"Rosemarie. Des deutschen Wunders liebstes Kind" erzählt von der berühmtesten Edelprostituierten der Bundesrepublik: Rosemarie Nitribitt. Mit ihrem teuren Cabrio war sie in der Wirtschaftsmetropole Frankfurt stadtbekannt. Für ein Mädchen, das mehrfach aus Erziehungsheimen ausgerissen war, hatte sie es zu einem erstaunlichen Vermögen gebracht. Ihre Ermordung im Herbst 1957 sorgte für einen Skandal: Wusste sie zu viel? War es einer ihrer Kunden aus den Kreisen der Bosse und Banker? Bis heute ist ihr Mörder nicht gefasst, und die Pannen bei den Ermittlungen bis hin zum zeitweiligen Verschwinden der Prozessakten befeuerten die Gerüchte darüber, was ihr zum Verhängnis wurde. Es sind diese Atmosphäre und dieser Zeitgeist, die Erich Kuby in seinem Roman einfängt. Seine temporeich erzählte Geschichte der Nitribitt, die auf seiner Mitwirkung am Drehbuch zu dem Film "Das Mädchen Rosemarie" (1958) aufbaut (und dem zahlreiche weitere Adaptionen folgten), wird zum fesselnden Porträt der Doppelmoral der damaligen Gesellschaft. Die Neuausgabe enthält einen Essay von Jürgen Kaube.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.02.2020Ein Sprengstoff namens Nitribitt
Zwischen Kolportage und Soziologie der jungen Bundesrepublik: Erich Kubys Roman
„Rosemarie. Des deutschen Wunders liebstes Kind“ aus dem Jahr 1958
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Im Kriminalmuseum der ungelösten Fälle müsste man dem Mord an der 24-jährigen Frankfurter Prostituierten Rosemarie Nitribitt, der sich in den letzten Oktobertagen des Jahres 1957 zutrug, ein Extra-Kabinett einrichten. Denn es sind nicht nur die Umstände des Verbrechens, die nach wie vor Fragen aufwerfen. Aus heutiger Perspektive erscheint es fast schon kurios, dass das Interesse daran sich seit nunmehr zwei Generationen immer wieder recyceln lässt, obwohl das gesellschaftliche Umfeld, in dem Leben und Tod einer sogenannten „Edelhure“ zum nationalen Skandal taugten, schon lange nicht mehr existiert, und obwohl die Protagonistin selbst nichts Mysteriöses an sich hatte, schon gar nicht in erotischer Hinsicht.
Warum die Affäre zum spektakulärsten Mordfall der Adenauer-Ära wurde, ist oft genug untersucht und beschrieben worden. Für die dumpf verklemmte Doppelmoral jener Zeit war es eine unerhörte Provokation, dass eine – wie man damals sagte – „Lebedame“, aus elenden Verhältnissen stammend, ihr Gewerbe als freie Unternehmerin in aller Öffentlichkeit betrieb und dadurch zu beträchtlichem Wohlstand gelangte, dass sie Luxus-Insignien, wie das legendäre schwarze Mercedes-Cabrio mit roten Ledersitzen und Weißwandreifen, in ihr Geschäftsmodell integrierte und ihre Kunden in den höchsten Etagen der Wirtschaftswunder-Gesellschaft fand.
Ob der Täter, der sie in ihrem gutbürgerlichen Wohnzimmer erwürgte, zu jenem illustren Kreis gehörte oder von dort beauftragt worden war, konnte wegen polizeilicher Ermittlungsfehler und Vertuschungsmaßnahmen nie festgestellt werden, was einerseits der Volksseele und der aufstrebenden Boulevardpresse reichlich Stoff für Spekulationen lieferte, andererseits einen scharfsinnigen Chronisten und Polemiker wie Erich Kuby (1910 – 2005) zu seiner Version der Vorgänge inspirierte.
Kuby hatte auf die Meldung vom Tod der Nitribitt zunächst mit einer Glosse in der Süddeutschen Zeitung reagiert, deren Redakteur er damals war. Den Namen des Opfers assoziierte er darin vom Klang her mit einem Sprengstoff, den er prinzipiell für geeignet hielt, „einen ansehnlichen Teil der westdeutschen Gesellschaft“ in die Luft zu jagen. Sein 1958 erschienener Roman „Rosemarie. Des deutschen Wunders liebstes Kind“ war ein veritabler Schnellschuss, aber es ging ihm noch die maßgebliche Mitarbeit des Autors am Drehbuch zu Rolf Thieles Spielfilm „Das Mädchen Rosemarie“ voraus, der im selben Jahr in die Kinos kam und einigen Anstoß erregte, Zensurversuche inbegriffen.
Buch und Film weichen inhaltlich leicht voneinander ab, doch folgen beide Werke dem Prinzip der satirischen Verfremdung, arbeiten mit erfundenen Figuren und Handlungselementen und haben mit der wahren Lebensgeschichte der Rosemarie Nitribitt wie auch mit den Hintergründen ihrer Ermordung, soweit sie nachweisbar sind, wenig zu tun.
