Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Das heutige Ruanda, treffend beschrieben von dem Völkerrechtler Gerd Hankel
Ruanda gilt heute als einer der Vorzeigestaaten Afrikas. Die Hauptstadt Kigali wächst in atemberaubendem Tempo. Die Streitkräfte wurden modernisiert und gehören zu den schlagkräftigsten des Kontinents. Sie sind auch für Einsätze der Vereinten Nationen unverzichtbar. Die Verfassung garantiert die Achtung der Menschenrechte. Das Land war sogar Gastgeber des Weltklimagipfels und empfing Vertreter von mehr als 150 Nationen. Präsident Paul Kagame führt das Land mit eiserner Hand und steht zugleich für ein neues afrikanisches Selbstbewusstsein. Kritik an seinem harschen Umgang mit der Opposition kontert er mit dem Verweis, dass die reiche Welt ihr Urteil ständig über das der Afrikaner stelle.
Vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten, im Frühjahr 1994, war Ruanda die Hölle auf Erden. Achthunderttausend bis eine Million Tote, vor allem Angehörige des Volkes der Tutsi, zumeist brutal abgeschlachtet, in einem Zeitraum von nur drei Monaten: Das ist die unfassbare Dimension des Völkermordes in diesem zentralafrikanischen Land. Als die Weltöffentlichkeit endlich begriff, was sich im zuvor oft als "Schweiz Afrikas" charakterisierten Ruanda abspielte, war es zu spät. Die Regierungen in Washington, London oder Paris hatten seinerzeit andere Sorgen, etwa die Entwicklungen auf dem Balkan. Und in Südafrika fanden die ersten freien Wahlen nach dem Ende der Apartheid statt und schienen von einer blühenden Zukunft des gesamten Kontinents zu künden. Endlich einmal gute Nachrichten aus Afrika, da störte Ruanda nur.
Rassismus spielte beim Nichthinsehen ebenfalls eine Rolle. Bis heute unvergessen ist der zynische Ausspruch des damaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand: "In Ländern wie diesen ist ein Genozid nicht so bedeutsam." Der von Tutsi unter Paul Kagame geführten Rebellenarmee "Ruandische Patriotische Front" gelang nach drei Monaten der militärische Sieg gegen die Völkermörder. Mehrere Millionen Hutu - Zivilisten, aber auch Drahtzieher des Genozids - flohen in die Nachbarländer, wo sie unter oft katastrophalen Bedingungen in Flüchtlingslagern hausten. Parallel fielen zahllose humanitäre Helfer und Polittouristen in Ruanda ein.
Der Völkerrechtler Gerd Hankel beschreibt in seinem vorzüglichen Buch das heutige Ruanda als ein Land, in dem die einst über Leben und Tod entscheidende Frage, wer Hutu ist und wer Tutsi, vermeintlich keine Bedeutung mehr hat. Dies sei ganz im Sinne der Regierung, die proklamiert: "Wir sind alle Ruander." Diese Beobachtung macht der Autor nicht allein für die prosperierende Hauptstadt, sondern ebenso für ländliche Regionen. Überall herrsche eine scheinbar unspektakuläre Normalität, nicht selten gar eine Art Stolz über die Fortschritte, die das Land etwa in der Infrastruktur, im Gesundheitswesen und im Bildungsbereich gemacht hat.
Vom Völkermord sei nicht die Rede. Zugleich ist, wie Hankel berichtet, die Erinnerung an den Genozid allgegenwärtig. In Kigali weisen zahlreiche Hinweisschilder auf die zentrale Genozidgedenkstätte Gisozi hin, wo Gebeine von rund 250 000 Opfern in großen Kammern bestattet sind und Texte sowie Bilderreihen Entstehung und Verlauf des Völkermordes erklären. Tafeln an öffentlichen Gebäuden und größeren Hotels listen die Namen dort ehemals Beschäftigter aus, die im Frühjahr 1994 ermordet wurden. Und auf dem Land gibt es, schreibt der Autor, kein größeres Dorf, in dem nicht in einen Gebäude - nicht selten unter Zurschaustellung von Gebeinen und Tötungsinstrumenten - oder auf einem Stein der lokalen Völkermord-Toten gedacht wird.
