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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ist alles Vergangene auch schon Vergangenheit? Der Heidelberger Zeithistoriker Edgar Wolfrum schreibt auf der Überholspur die Geschichte von Rot-Grün
Einen Sack kann man nicht gut von innen zuziehen. Wie verhält sich das mit der Zeitgeschichte? Vor uns liegt auf mehr als achthundert Seiten die Darstellung, die der Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum von der Regierungsperiode Gerhard Schröders und Joschka Fischers gibt. Das ist noch nicht lange her, aber ist es damit bereits Historie?
Wird sie vom bloßen Zeitablauf her definiert, gibt es keinen Grund, das zu verneinen. Alles, was gestern, nein, heute Morgen war, ist dann jetzt Geschichte. So gesehen, spräche nichts dagegen, wenn gerade jemand an einer Geschichte des Außenministeriums unter Westerwelle säße und dem Nachfolger schon die Daumen drückt, damit das Manuskript endlich in Druck gehen kann. Hauptsache, die Zeit ist vergangen, das Personal nicht mehr im Amt, die Zeitung im Archiv.
Doch ist alles Vergangene auch schon Vergangenheit? Das umgekehrte Problem ist von fernen Epochen her bekannt, wenn deren "Gegenwart" oder Fortwirken behauptet wird: Die Gegenwart der Antike oder das immer noch immer nicht vergangene zwanzigste Jahrhundert - Vergangenheit, die angeblich nicht vergangen ist. Für Wolfrum muss Rot-Grün so etwas wie die Antike oder die Entdeckung Amerikas sein, denn er ermahnt sich allen Ernstes gegenüber dieser Epoche, man müsse "sich vor übergroßer Aktualisierung hüten". Dazu passt es dann aber nicht ganz, wenn der Zeithistoriker seinem Gegenstand Epochencharakter zuschreibt, damit sich die Gegenwart auf die Jahre um 2000 als auf ihren zurückliegenden Beginn, gewissermaßen auf den jugendlichen Aufbruch beziehen kann, dem dann bald Erwachsenwerden und Entsagung folgten.
Wolfrums Buch macht genau diesen Eindruck, dass das bloße Abgerissensein des Kalenderblatts selbst dem Historiker nicht genügt. "Wie historisch war 1998?", fragt er und notiert selbst, dass die Vokabel "historisch" inflationär verwendet wird, hält sich dann aber doch an die entsprechende Selbstbeschreibung des rot-grünen Personals samt befreundeten Journalisten. Zum ersten Mal eine linke Mehrheit, zum ersten Mal die Regierungsparteien komplett ausgetauscht, noch nie so viel Frauen in der Regierung - ein kurioser Gesichtspunkt, wenn die nächste "Epoche" mit der ersten Kanzlerin einsetzt -, noch nie zuvor die Generation von 1968 so stark an der Macht. (Na ja, wer 1968 fünfundzwanzig war, der war eben 1998 Mitte fünfzig, vorher gibt's in ruhigen Zeiten nur ausnahmsweise Macht.)
Außerdem konstatiert Wolfrum, in den Jahren nach 1998 habe sich ein gravierender Umbruch ereignet, "die Welt veränderte sich schneller als zuvor", die Nation trat - um 1998 - hinter globalen Fragen zurück, teils durch die Wirtschaft, teils durch den Balkankrieg, teils durch den Terrorismus. Die alte Bundesrepublik ging zu Ende. Das Ende der Nachkriegszeit. Der dritte Weg und die Neue Mitte. Der Übergang vom zwanzigsten ins einundzwanzigste Jahrhundert - jedenfalls in Deutschland, anderswo vielleicht früher oder später.
Man kann sich gar nicht mehr retten vor lauter Neuheiten. Natürlich hat gar keiner gemerkt, dass damals die Linke an der Macht war. Natürlich wäre es etwas übermütig, Franz Müntefering, Karlheinz Funke, Werner Müller, Bodo Hombach und Ulla Schmidt als 68er zu verbuchen. Natürlich ist die wahrgenommene Veränderungsgeschwindigkeit der Welt stark von den Verfallsraten der Zeitdiagnosen abhängig. Und natürlich hat es etwas unglaublich Naives, Geschichte in erster Linie als Regierungsgeschichte zu schreiben. Im Personenregister des Buches - ein Sachregister gibt es nicht - sucht man beispielsweise Namen wie Thomas Middelhoff, Rainald Goetz, Matthias Döpfner, Oliver Brüstle und Hartmut Mehdorn vergeblich.
Der Untertitel des Buches ist insofern irreführend. Und schließlich behauptet auch kein Historiker mehr, dass die Globalität sich 1998 erstmals in vollem Umfang gemeldet hat - jedenfalls keiner, der ein bisschen um 1900 herum gelesen hat. Das Ende der Nachkriegszeit wiederum haben manche schon auf das Jahr 1989 datiert. Es gibt also ziemlich große Toleranzen in der Zeitgeschichtsschreibung, ihr Plausibilitätsniveau erreicht das der Leitartikel, die sie zusammenfasst. Trotzdem war es selbstverständlich eine ganz, ganz große Zeit, das Äon Schröders, und wir könnten sagen, wir sind dabei gewesen, als von Berlin eine neue Epoche ausging.
Doch unter uns Zeitzeugen: Wir sollten es den Kindern und gegebenenfalls Enkeln ganz gewiss nicht so sagen. Denn es wird ja dann doch sehr peinlich, wenn sie durch die Erzählung selbst, schon so ab Seite 20, erfahren, wie unepochal das alles wirklich war. Vielleicht besser tapfer ehrlich sein.
JÜRGEN KAUBE
Edgar Wolfrum: "Rot-Grün an der Macht". Deutschland 1998 bis 2005
Verlag C. H. Beck, München 2013. 848 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
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