Aber vor allem der Film, mit Nadja Tiller in der Hauptrolle, prägt bis heute das Bild von der eleganten, verführerischen Prominenten-Hure, die im Fünfzigerjahre-Ambiente die feinsten Kreise ausnimmt, sich aus Geldgier auf Industriespionage und Erpressung einlässt und dann von finsteren Drahtziehern beseitigt wird. Bernd Eichingers Remake mit Nina Hoss aus dem Jahr 1996, auf der Welle der Fifties-Nostalgie schwimmend, gab diesem Mythos neue Nahrung, mit aufwendigem Dekor und ohne weiterführende Einsichten.
In der Folgezeit entstanden Dokumentationen, die sich mit Nitribitts Werdegang und ihrer trostlosen Jugend befassten. Der fünfzigste Jahrestag des Mordfalls veranlasste eine Reihe von Retrospektiven, und schließlich tauchten verschollene Prozessakten auf, die alte Verdachtsmomente stärkten, zumal gegen den Krupp-Erben Harald von Bohlen und Halbach, der für das Mädchen Rosemarie offenbar mehr als nur ein Kunde gewesen war. Und gewiss hatte auch der zunehmende Geschmack an Verschwörungstheorien, den die neuen Medien befeuerten, seinen Anteil daran, dass der Fall Nitribitt nicht aus dem kollektiven Gedächtnis verschwand.
Dennoch könnte man sich fragen, warum dem Roman von Erich Kuby, der 1996 im Rotbuch-Verlag noch einmal aufgelegt und 2010 nachgedruckt wurde, ausgerechnet jetzt bei Schöffling eine Neuausgabe zuteil wird. Haben wir irgendein Jubiläum, irgendeinen Trigger verpasst? Oder ist dies, nach Jahren voller Skandale und Enthüllungen, die Verflechtung von Politik und Industrie betreffend, nach Jahrzehnten schleichender Entzauberung des Marktliberalismus und anderer freiheitlich-demokratischer Errungenschaften, einfach ein guter Zeitpunkt, um an jene frühe, in satirische Fiktion gekleidete, doch verblüffend präzise Analyse solcher Verhältnisse zu erinnern?
Im „Nachwort, das als Vorwort gelesen werden soll“, notiert von Erich Kuby zur Neuauflage im Jahr 1996, erfährt man Details zur Entstehung und Rezeption des Films und des Romans (der, wie der Autor schon im Vorwort zur Erstausgabe ausführte, diesen Begriff „literarisch genommen, nicht zu füllen vermag“). Vor allem aber gewinnt man einen Einblick in die Denkart Kubys, der bis ins hohe Alter blieb, was er stets gewesen war: ein unabhängiger „Linker“ mit weitem Bildungshorizont, ein couragierter Außenseiter und hellwacher Beobachter des Zeitgeschehens.
Bei der Neulektüre seines vermeintlich „historischen“ Textes kam er damals zu dem Schluss: „Womit die reale, die ermordete Rosemarie und jene des Films und des Buches ihre Kunden erpressen konnte, ist zwar der Schlamm von gestern, aber daraus ist in vierzig Jahren die Sumpflandschaft geworden, in der Unternehmer und Banker ihre Zentralen errichtet haben.“
Der Fortgang der Dinge bis heute hätte ihn kaum überrascht, vielleicht aber die Tatsache, dass krasse Skandale, ob in Politik, Industrie oder Finanzwesen, inzwischen aufgedeckt werden können, ohne eine nennenswerte Sprengkraft zu entfalten oder gar die Trockenlegung von Sümpfen zu bewirken. Jedenfalls äußerte Kuby in jenem Nachwort noch die Hoffnung, die Fallstudie der Rosemarie Nitribitt und der „sozialpolitischen Bedingungen ihrer Karriere zum Tode“ könne sich als „ Aufklärungsmedizin“ erweisen und die Wahrnehmung schärfen. Denn Rosemarie und ihr Unternehmen, dessen Pikanterie die sexuelle Befreiung längst neutralisiert hatte, waren für ihn nur das „dramaturgische Vehikel“ gewesen, um einen gesellschaftlichen Zustand zu beschreiben, in dem Geld und Macht und deren innige Verquickung letzten Endes alle menschlichen Handlungen und Beziehungen bestimmen.
Womöglich sind jetzt, ein Vierteljahrhundert später, die Voraussetzungen für einen Erkenntnisprozess im Sinne Kubys schon besser. Ansonsten bleibt das von ihm ganz unbescheiden avisierte „Lesevergnügen“, das sich als überraschend zeitlos erweist. Die Typenzeichnung der Industriekapitäne im „Isoliermattenkartell“, einer Tarnorganisation für Rüstungsgeschäfte, die maliziös sezierende Schilderung von Milieus und Verhaltensweisen, die Mutmaßungen über eine Firmengründerin besonderer Art, die ihr Gewerbe der Mechanik des Wirtschaftswunder-Kapitalismus perfekt anpasst und dadurch für ihre Kunden selbst zum „Fetisch des Wirtschaftswunders“ wird – das alles ist von glänzendem Unterhaltungswert, auch wenn zum Ende hin der Erklärungsüberschuss auf Kosten der Spannung geht. Da aber der Aufklärungsbedarf damit offenbar noch nicht gedeckt ist, enthält die Neuausgabe einen klugen, soziologisch grundierten Essay des FAZ-Herausgebers Jürgen Kaube. So wird der „Fall Nitribitt“ auf hohem Niveau ins dritte Jahrtausend hinübergerettet.
