Als sein Vater stirbt, reist Didier Eribon in seine Heimatstadt, die er jahrzehntelang gemieden hat. Gemeinsam mit seiner Mutter sieht er sich Familienfotos an und macht sich auf eine Erinnerungsreise in die eigene Vergangenheit. Dabei stößt er auf die blinden Flecke der Gesellschaft: die Ausgrenzungsmechanismen eines Bürgertums, dem er als Intellektueller inzwischen selbst angehört. Brillant verknüpft Eribon das autobiografische Schreiben und seine persönlichen Bekenntnisse mit scharfsinniger soziologischer Reflexion. Er beschreibt die Homophobie und den »volkstümlichen Alltagsrassismus« seines Herkunftsmilieus, seine eigenen Erfahrungen als Homosexueller mit Stigmatisierung und Gewalt und beleuchtet den politischen Rechtsruck einer einst kommunistischen Arbeiterklasse.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Robin Celikates liest Didier Eribons Selbstbefragung aus dem Jahr 2009 in "gekonnter" Übersetzung mit Genuss. Die schonungslose Klarheit und soziologisch kontrollierte, mit Foucault, Bourdieu und James Baldwin vorgenommene Introspektion seines Werdegangs vom homosexuellen Arbeiterkind zum Pariser Intellektuellen hat den Rezensenten beeindruckt. Sichtbar wird laut Celikates eine soziale Realität, die den Autor formt, soziale Erfahrungen, unsichtbare Formen der Gewalt. Für den Rezensenten leistet Eribon damit im Bewusstsein der Paradoxien der eigenen Position eine soziologische wie literarische "Politik der Wahrheit", wie sie die französische Linke nicht einzulösen vermochte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.2016Das Versagen der Eliten vor den einfachen Leuten
Didier Eribons und Paul B. Preciados erregende Biographien sind zugleich eine Theorie über den blinden Fleck der Gegenwart: das verlorene Bewusstsein für soziale Lagen
Als der Soziologe Didier Eribon nach dem Tod und der Beerdigung seines Vaters sich endlich entschließt, seine Mutter zu besuchen, überfällt ihn eine ganz besondere Scham. Eribon, hierzulande vor allem als Autor einer schon klassischen und immer noch maßgeblichen Biographie Michel Foucaults bekannt, ist 1953 in Reims in das alte Arbeitermilieu hineingeboren worden. Ein Milieu, dem der heute in Frankreich fernsehbekannte Professor und öffentliche Intellektuelle erfolgreich entflohen war, wie er bis zu diesem Moment im Haus seiner Eltern, neben seiner Mutter sitzend, über alte Familienfotos gebeugt, selbst dachte.
Entsetzt muss er feststellen, wie unmittelbar die in der Vergangenheit fotografierten Körper, viel mehr noch als bewegte oder leibhaftig vor uns stehende, ihm als soziale Körper, als "Körper einer Klasse" buchstäblich ins Auge springen. Aus den Physiognomien der Häuser im Hintergrund der Fotos, aus den Inneneinrichtungen, aus den Klamotten, aus den Körpern selbst lässt sich nichts anderes lesen, als dass der öffentlich zu allen möglichen politischen und gesellschaftlichen Themen befragte Intellektuelle Didier Eribon ein Kind genau dieses Arbeitermilieus, dieses Arbeiterelends ist.
Und als er vor den Fotos die Tatsache seiner Herkunft nicht mehr übersehen kann, kriecht ihm die ganz besondere Scham, die "soziale Scham", wie Eribon sie nennt, den Rücken hoch. Eribon beschreibt den Punkt der Aktivierung der sozialen Scham in sich so unaufgeregt klar, dass man im ersten Moment gar nicht merkt, dass hier nicht nur der Schlüssel zum Verständnis einer persönlichen Verstörung liegt. Eribon fügt sich mit seiner Verwischung oder, genauer: Verschleierung seiner Herkunft in die allgemeine Geschichte Frankreichs ein, seine scheinbar nur biographischen Notizen fügen sich in den allgemeinen Gang der französischen Gesellschaft. Eribons Biographie wird exemplarisch für das Versagen der Eliten vor den "einfachen Leuten", den Arbeitern, die heute keine Arbeit mehr haben wie sein älterer Bruder. Während Didier als "Allererster" seiner Familie das Gymnasium besuchen darf, bricht der Bruder die Schule ab, macht eine Metzgerlehre und lebt heute in Belgien von der Sozialhilfe. Das Tragen der Schweine- und Rinderhälften hat seine Schulter ruiniert, so dass er auch keine anderen Arbeiten mehr ausführen kann. In den letzten Jahren war er wie auch die jüngeren Brüder Didiers ein treuer Anhänger des Front National (FN) von Marine Le Pen.
