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Fünfundneunzig Seiten von atemberaubender Intensität: Mit "Rose Royal" entfaltet Nicolas Mathieu das ganze Drama zwischen den Geschlechtern.
Das "Royal" ist eine nicht wirklich verkommene Bar irgendwo in Nancy, eine dieser Bars, in denen "Trinker, Punks mit schütter gewordenem Haar, untröstliche Angestellte und Langzeitarbeitslose" vor sich hindämmern; nichts weiter ereignet sich dort. Rose ist eine nicht wirklich verkommene Frau, die sich für die Blessuren, die ihr das Leben, vor allem die Männer zugefügt haben, recht gut gehalten hat. Nicolas Mathieus knapper, eisig kühler Roman, dessen Titel "Rose Royal" wie ein exquisites Versprechen klingt, beginnt so: "Rose sprang aus dem Bus, überquerte die Straße, rannte fast, ohne sich um die Autos zu kümmern, dabei herrschte dichter Verkehr in beide Richtungen." Sie ist auf dem Weg in die Bar, und mit einer solchen Szene könnte auch ein Film beginnen, bei dem direkt klar ist, dass ein Mann ins Spiel kommen muss: "Rose war fast fünfzig und störte sich nicht weiter dran. Sie war sich ihrer Vorzüge bewusst, ihre Figur hatte sie nicht im Stich gelassen, und dann ihre Beine, wirklich schön. Nur ihr Gesicht verriet sie ein wenig. Es war nicht aufgequollen und auch nicht besonders eingefallen, aber Zeit, Tränen und schlaflose Nächte hatten ihre Spuren hinterlassen."
Ins "Royal" geht Rose jeden Abend, "gut ging es ihr vor allem hier", wo sie "langsam betrunken wurde" und an zwei Abenden ihre Freundin Marie-Jeanne trifft, die dort willigen Kunden die Haare schneidet. Eine seltsame Konstellation ist das, eine Nische, in der Rose sich sicher fühlt, vor allem vor den Männern, mit denen sie für sich abgeschlossen zu haben glaubt. Als sie in den von Marie-Jeanne mitgebrachten Frisierspiegel schaut, vergewissert sie sich ihrer selbst: "Wenigstens über eine Sache konnte sie sich freuen. Die Prüfungen des Lebens hatten sie hart gemacht, das war ein Geschenk. Rose war jetzt stark. An ihrem Umgang mit Männern sah man, sie konnte sich zur Wehr setzen." Unsichtbares Zeichen ihrer Wehrhaftigkeit ist ein kleiner Revolver, eine "Neun Millimeter", die sie auf einer amerikanischen Website gekauft hat - "keine kleine Investition und eine Ansage" - und seither schwer in ihrer Handtasche liegt. Den Umgang mit der Waffe hat sie im Wald geübt, für ihren vorerst letzten Kerl hatte sie den Revolver dann doch nicht gebraucht.
Rose wird gleich auf den ersten Seiten ausgeschnitten mit solchen Beschreibungen, scharfkantig wie eine Kamee, als eine Oberfläche, ein Relief, mit ein wenig Sympathie, zugleich doch schamlos. In den knappen Sätzen, die Nicolas Mathieu für sie findet, lässt sich beinahe Sarkasmus wittern, jedenfalls Gefahr im Verzug. Rose ist in Lothringen geboren und aufgewachsen, "in einer Familie, umgeben von Schweigen und Groll", sie heiratete früh, bekam zwei Söhne, mit denen sie kaum noch Kontakt hat, die Scheidung verlief komplikationslos. Immerhin brachte sie es zu einer respektablen Stelle als Sekretärin in der Buchhaltung, einer bezahlbaren kleinen Wohnung, "zu einem dreizehnten Monatsgehalt und einem wenig genutzten weißen Fiat Punto".
Das erste Kapitel in diesem schmalen Roman ist von einer atemnehmenden Intensität - die Katastrophe im Kleinen, im "Royal", wo sich an diesem Abend eine Schar zunehmend betrunkener Jugendlicher austobt. Ein Knall wie ein Schuss von der Straße her schreckt die Gesellschaft auf. Kurz danach kommt ein Fremder in die Bar. Er trägt seine sterbende Hündin in den Armen, die von einem Auto angefahren wurde: "Jede seiner Bewegungen war fast verstörend behutsam. Das Tier hechelte immer noch. Sein feuchtes schwarzes Auge bewegte sich, suchte nach Gesichtern." Während alle in Schockstarre vor dieser Szene stehen, handelt Rose. Sie holt den Revolver aus ihrer Handtasche und gibt der Hündin den Gnadenschuss. Der erste Gebrauch ihrer Waffe gilt nicht einem Mistkerl, er gilt der leidenden Kreatur. Der Mann hebt den Blick zu Rose. "Er bedankte sich nickend. Sein Name war Luc."