Erich Kuby: Rosemarie. Des deutschen Wunders liebstes Kind. Roman. Mit einem Essay von Jürgen Kaube. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2020. 320 Seiten, 22,70 Euro.
Über den Tod Nitribitts schrieb
Kuby zunächst eine Glosse
in der „Süddeutschen Zeitung“
Der Unterhaltungswert des
Romans, auf den der Autor
abzielte, ist nach wie vor groß
Ikonisch: Rosemarie Nitribitt mit schwarzem Mercedes-Cabriolet und Pudel.
Foto: ullstein bild / Getty Images
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zwischen Kolportage und Soziologie der jungen Bundesrepublik: Erich Kubys Roman
„Rosemarie. Des deutschen Wunders liebstes Kind“ aus dem Jahr 1958
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Im Kriminalmuseum der ungelösten Fälle müsste man dem Mord an der 24-jährigen Frankfurter Prostituierten Rosemarie Nitribitt, der sich in den letzten Oktobertagen des Jahres 1957 zutrug, ein Extra-Kabinett einrichten. Denn es sind nicht nur die Umstände des Verbrechens, die nach wie vor Fragen aufwerfen. Aus heutiger Perspektive erscheint es fast schon kurios, dass das Interesse daran sich seit nunmehr zwei Generationen immer wieder recyceln lässt, obwohl das gesellschaftliche Umfeld, in dem Leben und Tod einer sogenannten „Edelhure“ zum nationalen Skandal taugten, schon lange nicht mehr existiert, und obwohl die Protagonistin selbst nichts Mysteriöses an sich hatte, schon gar nicht in erotischer Hinsicht.
Warum die Affäre zum spektakulärsten Mordfall der Adenauer-Ära wurde, ist oft genug untersucht und beschrieben worden. Für die dumpf verklemmte Doppelmoral jener Zeit war es eine unerhörte Provokation, dass eine – wie man damals sagte – „Lebedame“, aus elenden Verhältnissen stammend, ihr Gewerbe als freie Unternehmerin in aller Öffentlichkeit betrieb und dadurch zu beträchtlichem Wohlstand gelangte, dass sie Luxus-Insignien, wie das legendäre schwarze Mercedes-Cabrio mit roten Ledersitzen und Weißwandreifen, in ihr Geschäftsmodell integrierte und ihre Kunden in den höchsten Etagen der Wirtschaftswunder-Gesellschaft fand.
Ob der Täter, der sie in ihrem gutbürgerlichen Wohnzimmer erwürgte, zu jenem illustren Kreis gehörte oder von dort beauftragt worden war, konnte wegen polizeilicher Ermittlungsfehler und Vertuschungsmaßnahmen nie festgestellt werden, was einerseits der Volksseele und der aufstrebenden Boulevardpresse reichlich Stoff für Spekulationen lieferte, andererseits einen scharfsinnigen Chronisten und Polemiker wie Erich Kuby (1910 – 2005) zu seiner Version der Vorgänge inspirierte.
Kuby hatte auf die Meldung vom Tod der Nitribitt zunächst mit einer Glosse in der Süddeutschen Zeitung reagiert, deren Redakteur er damals war. Den Namen des Opfers assoziierte er darin vom Klang her mit einem Sprengstoff, den er prinzipiell für geeignet hielt, „einen ansehnlichen Teil der westdeutschen Gesellschaft“ in die Luft zu jagen. Sein 1958 erschienener Roman „Rosemarie. Des deutschen Wunders liebstes Kind“ war ein veritabler Schnellschuss, aber es ging ihm noch die maßgebliche Mitarbeit des Autors am Drehbuch zu Rolf Thieles Spielfilm „Das Mädchen Rosemarie“ voraus, der im selben Jahr in die Kinos kam und einigen Anstoß erregte, Zensurversuche inbegriffen.
Buch und Film weichen inhaltlich leicht voneinander ab, doch folgen beide Werke dem Prinzip der satirischen Verfremdung, arbeiten mit erfundenen Figuren und Handlungselementen und haben mit der wahren Lebensgeschichte der Rosemarie Nitribitt wie auch mit den Hintergründen ihrer Ermordung, soweit sie nachweisbar sind, wenig zu tun.
Aber vor allem der Film, mit Nadja Tiller in der Hauptrolle, prägt bis heute das Bild von der eleganten, verführerischen Prominenten-Hure, die im Fünfzigerjahre-Ambiente die feinsten Kreise ausnimmt, sich aus Geldgier auf Industriespionage und Erpressung einlässt und dann von finsteren Drahtziehern beseitigt wird. Bernd Eichingers Remake mit Nina Hoss aus dem Jahr 1996, auf der Welle der Fifties-Nostalgie schwimmend, gab diesem Mythos neue Nahrung, mit aufwendigem Dekor und ohne weiterführende Einsichten.
In der Folgezeit entstanden Dokumentationen, die sich mit Nitribitts Werdegang und ihrer trostlosen Jugend befassten. Der fünfzigste Jahrestag des Mordfalls veranlasste eine Reihe von Retrospektiven, und schließlich tauchten verschollene Prozessakten auf, die alte Verdachtsmomente stärkten, zumal gegen den Krupp-Erben Harald von Bohlen und Halbach, der für das Mädchen Rosemarie offenbar mehr als nur ein Kunde gewesen war. Und gewiss hatte auch der zunehmende Geschmack an Verschwörungstheorien, den die neuen Medien befeuerten, seinen Anteil daran, dass der Fall Nitribitt nicht aus dem kollektiven Gedächtnis verschwand.
Dennoch könnte man sich fragen, warum dem Roman von Erich Kuby, der 1996 im Rotbuch-Verlag noch einmal aufgelegt und 2010 nachgedruckt wurde, ausgerechnet jetzt bei Schöffling eine Neuausgabe zuteil wird. Haben wir irgendein Jubiläum, irgendeinen Trigger verpasst? Oder ist dies, nach Jahren voller Skandale und Enthüllungen, die Verflechtung von Politik und Industrie betreffend, nach Jahrzehnten schleichender Entzauberung des Marktliberalismus und anderer freiheitlich-demokratischer Errungenschaften, einfach ein guter Zeitpunkt, um an jene frühe, in satirische Fiktion gekleidete, doch verblüffend präzise Analyse solcher Verhältnisse zu erinnern?
Im „Nachwort, das als Vorwort gelesen werden soll“, notiert von Erich Kuby zur Neuauflage im Jahr 1996, erfährt man Details zur Entstehung und Rezeption des Films und des Romans (der, wie der Autor schon im Vorwort zur Erstausgabe ausführte, diesen Begriff „literarisch genommen, nicht zu füllen vermag“). Vor allem aber gewinnt man einen Einblick in die Denkart Kubys, der bis ins hohe Alter blieb, was er stets gewesen war: ein unabhängiger „Linker“ mit weitem Bildungshorizont, ein couragierter Außenseiter und hellwacher Beobachter des Zeitgeschehens.
Bei der Neulektüre seines vermeintlich „historischen“ Textes kam er damals zu dem Schluss: „Womit die reale, die ermordete Rosemarie und jene des Films und des Buches ihre Kunden erpressen konnte, ist zwar der Schlamm von gestern, aber daraus ist in vierzig Jahren die Sumpflandschaft geworden, in der Unternehmer und Banker ihre Zentralen errichtet haben.“
Der Fortgang der Dinge bis heute hätte ihn kaum überrascht, vielleicht aber die Tatsache, dass krasse Skandale, ob in Politik, Industrie oder Finanzwesen, inzwischen aufgedeckt werden können, ohne eine nennenswerte Sprengkraft zu entfalten oder gar die Trockenlegung von Sümpfen zu bewirken. Jedenfalls äußerte Kuby in jenem Nachwort noch die Hoffnung, die Fallstudie der Rosemarie Nitribitt und der „sozialpolitischen Bedingungen ihrer Karriere zum Tode“ könne sich als „ Aufklärungsmedizin“ erweisen und die Wahrnehmung schärfen. Denn Rosemarie und ihr Unternehmen, dessen Pikanterie die sexuelle Befreiung längst neutralisiert hatte, waren für ihn nur das „dramaturgische Vehikel“ gewesen, um einen gesellschaftlichen Zustand zu beschreiben, in dem Geld und Macht und deren innige Verquickung letzten Endes alle menschlichen Handlungen und Beziehungen bestimmen.
Womöglich sind jetzt, ein Vierteljahrhundert später, die Voraussetzungen für einen Erkenntnisprozess im Sinne Kubys schon besser. Ansonsten bleibt das von ihm ganz unbescheiden avisierte „Lesevergnügen“, das sich als überraschend zeitlos erweist. Die Typenzeichnung der Industriekapitäne im „Isoliermattenkartell“, einer Tarnorganisation für Rüstungsgeschäfte, die maliziös sezierende Schilderung von Milieus und Verhaltensweisen, die Mutmaßungen über eine Firmengründerin besonderer Art, die ihr Gewerbe der Mechanik des Wirtschaftswunder-Kapitalismus perfekt anpasst und dadurch für ihre Kunden selbst zum „Fetisch des Wirtschaftswunders“ wird – das alles ist von glänzendem Unterhaltungswert, auch wenn zum Ende hin der Erklärungsüberschuss auf Kosten der Spannung geht. Da aber der Aufklärungsbedarf damit offenbar noch nicht gedeckt ist, enthält die Neuausgabe einen klugen, soziologisch grundierten Essay des FAZ-Herausgebers Jürgen Kaube. So wird der „Fall Nitribitt“ auf hohem Niveau ins dritte Jahrtausend hinübergerettet.
Erich Kuby: Rosemarie. Des deutschen Wunders liebstes Kind. Roman. Mit einem Essay von Jürgen Kaube. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2020. 320 Seiten, 22,70 Euro.
Über den Tod Nitribitts schrieb
Kuby zunächst eine Glosse
in der „Süddeutschen Zeitung“
Der Unterhaltungswert des
Romans, auf den der Autor
abzielte, ist nach wie vor groß
Ikonisch: Rosemarie Nitribitt mit schwarzem Mercedes-Cabriolet und Pudel.
Foto: ullstein bild / Getty Images
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2020Nichts Besseres denn fröhlich sein
Im Herbst 1957 wird die Edelprostituierte Rosemarie Nitribitt in ihrer Frankfurter Wohnung ermordet. Ein Buch von Erich Kuby über die Tote steht 63 Jahre später im Mittelpunkt des Festivals "Frankfurt liest ein Buch".