Handelt es sich hier um Zeichen einer gelungenen Aufarbeitung? Sind die Menschen in Ruanda auf dem besten Wege zur Versöhnung? Große internationale Beachtung erlangte in diesem Zusammenhang ein einzigartiges ruandisches rechtliches Instrument, Gacaca, das Henkel detailliert beschreibt. Es steht für eine Form der Justiz, die ohne öffentliche Anklage und ohne professionelle Verteidigung, lediglich in Anwesenheit der betroffenen Parteien und der lokalen Bevölkerung, Recht spricht. Oberstes Ziel ist die Wiederherstellung des sozialen Friedens, erst dann geht es um die Bestrafung des Täters. Rund eine Million Menschen, überwiegend Hutu-Männer, mussten sich zwischen 2002 und 2012 einer Anklage stellen. Je früher ein Täter gestand, desto geringer fiel die Strafe aus. Selbst ein mehrfacher Mörder konnte auf diese Weise zu einer Freiheitsstrafe von lediglich acht Jahren verurteilt werden, wenn die Opfer beziehungsweise Überlebenden ihm ein vollständiges Geständnis sowie die aufrichtige Bitte um Verzeihung bescheinigten.
Beim von vielen ausländischen Beobachtern gepriesenen Gacaca handelte es sich jedoch - wie Hankel differenziert ausführt - um ein "ambivalentes Unternehmen". In zahllosen Gesprächen über viele Jahre begegnete er immer wieder dem Vorwurf, Gacaca sei eine einseitige Justiz gewesen, die geholfen habe, den Völkermord politisch, justiziell und militärisch zu instrumentalisieren, um die Herrschaft einer Minderheit zu sichern. Diese Kritik verbindet sich mit massiven Vorwürfen gegen Kagame. Zahlreiche Ruander sind gar davon überzeugt, Opfer eines teuflischen Plans geworden zu sein. Demnach sollen diejenigen Tutsi um Kagame, die sich als Befreier des Landes von einem völkermörderischen Hutu-Regime präsentieren und daraus den unbedingten moralischen Anspruch für die Gestaltung seiner Zukunft herleiten, aus reinem Machtinteresse Krieg und Massenmord willentlich herbeigeführt haben. Dieser ungeheure Vorwurf findet Unterstützung bei Roméo Dallaire, während des Genozids Kommandeur der UN-Friedensmission in Ruanda. "Mir stellte sich", schrieb er in seinem fulminanten Buch "Handschlag mit dem Teufel", "unversehens die bittere Frage, ob der Feldzug und Völkermord nicht orchestriert worden war, um den Weg frei zu machen für eine Rückkehr Ruandas zum Status quo vor 1959, wo die Tutsi allein das Sagen hatten."
Hankel stellt klar, dass es Unsinn wäre, Kagame und seine Befreiungsarmee als die eigentlichen Täter des Genozids zu konstruieren. "Die Hutu, die getötet und den Völkermord begangen haben, waren keine willenlosen Werkzeuge eines abgefeimten Kriegsgegners. Sie wussten, was sie taten." Seine wohltuend sachliche und fundierte Analyse lässt die herrschende Clique um Präsident Kagame gleichwohl äußerst zwielichtig erscheinen und Verantwortung für die dramatische Zuspitzung der Ereignisse 1994 tragen. Überdies legt der Autor eindringlich dar, wie wenig es der herrschenden Partei von Kagame um Aufarbeitung und Versöhnung geht. Ihnen ist es vielmehr um die Durchsetzung eines Geschichtsbildes zu tun, das keinen Widerspruch duldet. Er bezeichnet dies als "Gründungslüge" des neuen Staates. Hinter der mustergültigen Fassade, so Hankel, verbirgt sich ein totalitäres Regime, in dem nur eine kleine regierungsnahe Gruppe vom wirtschaftlichen Fortschritt profitiert. Ausgrenzung, Unterdrückung und Überwachung haben ein Klima entstehen lassen, "das lähmt, entmündigt und Angst macht".
ANDREAS ECKERT
Gerd Hankel: Ruanda. Leben und Neuaufbau nach dem Völkermord. Wie Geschichte gemacht und zur offiziellen Wahrheit wird. Zu Klampen Verlag, Springe 2016. 487 S., 24,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH