Von April bis Juli 1994 wurden in Ruanda Hunderttausende Menschen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit umgebracht. Auf das Verbrechen folgte ein staatlicher Neuaufbau, der als beispielhaft gilt. Und doch ist die Region bis heute nicht zur Ruhe gekommen. Der Völkerrechtler Gerd Hankel hat Ruanda und die umliegenden Länder vielfach besucht und die Entwicklung des Landes über zwanzig Jahre hinweg beobachtet und begleitet. In seinem Buch erörtert er nicht nur die wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte Ruandas, sondern auch die tiefgreifenden Herausforderungen, mit denen die Gesellschaft konfrontiert ist. Er beleuchtet die Hintergründe und Interessen, die im Spiel sind, und macht auf diese Weise deutlich, dass Politik und Zynismus oftmals nahe beieinanderliegen. Die Selbst- und Fremdwahrnehmung Ruandas werfen eine Reihe von Fragen auf, die auch unseren Blick auf Gewalt und Unrecht betreffen. Für die Aktualisierung und Erweiterung seines 2019 zuerst vorgelegten Buchs hat der Autor die Region erneut bereist, um die jüngsten Entwicklungen zu beurteilen. So ist eine Neuausgabe entstanden, die die Geschichte Ruandas bis auf den heutigen Tag fortschreibt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2024Der Horror der Todesschwadronen
Ein Buch über den Völkermord in Ruanda vor 30 Jahren und die Folgen für das afrikanische Land
Nach dem Tod der Präsidenten von Burundi und Ruanda droht ein Bürgerkrieg" lautete die Überschrift in der F.A.Z. am 8. April 1994. Zwei Tage zuvor war ein Flugzeug mit dem ruandischen Präsidenten Juvenal Habyarimana und seinem burundischen Amtskollegen Cyprien Ntaryamira über Kigali abgeschossen worden. Dass dieses Ereignis zu einer der größten Tragödien in der jüngeren Geschichte führen sollte, war noch nicht zu erahnen. Doch schon einen Tag nach dem Abschuss begann ein rasend schneller Völkermord. In 100 Tagen, zwischen April und Juli, wurden in Ruanda Hunderttausende Menschen auf bestialische Weise umgebracht. Die Opfer waren vor allem Tutsi, die Täter stammten wie der getötete Präsident aus der Bevölkerungsgruppe der Hutu, der mit Abstand größten des Landes. Sie hatte nach der Unabhängigkeit des Landes das Sagen.
An das dunkle Kapitel der Geschichte wird in Ruanda jedes Jahr gedacht. In diesem Jahr, zum 30. Jahrestag des Beginns des Völkermordes, ist die Aufmerksamkeit besonders groß. Die Zeitung "New Times" kündigte hochrangige internationale Besucher an, aus den Vereinigten Staaten wird Bill Clinton mit einer Delegation anreisen. Für Clinton ist es ein schwieriger Besuch, denn die Vereinigten Staaten wie die übrige internationale Gemeinschaft hatten damals nichts unternommen, um den Völkermord effektiv zu stoppen.
"Nicht einmal eine Stunde später waren Straßensperren errichtet und die Todesschwadronen begannen, gezielt Menschen zu ermorden", so beschreibt Gerd Hankel in einer überarbeiteten Neuauflage seines 2019 erschienenen Buchs "Ruanda. 1994 bis heute", wie sich die Ereignisse danach überschlugen. Der deutsche Völkerrechtler hat das Land seit 2002 mehrere Male bereist, hat dort mit Männern, Frauen, Kindern gesprochen, hat die vielen Gedenkstätten besucht, an den jährlichen Trauerfeiern teilgenommen und sich mit Geschichte und Kultur intensiv befasst.
In packender Weise beschreibt er in diesem Buch zunächst wie in einer Reportage seine Eindrücke, faktenreich, präzise, aber trotzdem nah an den Menschen. Das Ausmaß der Gewalt ist bis heute nicht vorstellbar. Doch aus den Schilderungen seiner Gesprächspartner erhält der Leser ein vielschichtiges Bild der Ereignisse, der Angst, der Fassungslosigkeit und die heutige Sicht vieler Menschen in einem Land, das Touristen meist nur wegen der dort lebenden Gorillas besuchen.