Von Ralf Euler
In den Grabstein auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof ist ein Predigerwort aus dem Alten Testament gemeißelt. "Nichts Besseres darin ist, denn fröhlich sein und gütlich tun im Leben", heißt es dort. Hier ist Rosemarie Nitribitt beerdigt, vor 63 Jahren in Frankfurt ermordet, Symbol und Mahnbild der frühen deutschen Nachkriegsgeschichte und des Wirtschaftswunders. Wer sie im Oktober 1957, im Alter von nur 24 Jahren, umbrachte, konnte nie ermittelt werden.
Ihr Tod war einer der ersten großen Gesellschaftsskandale der jungen Bundesrepublik, nicht zuletzt weil die Frankfurter Edelprostituierte einflussreiche Männer aus Politik, Wirtschaft und Finanzwelt zu ihren Kunden zählte. Die genauen Umstände und Hintergründe des Verbrechens sind, ebenso wie die Identität des Täters, bis heute ungeklärt. Der Mordfall inspirierte bereits im Jahr 1958 den "Stern"-Journalisten Erich Kuby, die Geschichte des "Mädchens Rosemarie", wie die Verfilmung noch im selben Jahr betitelt war, so zu erzählen, wie er sie sich vorstellte: eine ehrgeizige, skrupellose junge Frau aus schwierigen Verhältnissen mit großen Plänen, die Opfer eines von ihr selbst initiierten Spiels mit einem der Mächtigen der frühen Bundesrepublik wird. So könnte es gewesen sein.
Kubys Porträt einer von Doppelmoral geprägten Gesellschaft liegt jetzt, ergänzt um einen Essay von F.A.Z.-Herausgeber Jürgen Kaube, in einer Neuausgabe vor (Erich Kuby: "Rosemarie", Verlag Schöffling & Co., 22 Euro). Der Roman, der 1958 mit dem Untertitel "Des deutschen Wunders liebstes Kind" erschienen war, steht im Mittelpunkt des Lesefestivals "Frankfurt liest ein Buch" vom 24. Oktober bis 1. November, nach der Frankfurter Buchmesse. Den ursprünglich geplanten Termin vom 27. April bis 10. Mai hatten die Veranstalter wegen der Corona-Pandemie abgesagt.
Maria Rosalia Auguste Nitribitt, genannt Rosemarie, wird am 1. Februar 1933 als uneheliches Kind einer Minderjährigen in Düsseldorf geboren. Den unbekannten Vater lernt sie nie kennen, zusammen mit ihren beiden jüngeren Halbschwestern wächst sie in ärmlichen Verhältnissen auf. Bereits 1936 entzieht das Jugendamt der überforderten und mehrfach straffällig gewordenen Mutter das Sorgerecht, zwei Jahre später wird Rosemarie in ein Kinderheim eingewiesen. Während des Krieges lebt sie in einer Pflegefamilie in der Eifel, wird 1944, im Alter von elf Jahren von einem achtzehnjährigen Nachbarsjungen vergewaltigt.
Nach dem Krieg beginnt die junge Frau, als Prostituierte zu arbeiten, zu ihren ersten Kunden zählen amerikanische und französische Soldaten. Mehrfach wird sie von der Polizei aufgegriffen, kommt in Heime, Besserungsanstalten und in Jugendhaft. Im April 1953 zieht sie nach Frankfurt, um sich dort im Rotlichtmilieu zu etablieren. Schnell steigt sie in der Hierarchie der Prostituierten auf. Die Freigiebigkeit reicher Freier ermöglicht ihr einen gehobenen Lebensstil, sie kann sich ein Auto kaufen, wird in den Urlaub ans Mittelmeer eingeladen und bekommt Kontakt zu Rechtsanwälten, Ärzten, Politikern und Unternehmern. Die Industriellensöhne Harald Quandt und Gunter Sachs sollen ebenso zu ihren Kunden gehört haben wie Harald von Bohlen und Halbach aus der Krupp-Dynastie.
Rosemarie Nitribitt ist keine Schönheit, aber sie wirkt auf Männer, und sie weiß diese Wirkung für sich zu nutzen. 1956 erlauben ihr die Einnahmen aus der Prostitution die Anschaffung eines offenen schwarzen Mercedes 190 SL, mit roten Ledersitzen und Weißwandreifen, bar bezahlt, der zu ihrem Markenzeichen wird. Nitribitt kann zwar kaum richtig schreiben, nimmt aber Benimmunterricht, lernt Englisch und Französisch, sie kleidet sich schick, firmiert als Mannequin, bezieht eine Neubauwohnung am Eschenheimer Turm in Frankfurt und schafft sich einen Pudel an. Als "die Nitribitt" wird sie zur bekanntesten Prostituierten der Stadt - eine Mischung aus Domina und liebenswertem Mädchen.
Am 1. November 1957 finden Polizisten die berühmte Halbweltdame tot in ihrem Zweizimmer-Apartment. Die Leiche liegt auf dem Boden mit blutverschmiertem Gesicht. Bis zuletzt muss sie sich gewehrt haben, ein Schlag oder Sturz auf den Hinterkopf macht sie wehrlos, dann erdrosselt sie ihr Mörder, legt aber, wie als eine letzte hilfreiche Geste, ein gefaltetes Handtuch unter den Kopf der Toten. "Blonde Rosemarie, Stadtbekannte Frau in Frankfurt erwürgt", titelt die "Frankfurter Nachtausgabe".
Bei den Mordermittlungen gibt es zahlreiche Pannen. Schon der Todeszeitpunkt lässt sich nicht mehr genau klären, weil die Ermittler wegen des Gestanks der schon seit Tagen in der geheizten Wohnung liegenden Leiche die Fenster aufreißen. Ein Bekannter Nitribitts, ein homosexueller Handelsvertreter, wird als Täter verhaftet und vor Gericht gestellt. Er soll die Frau im Streit um Geld getötet haben. Doch am Ende kommt der Mann aus Mangel an Beweisen frei. Zeugen geben an, die Nitribitt noch gesehen zu haben, als sie nach Ansicht der Ermittler bereits tot war. Eine Blamage für Polizei und Staatsanwaltschaft.
Die kaum erklärbare Pannenserie lässt den Verdacht aufkommen, einflussreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik hätten interveniert; möglicherweise sei gar einer der prominenten Liebhaber Nitribitts selbst gewalttätig geworden. Kuby entschärft diesen Verdacht in seinem Buch, indem er die Ehefrau eines Industriellen sagen lässt: "Ich kann nicht sagen, was es da zu erpressen gab. Wir wissen doch alle, wie unsere Männer herumschlafen."
Möglicherweise ist Rosemarie Nitribitt gar nicht einem ihrer Freier, sondern einem Raubmörder zum Opfer gefallen. Die Prostituierte, die sich ihre Dienste teuer bezahlen ließ, war fleißig und sparsam. Bei ihrem Tod soll sie in ihrer Wohnung mehrere tausend Mark aufbewahrt haben, weitere 90 000 Mark fanden sich auf ihrem Konto. Ihr Apartment an der Frankfurter Stiftstraße entpuppt sich auf Fotos aus dem Privatbesitz der Prostituierten als Inbegriff der Spießigkeit, mit Blümchenkissen und Pudel auf dem Sofa, die Verkörperung des prüden Deutschlands der fünfziger Jahre. Erich Kuby schreibt nach dem Mord in Frankfurt in der "Süddeutschen Zeitung": "In der Tat würde dieser Sprengstoff mit dem Vornamen Rosemarie einen ansehnlichen Teil der westdeutschen Gesellschaft in die Luft sprengen, wenn es außer einer wirtschaftlichen Krise etwas gäbe, was diese Gesellschaft wirklich berühren könnte."
Aus der Sicht Kubys ist die Nitribitt die "Verkörperung eines gesellschaftlichen Zustandes", dem der fünfziger Jahre. Dass es eine Hure nicht nur zu Wohlstand bringen, sondern auch Kontakte zu gesellschaftlich hochrangigen Kreisen haben konnte, ist damals für viele unvorstellbar. Noch zum zehnten Todestag Nitribitts schreibt die "Frankfurter Neue Presse": "Die große Sünderin hat grässlich gebüßt."
Mit seinem Buch über Aufstieg und Fall der Nitribitt zielte Kuby auf "eine Erschütterung des Ansehens, welches die Rosemarie-Kunden als Leitbilder unserer Gesellschaft skandalöserweise genießen". Der Fall Nitribitt steht für den deutschen Wiederaufstieg nach dem Ende der Nazi-Diktatur, für eine Gesellschaft, die frei von Verantwortung für die Verbrechen der Jahre 1933 bis 1945 sein wollte, für Prüderie und Doppelmoral, für den Einfluss des Kapitals und der Männer, aber auch für ein neues Selbstbewusstsein der Frauen. Und genau wegen dieser Ambivalenz und Vielschichtigkeit ist Kubys Roman auch mehr als 60 Jahre seit seinem Erscheinen noch lesenswert.
"Ihre Leben war banal", schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung zehn Jahre nach Nitribitts Tod. "Sie war schwach, begabt, krank und nicht einmal besonders attraktiv. Wohl war sie geschäftstüchtig und leistete sich einen Sportwagen - aber ist das in diesem Gewerbe so außergewöhnlich?" Trotzdem wurde sie zur Legende. Der Tod hat Rosemarie Nitribitt unsterblich gemacht. Ihre sterblichen Überreste wurden am 11. November 1957 auf dem Nordfriedhof ihrer Geburtsstadt Düsseldorf beerdigt. Erst im Dezember 2007 gab die Frankfurter Staatsanwaltschaft den Schädel der Toten frei. Der war bis dahin im Frankfurter Kriminalmuseum aufbewahrt und, wegen der gut sichtbaren schweren Schädelverletzungen, als Anschauungsobjekt für den Kripo-Nachwuchs genutzt worden. Wenige Wochen später wurde der Kopf im Düsseldorfer Grab beigesetzt. Die Akte Nitribitt ruht im hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Herbst 1957 wird die Edelprostituierte Rosemarie Nitribitt in ihrer Frankfurter Wohnung ermordet. Ein Buch von Erich Kuby über die Tote steht 63 Jahre später im Mittelpunkt des Festivals "Frankfurt liest ein Buch".