Das zweite Kapitel beginnt fast ein Jahr später. Luc hat Rose zwei Tage nach dem Geschehen im "Royal" angerufen; sie sind ein Paar geworden. "Sie waren vorsichtig, an Glück nicht gewöhnt. Er kam Rose immer schöner vor. Sie sagte es ihm. Luc erwiderte das Kompliment nicht, aber sein Blick genügte." Luc hat sie täglich angerufen, abgeholt von der Arbeit, er zeigt ihr seinen Landsitz, sein Geld verdient er mit undurchschaubaren Immobiliengeschäften, führt sie in die angesagte Bar der Stadt. Das "Royal" ist nicht länger ihr Ort, sie verliert ihren Fluchtpunkt, ihre mühsam errungene Orientierung. Luc und Rose finden sich endlich, es ist "unbeholfener Betrunkenensex, kurzatmig, unfertig. Aber sie hatten es hinter sich gebracht. Ihre Geschichte hatte begonnen." Rose will dranbleiben; denn "mit einem Mal führte sie ein Leben wie in den Romanen und Magazinen, die sie las". Sie macht einen ziemlich unsinnigen Versuch, das Unfertige an den intimen Begegnungen mit Luc zu beenden, weil sie dem Alkohol die Schuld an Lucs Dysfunktion gibt. Das gelingt nicht, und sie hilft ihm auch absichtlich nicht; dann: "Ohne Vorwarnung traf sie Lucs Hand mit voller Wucht im Gesicht."
Eiskalt verzeichnet der Roman diesen Gewaltausbruch, der keinesfalls als verhandelbar gelten kann. Nicolas Mathieu hat - auf Seite 65 von nur 95 Seiten - damit den genauen Moment eines Wendepunkts markiert. Doch Rose verpasst ihren Abgang. In einem teuren Restaurant, das zynisch genug "L'Île Sobre" heißt, findet die Reunion statt: "Ein Mann und eine Frau, in all ihrer Gewöhnlichkeit, ihrer Bedürftigkeit, eine Frau und ein Mann, die sich an der Hand hielten und dachten, sie verstünden sich. Mehr braucht es nicht, um ein Paar zu sein." Rose zieht zu Luc, gibt ihr Apartment, ihren Job, ihre Freunde, kurz ihre eigenständige Existenz auf.
Bekannt geworden ist Nicolas Mathieu, 1978 in Épinal geboren, mit seinem Roman "Wie später ihre Kinder", für den er 2018 überraschend den Prix Goncourt bekam. In diesem Generationenepos hielt er seinem Land den Spiegel vor, verwies Frankreich auf seine Ränder, auf sein Prekariat und auf die Schwierigkeit, diesen Milieus zu entrinnen. Gegen "Rose Royal" nun ließe sich kurzschlüssig einwenden, dass zwei Stereotype gegeneinandergestellt seien: das Bedürfnis der Frauen zu reden und die Unfähigkeit der Männer zu sprechen. Was sich im notorischen Bedürfnis der Frauen nach Geborgenheit und im Bedarf der Männer an Macht zeige. Geschenkt.
Denn die Wucht von "Rose Royal" liegt darin, dass Mathieu filmisch erzählt, und das heißt - erbarmungslos. Es geht um eine Parabel, an ihren Enden jeweils tödliche Konsequenz. Alles ist Kalkül, literarisch perfekt konstruiert, jede wichtige Szene hat ihren Gegenschnitt. Nicht nur Rose ist traumatisiert von der eigenen Vorgeschichte, auch Luc ist gezeichnet von einer tiefen Wunde, in die Rose fasst. Am Anfang ihrer Beziehung sagt er ihr, dass er mehr als zwanzig Jahre verheiratet war, "sie wohnt hier ganz in der Nähe. Mit einem alten Kumpel von mir"; einen Grund nennt er nicht. Roses Antwort - "Ach, lustig" - ist gefühllos, sogar schlimm. Eine Frau und ein Mann schneiden sich da gegenseitig ins welkende Fleisch, mit Worten und Taten. Mathieus Lakonie, seine glasklar getakteten Sätze haben nicht den leisesten Anflug von Empathie; das macht sie so wahrhaftig.
Ein Ende findet "Rose Royal" im dritten Kapitel, in einer Luxusherberge; es soll dort über ein Wochenende gefeiert werden, dass das Paar sich zweieinhalb Jahre zuvor in der Bar kennenlernte, die Rose seither nicht mehr betreten hat. Im Hotelzimmer findet der Knall des Revolvers, der im "Royal" präfiguriert ist, seinen Widerhall. Luc hatte "seinem fünfzig Jahre dauernden Schweigen Luft gemacht. Ein feuchtes Glänzen in seinen Augen sprach an seiner Stelle. Eine andere Erklärung würde es nicht geben." Die ungeheuerliche schlanke Eleganz von Nicolas Mathieus Prosa hinterlässt Nachbilder, die insistieren.
ROSE-MARIA GROPP
Nicolas Mathieu: "Rose Royal". Roman.
Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2020. 96 S., geb.,18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
"Unbarmherzig führt Mathieu den Leser durch den Liebesdschungel, gnadenlos rast der Roman dem unausweichlichen Ende entgegen. Die Sätze sind klar und prägnant und landen treffsicher da, wo es wehtut. ... Auf knapp 100 Seiten bleibt so manches Detail gezwungenermaßen auf der Strecke - und das ist in dieser Radikalität wohl auch beabsichtigt. Denn dadurch liest sich der Roman ... wie im Rausch. Ja, man stürzt ihn hinunter, ähnlich wie Rose ihre Schnäpse." Katharina Hirschmann, Die Presse, 11.12.20
"Nicolas Mathieu versteht es meisterhaft, auf kleinstem Raum größere Zusammenhänge transparent zu machen und mit minimalen Mitteln dichte Atmosphären zu evozieren." Klaus Nüchtern, Falter, 04.12.20
"Ein packendes, hochaktuelles Sittenbild ... mittendrin in der Gegenwart und den Diskussionen über Rollenbilder. Genau beobachtet,mitreißend, sprachlich herausragend. Das gilt auch für die Übersetzung von Lena Müller und André Hansen. ... Eines der beeindruckendsten Bücher dieses Sommers." Dirk Fuhrig, WDR3, 12.08.20
"Die ungeheuerliche schlanke Eleganz von Nicolas Mathieus Prosa hinterlässt Nachbilder, die insistieren." Rose-Maria Gropp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.08.20
"Mathieu schafft es mit leichter Hand, das Portrait dieser Frau aus ihrer Perspektive zu zeichnen. ... Mit seiner lakonischen Sprache kommt er seinen Figuren sehr nahe. Die Melancholie des Daseins fließt aus jeder Zeile. ... Ein herausragendes Buch." Dirk Fuhrig, Deutschlandfunk Kultur, 21.07.20
"Ganz normale Menschen, denen das ganz normale Unglück tief unter ihrer Haut sitzt, können sich nichts inniger wünschen als dies: Dass ihre Geschichte immerhin vom unermesslich brillanten Nicolas Mathieu erzählt werde. Hier ist einer, der sie wirklich liebt und dafür sogar Worte findet, schneidende, schüttelnde, charmante Worte. Das ist die kleine Genugtuung die ihnen noch bleibt, beim schleichenden Gang in die ganz normale Katastrophe." Alexander Solloch, NDR Kultur, 27.07.20
"Mag er sich im Großen mit Skizzen begnügen, so seziert Mathieu im Detail unerbittlich das dümpelnde Glück. ... Die glasklare Einbettung von 'Rose Royal' im Hier und Jetzt von Macrons Frankreich lässt die herkömmlichen Gewaltschilderungen aus Roses Leben umso erschütternder erscheinen. Die Gewalt findet weder damals noch woanders noch unter anderen Leuten statt. ... Wenn die Augen nicht schon offen sind, kann dieses schmale Buch sie weit öffnen." Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 20.07.20
"Wie es beginnt ist von einer solchen szenischen und psychologischen Meisterschaft, dass man sich wünscht, Mathieu hätte schon nach dreißig Seiten innegehalten. ... Am Schluss bleibt der Eindruck eines allzu perfekt konstruierten Romans. Aber auch die Erinnerung an einen Zauber, der weiß Gott nicht jedem Anfang eines Buches innewohnt." Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.07.20