30 Jahre später wird Ruandas Genozid häufig holzschnittartig dargestellt, vor allem Szenen aus dem Kinofilm "Hotel Ruanda" dürften viele noch im Gedächtnis haben. Wie komplex die Hintergründe dieses Völkermords gewesen sind, lässt sich erahnen, wenn der Autor etwa gleich zu Beginn des Buches erwähnt, dass auch sehr viele Hutu dem Morden zum Opfer gefallen seien, denn längst nicht alle Hutu seien mit dem Massenmord einverstanden gewesen. In einem späteren Kapitel beschreibt er die Vorgeschichte des Konflikts zwischen den Ethnien, der weit in die Vergangenheit, noch in vorkoloniale Zeiten, zurückreicht. Jahrhundertelang hatte die Tutsi-Minderheit das Sagen, auf die sich später auch die belgische Kolonialmacht stützte. Das verstärkte die Spannungen.
Dem Autor, der zahlreiche Beiträge zum Völkerrecht verfasst hat, geht es in dem Buch jedoch um mehr als die Erinnerung an den Völkermord und die äußerst schwierige juristische Aufarbeitung ("eine verpasste Chance"). Das verrät schon der Untertitel "Vom Vorhof der Hölle zum Modell für Afrika - Wahrheit und Schein in Ruanda". Ruanda wird manchmal mit dem Etikett "die Schweiz Afrikas" versehen, weil die Straßen in der Hauptstadt Kigali pieksauber sind, weil die Verwaltung funktioniert und sich die Menschen kaum über Kriminalität Gedanken machen müssen. International ist das Land ein umworbener Partner in Afrika, ob es um Impfstoffproduktion, UN-Friedensmissionen oder um die mögliche Aufnahme von Asylbewerbern geht.
Hankel spricht von einer "eindrucksvollen Bilanz", blickt aber auch hinter die glatte Fassade des von Präsident Paul Kagame mit harter Hand geführten Staates, erwähnt die Verfolgung von Oppositionellen, schreibt an einer Stelle von einem "beinahe totalitären Zugriff auf die Bevölkerung". Das wirft grundsätzliche Fragen auf wie diejenige, ob wirtschaftliche Entwicklung auch zulasten demokratischer Werte Priorität haben darf oder: "Wie viel Unrecht verträgt der Fortschritt?" Dass die Antwort darauf nicht leicht ist, zeigt die Kapitellänge von 13 Seiten.
Zum Schluss kehrt das zu Debatten anregende Buch zu jenem 6. April zurück. Wer die Täter waren, ist ungeklärt. "Ein Gewirr aus Wahrheit und Lügen" umgebe den Abschuss des Flugzeugs, stellt Hankel fest. Tatsächlich treibe die Frage aber auch niemanden mehr um. Im "neuen Ruanda" nach dem Völkermord hätten die Menschen schlicht andere Sorgen. CLAUDIA BRÖLL
Gerd Hankel: "Ruanda 1994 bis heute.
Vom Vorhof der Hölle zum Modell für Afrika - Wahrheit und Schein in Ruanda". zu Klampen! Verlag, Springe, 180 S., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Buch über den Völkermord in Ruanda vor 30 Jahren und die Folgen für das afrikanische Land
Nach dem Tod der Präsidenten von Burundi und Ruanda droht ein Bürgerkrieg" lautete die Überschrift in der F.A.Z. am 8. April 1994. Zwei Tage zuvor war ein Flugzeug mit dem ruandischen Präsidenten Juvenal Habyarimana und seinem burundischen Amtskollegen Cyprien Ntaryamira über Kigali abgeschossen worden. Dass dieses Ereignis zu einer der größten Tragödien in der jüngeren Geschichte führen sollte, war noch nicht zu erahnen. Doch schon einen Tag nach dem Abschuss begann ein rasend schneller Völkermord. In 100 Tagen, zwischen April und Juli, wurden in Ruanda Hunderttausende Menschen auf bestialische Weise umgebracht. Die Opfer waren vor allem Tutsi, die Täter stammten wie der getötete Präsident aus der Bevölkerungsgruppe der Hutu, der mit Abstand größten des Landes. Sie hatte nach der Unabhängigkeit des Landes das Sagen.
An das dunkle Kapitel der Geschichte wird in Ruanda jedes Jahr gedacht. In diesem Jahr, zum 30. Jahrestag des Beginns des Völkermordes, ist die Aufmerksamkeit besonders groß. Die Zeitung "New Times" kündigte hochrangige internationale Besucher an, aus den Vereinigten Staaten wird Bill Clinton mit einer Delegation anreisen. Für Clinton ist es ein schwieriger Besuch, denn die Vereinigten Staaten wie die übrige internationale Gemeinschaft hatten damals nichts unternommen, um den Völkermord effektiv zu stoppen.