Von Ralf Euler
In den Grabstein auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof ist ein Predigerwort aus dem Alten Testament gemeißelt. "Nichts Besseres darin ist, denn fröhlich sein und gütlich tun im Leben", heißt es dort. Hier ist Rosemarie Nitribitt beerdigt, vor 63 Jahren in Frankfurt ermordet, Symbol und Mahnbild der frühen deutschen Nachkriegsgeschichte und des Wirtschaftswunders. Wer sie im Oktober 1957, im Alter von nur 24 Jahren, umbrachte, konnte nie ermittelt werden.
Ihr Tod war einer der ersten großen Gesellschaftsskandale der jungen Bundesrepublik, nicht zuletzt weil die Frankfurter Edelprostituierte einflussreiche Männer aus Politik, Wirtschaft und Finanzwelt zu ihren Kunden zählte. Die genauen Umstände und Hintergründe des Verbrechens sind, ebenso wie die Identität des Täters, bis heute ungeklärt. Der Mordfall inspirierte bereits im Jahr 1958 den "Stern"-Journalisten Erich Kuby, die Geschichte des "Mädchens Rosemarie", wie die Verfilmung noch im selben Jahr betitelt war, so zu erzählen, wie er sie sich vorstellte: eine ehrgeizige, skrupellose junge Frau aus schwierigen Verhältnissen mit großen Plänen, die Opfer eines von ihr selbst initiierten Spiels mit einem der Mächtigen der frühen Bundesrepublik wird. So könnte es gewesen sein.
Kubys Porträt einer von Doppelmoral geprägten Gesellschaft liegt jetzt, ergänzt um einen Essay von F.A.Z.-Herausgeber Jürgen Kaube, in einer Neuausgabe vor (Erich Kuby: "Rosemarie", Verlag Schöffling & Co., 22 Euro). Der Roman, der 1958 mit dem Untertitel "Des deutschen Wunders liebstes Kind" erschienen war, steht im Mittelpunkt des Lesefestivals "Frankfurt liest ein Buch" vom 24. Oktober bis 1. November, nach der Frankfurter Buchmesse. Den ursprünglich geplanten Termin vom 27. April bis 10. Mai hatten die Veranstalter wegen der Corona-Pandemie abgesagt.
Maria Rosalia Auguste Nitribitt, genannt Rosemarie, wird am 1. Februar 1933 als uneheliches Kind einer Minderjährigen in Düsseldorf geboren. Den unbekannten Vater lernt sie nie kennen, zusammen mit ihren beiden jüngeren Halbschwestern wächst sie in ärmlichen Verhältnissen auf. Bereits 1936 entzieht das Jugendamt der überforderten und mehrfach straffällig gewordenen Mutter das Sorgerecht, zwei Jahre später wird Rosemarie in ein Kinderheim eingewiesen. Während des Krieges lebt sie in einer Pflegefamilie in der Eifel, wird 1944, im Alter von elf Jahren von einem achtzehnjährigen Nachbarsjungen vergewaltigt.
Nach dem Krieg beginnt die junge Frau, als Prostituierte zu arbeiten, zu ihren ersten Kunden zählen amerikanische und französische Soldaten. Mehrfach wird sie von der Polizei aufgegriffen, kommt in Heime, Besserungsanstalten und in Jugendhaft. Im April 1953 zieht sie nach Frankfurt, um sich dort im Rotlichtmilieu zu etablieren. Schnell steigt sie in der Hierarchie der Prostituierten auf. Die Freigiebigkeit reicher Freier ermöglicht ihr einen gehobenen Lebensstil, sie kann sich ein Auto kaufen, wird in den Urlaub ans Mittelmeer eingeladen und bekommt Kontakt zu Rechtsanwälten, Ärzten, Politikern und Unternehmern. Die Industriellensöhne Harald Quandt und Gunter Sachs sollen ebenso zu ihren Kunden gehört haben wie Harald von Bohlen und Halbach aus der Krupp-Dynastie.
Rosemarie Nitribitt ist keine Schönheit, aber sie wirkt auf Männer, und sie weiß diese Wirkung für sich zu nutzen. 1956 erlauben ihr die Einnahmen aus der Prostitution die Anschaffung eines offenen schwarzen Mercedes 190 SL, mit roten Ledersitzen und Weißwandreifen, bar bezahlt, der zu ihrem Markenzeichen wird. Nitribitt kann zwar kaum richtig schreiben, nimmt aber Benimmunterricht, lernt Englisch und Französisch, sie kleidet sich schick, firmiert als Mannequin, bezieht eine Neubauwohnung am Eschenheimer Turm in Frankfurt und schafft sich einen Pudel an. Als "die Nitribitt" wird sie zur bekanntesten Prostituierten der Stadt - eine Mischung aus Domina und liebenswertem Mädchen.
Am 1. November 1957 finden Polizisten die berühmte Halbweltdame tot in ihrem Zweizimmer-Apartment. Die Leiche liegt auf dem Boden mit blutverschmiertem Gesicht. Bis zuletzt muss sie sich gewehrt haben, ein Schlag oder Sturz auf den Hinterkopf macht sie wehrlos, dann erdrosselt sie ihr Mörder, legt aber, wie als eine letzte hilfreiche Geste, ein gefaltetes Handtuch unter den Kopf der Toten. "Blonde Rosemarie, Stadtbekannte Frau in Frankfurt erwürgt", titelt die "Frankfurter Nachtausgabe".
