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Sasha Filipenkos Roman "Rote Kreuze"
Minsk zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Zwei Menschen begegnen sich auf dem Hausflur eines Mietshauses: der dreißigjährige Alexander, der gerade neu einzieht, und seine Nachbarin Tatjana, über neunzig Jahre alt und von den Anfängen der Alzheimer-Krankheit erfasst. Der junge Mann wehrt sich zunächst gegen die Aufdringlichkeit seiner Mitmieterin, aber dann wird er doch in die persönliche und politische Geschichte der Sowjetunion im 20. Jahrhundert hineingezogen.
"Man darf kein neues Leben anfangen und dabei das alte vergessen" heißt es programmatisch im Roman. Der weißrussische Autor Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, schreibt auf Russisch und lebt heute mit seiner Familie in Sankt Petersburg. Die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zollt ihm gewichtiges Lob: "Wenn Sie wissen wollen, was das moderne, junge Russland denkt, lesen Sie Filipenko." Vier Romane des Autors sind bisher erschienen, nun ist der erste aus dem Jahr 2017 von Ruth Altenhofer in eindringlicher und klarer Sprache ins Deutsche übertragen worden.
Die alte Dame Tatjana erzählt dem jungen Alexander ihre Lebensgeschichte, die sich wie eine Blaupause auf die Geschichte der Verfolgten im sowjetischen Russland liest. Woran die Menschenrechtsorganisation ,Memorial' seit über dreißig Jahren arbeitet, die Unterdrückungsgeschichte des Landes nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und eine Erinnerungskultur zu pflegen, das ist auch das Thema dieses ungewöhnlichen Dialogs oder besser gesagt Monologs einer Gezeichneten, die den Jungen erzählen will, welche Stempel das Leben ihrer Generation aufgedrückt hat. Ausgangspunkt ist eine Geschichte, auf die der Autor durch Zufall durch einen Archivar aufmerksam gemacht wurde: Briefe des Genfer Roten Kreuzes während des Zweiten Weltkriegs an die Sowjetunion, in denen das Menschenrechtskomitee versucht, Gefangenenlisten mit Moskau auszutauschen, um die Schicksale der Kriegsgefangenen zu erleichtern. Moskau antwortet nicht, verweigert jede Auskunft. Außenminister Molotow ist zu keinerlei Kompromiss oder Erleichterung der Häftlingsbedingungen bereit.
Diese Dokumente findet der Autor nicht in Moskau, wo solche Papiere seit Wladimir Putin längst wieder unter Verschluss sind, sondern in Genf, wo das damalige Rote Kreuz von jeder Korrespondenz eine Art Protokoll der Moskauer Reaktionen auf jedes nach Moskau geschickte Dokument angelegt hat. Dieses Material war der Ausgangspunkt für Filipenkos Roman über den Umgang mit der Vergangenheit und das Nachdenken, warum so viele Schicksale zerstört worden sind.
Die Romanfigur Tatjana wird während des Krieges Sekretärin beim Außenministerium und bearbeitet in dieser Funktion die Genfer Gefangenenlisten. Auf einer dieser Listen aus Rumänien steht auch der Name ihres Mannes. Da in der Sowjetunion alle russischen Kriegsgefangenen als Verräter gelten, löscht sie den Namen ihres Gatten und wiederholt den Namen des Gefangenen, der davor auf der Liste steht. Tatjana weiß wohl, welche Konsequenzen diese Fälschung zur Folge haben wird; sie wartet darauf, dass sie festgenommen wird, es passiert nichts. Erst nach Ende des Kriegs wird sie inhaftiert und muss zehn Jahre im Lager einsitzen. Das Denken an ihre Tochter, der sie entrissen wurde, als diese neun Jahre alt war, hält sie am Leben. Als Tatjana schließlich entlassen wird und sich auf die Suche nach ihrer Tochter macht, erfährt sie, dass bereits 1946, ein Jahr nach ihrer Inhaftierung, die Tochter im Lager verhungert ist.
Die Geschichte kennt keine Gnade. Bei ihren Recherchen erfährt sie auch, warum und wie ihr Mann als gefangener Soldat von den Sowjets ums Leben gebracht wurde. Auf der Suche nach ihm kommt Tatjana zweimal durch eine Kleinstadt in der Nähe von Perm, auf dem Marktplatz steht eine ramponierte Stalinstatue mit einem proportional viel zu kleinen Kopf - eine bittere Satire auf den großen Diktator. Ein Einheimischer erklärt, sie hätten keinen anderen Ersatzkopf bekommen, also mussten sie mit der Miniatur vorlieb nehmen. Beim nächsten Mal trägt die Statue einen viel zu großen Kopf, jetzt ist Stalin aufgeblasen wie eh und je.
Geschickt verknüpft der Autor die fiktive Geschichte mit den Originaldokumenten und transponiert das Geschehen in die Gegenwart. Zwei Menschen kommen sich über die Vergangenheit näher; sie werden immer vertrauter miteinander. Die Schicksale so vieler Hingerichteter und in den Tod Getriebener verknüpft das Leben der unterschiedlichen Generationen.
Das rote Kreuz symbolisiert Tatjanas Geschichte mehrfach. Zuerst taucht es auf, ins Holz des nachbarlichen Türrahmens gekratzt. Die alte Dame erklärt, das habe sie angebracht, damit sie nicht vergesse, wo sie wohne. Dann taucht in ihrem Lebensbericht das Genfer Rote Kreuz auf, das sie auf die Fährte ihres verschollenen Mannes bringt. Wie ein Menetekel steht mitten auf einem Feld im Niemandsland ein Kreuz, windschief aus verrosteten Rohren gebastelt, der Wind pfeift durch das Gestänge: "Das Kreuz sang von Vergangenheit und Zukunft, von Tod und Verzweiflung, von Erinnerung und Versöhnung." Eine Wegmarke durch die wilden Pfade einer Existenz in der Diktatur. Ein Jahr nach Tatjanas Tod lässt Alexander einen roten Granitstein fertigen und bittet den Bildhauer um folgende Inschrift: "Geht mir bitte nicht auf den Geist" - das waren Tatjanas letzte Worte vor ihrem Tod, ein lakonischer, bitter-ironischer Abschied. Sie wollte kein Mitleid.
LERKE VON SAALFELD
Sasha Filipenko: "Rote Kreuze". Roman.
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer. Diogenes Verlag, Zürich 2020. 288 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
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