ist ein sehr schönes Beispiel für die Rolle des Realismus in der Kunst.
Auf eines der hervorragendsten Artefakte Wolfs macht Jan Wilm in seinem gleichzeitig erschienenen, gelehrten und unterhaltsamen Fan-Buch „Ror. Wolf. Lesen.“ aufmerksam. Für die Reihe „Das kleine Fernsehspiel“ im ZDF drehte Wolf 1975 den Stundenfilm „Keep Out“ über den Flügelstürmer Thomas Rohrbach. Der sitzt einmal am Tresen einer Bar, auf der Tonspur hört man das Geschrei erregter Fußballfans, und plötzlich sieht man in einem Spiegel im Hintergrund zwei Herren mit Spazierstöcken und Boater-Strohhüten, die im Foxtrott-Rhythmus den Song „Für eine Nacht voller Seligkeit“ anstimmen, der im Original 1940 von Marika Rökk in einem Ufa-Streifen gesungen wurde.
Der Darsteller einer dieser beiden Herren war der Schriftstellerkollege Wilhelm Genazino (der ohne Honorar auftrat, wie Wolf eigens notiert). Doch nicht nur das macht den Film zu einem anspielungsreichen Gesamtkunstwerk. Jan Wilm weist darauf hin, dass „Rohrbachs Geschichte“, der dem Drehbuch zugrunde liegende Prosatext Wolfs, an Robert Walsers Erzählung „Helblings Geschichte“ anknüpft. Es geht um einen Außenseiter, um einen Sonderling, um eine Künstlerfigur. Vom Linksaußen Thomas Rohrbach über Robert Walser bis hin zu dem Jazztrompeter Bix Beiderbecke, dem ein preisgekröntes Hörspiel Ror Wolfs gilt – hier zeigt sich die Ästhetik dieses Autor programmatisch. Im August 1980 gibt er sich die entsprechende Anweisung: „Es wird darauf ankommen, den Randpunkt, den ich besetzt habe, von Zeit zu Zeit für den Mittelpunkt der Welt zu halten.“
HELMUT BÖTTIGER
Ständig suchte er nach
seinem Platz zwischen Kafka
und Buster Keaton
Im Hintergrund stimmt
Wilhelm Genazino mit
Spazierstock den Foxtrott an
„Anstelle der Vermeidung übermäßiger Gefühle wird die Förderung gespielter Gefühle empfohlen“: Ror Wolf spielt Tischfußball in Mainz.
Foto: Sämmer/imago
Ror Wolf:
Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie. Tagebuch 1966-1996,
hg. von Klaus Schöffling. Schöffling & Co,
Frankfurt am Main 2022.
343 Seiten, 32 Euro.
Jan Wilm: Ror. Wolf.
Lesen. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2022. 186 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Was er schrieb, war einerseits Sechzigerjahre, andererseits überzeitlich. [...] Wer daran denkt, sich auf diesen dunkel funkelnden Solitär einzulassen, sollte mit diesem Buch hier beginnen.« Das Magazin Kultur2»Man erwartet Entzauberung und Entschlüsselung eines enigmatischen Werkkosmos, aber erhält, wie schon in Wilms dunklem Schneeflockenroman Winterjahrbuch, geisteswissenschaftlichen Erzählzauber.«Clemens J. Setz»Dieses Buch ist unblurbbar. Rabbo Tonga!«Felicitas Hoppe»Wilms Begeisterung jedenfalls ist erfrischend, und selbst Gelegenheits-Leser von WolfsBüchern werden bei der Lektüre [...] in diese fantastischen Produktionswelten hineingezogen [...].«Ulrich Rüdenauer, WDR3 Lesestoff»Die Transmedialität des Multikünstlers [Wolf] stellt Wilm in allen Kapiteln seines würdigen Gedenkbuches heraus.«Ulrich Rüdenauer, MDR Kultur Unter Büchern»Das Wichtigste aber ist: Jan Wilm schreibt das alles ungeheuer persönlich - sein Buch entspringt einer tiefen Bewunderung für das Werk des Autors.«Alexander Wasner, SWR2 Literatur»Jeder Satz ist ein Abenteuer, keine Routine.«Daniel Meuren, FAZ»Jan Wilm nähert sich auf ebenso bewundernde wie analytisch erhellende Weise Werk, Sprache und 'Wirklichkeitsfabrik' seines Freundes.«Martin Halter, Badische Zeitung»[...] Wilms eigene Satzstrukturen, seine Präzision, seine Wortwahl und -verknüpfungen [formen] selbst eine eigenwillige, charakteristische und vor allem zauberhafte Sprache [...].«Frederik Eicks, LITLOG-Magazin