Bei den Mordermittlungen gibt es zahlreiche Pannen. Schon der Todeszeitpunkt lässt sich nicht mehr genau klären, weil die Ermittler wegen des Gestanks der schon seit Tagen in der geheizten Wohnung liegenden Leiche die Fenster aufreißen. Ein Bekannter Nitribitts, ein homosexueller Handelsvertreter, wird als Täter verhaftet und vor Gericht gestellt. Er soll die Frau im Streit um Geld getötet haben. Doch am Ende kommt der Mann aus Mangel an Beweisen frei. Zeugen geben an, die Nitribitt noch gesehen zu haben, als sie nach Ansicht der Ermittler bereits tot war. Eine Blamage für Polizei und Staatsanwaltschaft.
Die kaum erklärbare Pannenserie lässt den Verdacht aufkommen, einflussreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik hätten interveniert; möglicherweise sei gar einer der prominenten Liebhaber Nitribitts selbst gewalttätig geworden. Kuby entschärft diesen Verdacht in seinem Buch, indem er die Ehefrau eines Industriellen sagen lässt: "Ich kann nicht sagen, was es da zu erpressen gab. Wir wissen doch alle, wie unsere Männer herumschlafen."
Möglicherweise ist Rosemarie Nitribitt gar nicht einem ihrer Freier, sondern einem Raubmörder zum Opfer gefallen. Die Prostituierte, die sich ihre Dienste teuer bezahlen ließ, war fleißig und sparsam. Bei ihrem Tod soll sie in ihrer Wohnung mehrere tausend Mark aufbewahrt haben, weitere 90 000 Mark fanden sich auf ihrem Konto. Ihr Apartment an der Frankfurter Stiftstraße entpuppt sich auf Fotos aus dem Privatbesitz der Prostituierten als Inbegriff der Spießigkeit, mit Blümchenkissen und Pudel auf dem Sofa, die Verkörperung des prüden Deutschlands der fünfziger Jahre. Erich Kuby schreibt nach dem Mord in Frankfurt in der "Süddeutschen Zeitung": "In der Tat würde dieser Sprengstoff mit dem Vornamen Rosemarie einen ansehnlichen Teil der westdeutschen Gesellschaft in die Luft sprengen, wenn es außer einer wirtschaftlichen Krise etwas gäbe, was diese Gesellschaft wirklich berühren könnte."
Aus der Sicht Kubys ist die Nitribitt die "Verkörperung eines gesellschaftlichen Zustandes", dem der fünfziger Jahre. Dass es eine Hure nicht nur zu Wohlstand bringen, sondern auch Kontakte zu gesellschaftlich hochrangigen Kreisen haben konnte, ist damals für viele unvorstellbar. Noch zum zehnten Todestag Nitribitts schreibt die "Frankfurter Neue Presse": "Die große Sünderin hat grässlich gebüßt."
Mit seinem Buch über Aufstieg und Fall der Nitribitt zielte Kuby auf "eine Erschütterung des Ansehens, welches die Rosemarie-Kunden als Leitbilder unserer Gesellschaft skandalöserweise genießen". Der Fall Nitribitt steht für den deutschen Wiederaufstieg nach dem Ende der Nazi-Diktatur, für eine Gesellschaft, die frei von Verantwortung für die Verbrechen der Jahre 1933 bis 1945 sein wollte, für Prüderie und Doppelmoral, für den Einfluss des Kapitals und der Männer, aber auch für ein neues Selbstbewusstsein der Frauen. Und genau wegen dieser Ambivalenz und Vielschichtigkeit ist Kubys Roman auch mehr als 60 Jahre seit seinem Erscheinen noch lesenswert.
"Ihre Leben war banal", schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung zehn Jahre nach Nitribitts Tod. "Sie war schwach, begabt, krank und nicht einmal besonders attraktiv. Wohl war sie geschäftstüchtig und leistete sich einen Sportwagen - aber ist das in diesem Gewerbe so außergewöhnlich?" Trotzdem wurde sie zur Legende. Der Tod hat Rosemarie Nitribitt unsterblich gemacht. Ihre sterblichen Überreste wurden am 11. November 1957 auf dem Nordfriedhof ihrer Geburtsstadt Düsseldorf beerdigt. Erst im Dezember 2007 gab die Frankfurter Staatsanwaltschaft den Schädel der Toten frei. Der war bis dahin im Frankfurter Kriminalmuseum aufbewahrt und, wegen der gut sichtbaren schweren Schädelverletzungen, als Anschauungsobjekt für den Kripo-Nachwuchs genutzt worden. Wenige Wochen später wurde der Kopf im Düsseldorfer Grab beigesetzt. Die Akte Nitribitt ruht im hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden.
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»Ein überraschend zeitloses Lesevergnügen.« Kristina Maidt-Zinke, Süddeutsche Zeitung »Kuby schillert vor Originalität und Genauigkeit.« Jamal Tuschick, Der Freitag »Kuby zeichnet seine Figur Rosemarie als Spiegelbild des deutschen Wirtschaftswunders schlechthin.« Reinhard Kalb, Nürnberger Zeitung