"Nicht einmal eine Stunde später waren Straßensperren errichtet und die Todesschwadronen begannen, gezielt Menschen zu ermorden", so beschreibt Gerd Hankel in einer überarbeiteten Neuauflage seines 2019 erschienenen Buchs "Ruanda. 1994 bis heute", wie sich die Ereignisse danach überschlugen. Der deutsche Völkerrechtler hat das Land seit 2002 mehrere Male bereist, hat dort mit Männern, Frauen, Kindern gesprochen, hat die vielen Gedenkstätten besucht, an den jährlichen Trauerfeiern teilgenommen und sich mit Geschichte und Kultur intensiv befasst.
In packender Weise beschreibt er in diesem Buch zunächst wie in einer Reportage seine Eindrücke, faktenreich, präzise, aber trotzdem nah an den Menschen. Das Ausmaß der Gewalt ist bis heute nicht vorstellbar. Doch aus den Schilderungen seiner Gesprächspartner erhält der Leser ein vielschichtiges Bild der Ereignisse, der Angst, der Fassungslosigkeit und die heutige Sicht vieler Menschen in einem Land, das Touristen meist nur wegen der dort lebenden Gorillas besuchen.
30 Jahre später wird Ruandas Genozid häufig holzschnittartig dargestellt, vor allem Szenen aus dem Kinofilm "Hotel Ruanda" dürften viele noch im Gedächtnis haben. Wie komplex die Hintergründe dieses Völkermords gewesen sind, lässt sich erahnen, wenn der Autor etwa gleich zu Beginn des Buches erwähnt, dass auch sehr viele Hutu dem Morden zum Opfer gefallen seien, denn längst nicht alle Hutu seien mit dem Massenmord einverstanden gewesen. In einem späteren Kapitel beschreibt er die Vorgeschichte des Konflikts zwischen den Ethnien, der weit in die Vergangenheit, noch in vorkoloniale Zeiten, zurückreicht. Jahrhundertelang hatte die Tutsi-Minderheit das Sagen, auf die sich später auch die belgische Kolonialmacht stützte. Das verstärkte die Spannungen.
Dem Autor, der zahlreiche Beiträge zum Völkerrecht verfasst hat, geht es in dem Buch jedoch um mehr als die Erinnerung an den Völkermord und die äußerst schwierige juristische Aufarbeitung ("eine verpasste Chance"). Das verrät schon der Untertitel "Vom Vorhof der Hölle zum Modell für Afrika - Wahrheit und Schein in Ruanda". Ruanda wird manchmal mit dem Etikett "die Schweiz Afrikas" versehen, weil die Straßen in der Hauptstadt Kigali pieksauber sind, weil die Verwaltung funktioniert und sich die Menschen kaum über Kriminalität Gedanken machen müssen. International ist das Land ein umworbener Partner in Afrika, ob es um Impfstoffproduktion, UN-Friedensmissionen oder um die mögliche Aufnahme von Asylbewerbern geht.
Hankel spricht von einer "eindrucksvollen Bilanz", blickt aber auch hinter die glatte Fassade des von Präsident Paul Kagame mit harter Hand geführten Staates, erwähnt die Verfolgung von Oppositionellen, schreibt an einer Stelle von einem "beinahe totalitären Zugriff auf die Bevölkerung". Das wirft grundsätzliche Fragen auf wie diejenige, ob wirtschaftliche Entwicklung auch zulasten demokratischer Werte Priorität haben darf oder: "Wie viel Unrecht verträgt der Fortschritt?" Dass die Antwort darauf nicht leicht ist, zeigt die Kapitellänge von 13 Seiten.
Zum Schluss kehrt das zu Debatten anregende Buch zu jenem 6. April zurück. Wer die Täter waren, ist ungeklärt. "Ein Gewirr aus Wahrheit und Lügen" umgebe den Abschuss des Flugzeugs, stellt Hankel fest. Tatsächlich treibe die Frage aber auch niemanden mehr um. Im "neuen Ruanda" nach dem Völkermord hätten die Menschen schlicht andere Sorgen. CLAUDIA BRÖLL
Gerd Hankel: "Ruanda 1994 bis heute.
Vom Vorhof der Hölle zum Modell für Afrika - Wahrheit und Schein in Ruanda". zu Klampen! Verlag, Springe, 180 S., 18,- Euro.
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