Der Schock, der Eribon angesichts des vom FN beherrschten Milieus bei seiner Rückkehr nach Reims in Körper und Hirn fährt, hat aber nicht nur damit zu tun, dass das Reims seiner Kindheit in den 1950er und 60er Jahren wie selbstverständlich "kommunistisch" gewesen war, in dem Sinn, "dass die Bindung an die Kommunistische Partei als eine Art politisches Ordnungsprinzip den Horizont des Verhältnisses zur Politik überhaupt bestimmte", wie er schreibt. Sein Schock folgt vielmehr aus der tieferen Einsicht in seinen eigenen Anteil am Verrat der "einfachen Leute" - und das, obwohl er sich als Linker, als Verfechter emanzipatorischer Politiken begreift.
Eribon realisiert erst auf dem Sofa seiner Mutter, dass seine Emanzipation aus dem Arbeitermilieu substantiell ein Teil der Geschichte des ewigen Siegs der Herrschenden über die Beherrschten ist. Die Zeitbombe, die er gerade jetzt, aktuell, damit zündet, hat vor allem damit zu tun, dass Eribon weltweit als einer der Soziologen und Denker homosexueller beziehungsweise schwuler, also männlich-minoritärer Subjektivierungsprozesse gilt. Sein Erfolg, seine "Klassenflucht" verdankt sich nämlich wesentlich seiner bewussten Homosexualität. Und so, wie Eribon seine Abwanderung aus seinem Herkunftsmilieu beschreibt, bleibt sie in ihrer Klarheit in jedem Moment nachvollziehbar. Als trotzkistischer Gymnasiast fällt es ihm leicht, von der "Arbeiterklasse" und von der "permanenten Revolution" zu schwärmen, nur im Umgang mit konkreten Arbeitern, also auch seiner Familie, wird es schwierig. Die in jedem Gespräch anklingenden rassistischen Bemerkungen und homophoben Anspielungen nerven. Dabei ist die flächendeckende Homophobie der Arbeiterklasse keine neue Erkenntnis Eribons; die britische Popjournalistin Julie Burchill hat in den frühen 1980er Jahren gegen die allzu arbeiterfreundliche Poplinke schneidend genaue Berichte von der Homophobie der britischen Gewerkschaften und des linken Flügels der Labour Party geliefert, die auch die neuen homophoben Ausfälle wieder linker Labourpolitiker immer noch sehr gut erklären.
Neu an Eribons Text ist die Beschreibung seiner Sprachverwandlung und der damit einhergehende Weg eines jeden bewussten jungen Homosexuellen in die Großstadt Paris als Einstieg in seinen Aufstieg. Sein Buch wird schon in den paar supergenauen Beschreibungen seiner Sprachverwandlung zu einem Meisterwerk. "Auch das Sprechen", schreibt er, "musste ich von Grund auf neu lernen: fehlerhafte Aussprachen oder Wendungen korrigieren, Regionalismen verlernen (nicht länger sagen, dass ein Apfel ,stolz', sondern dass er ,sauer' ist), den Zungenschlag sowohl des Nordostens als auch der Arbeiterschicht ablegen, mir ein feineres Vokabular und präzisere grammatische Konstruktionen angewöhnen - kurz: Ich musste meine Sprache und meine Ausdrucksweise permanent überwachen." Und das gelingt ihm so gut, dass niemand in Paris mehr seine Herkunft auch nur ahnt und er zum Starintellektuellen wird, der selber sein ganzes Leben als schwul begreift: "Ein schwules Kind, ein schwuler Heranwachsender, kein Arbeiterkind." Bis er eben neben seiner Mutter auf dem Sofa sitzt und ihm die schamvolle Erkenntnis kommt, dass es ihm immer leichter gefallen ist, über sexuelle Scham zu schreiben als über soziale. Was dann folgt, ist die eigentliche Ungeheuerlichkeit der empirisch-theoretischen Analyse seiner Biographie angesichts seines Erfolgs. Es erscheint ihm, als sei die Untersuchung der Konstitution homosexueller und anderer minoritärer Subjektivitäten "mit ihren komplexen Mechanismen des Sich-Verschweigens und Sich-Bekennens heute geachtet und achtbar, ja politisch gewollt, wenn es dabei um Sexualität geht, als sei sie aber höchst problematisch und in den Kategorien des öffentlichen Diskurses so gut wie gar nicht vertreten, wenn sie die Herkunft aus einer niedrigen sozialen Schicht zum Thema hat".
Eribons Buch ist die unter dieser These sehr klar zur historischen und theoretischen Analyse geformte Biographie, die zu erfassen versucht, wie gerade unter den Beschreibungen minoritärer Subjektivierungsprozesse die soziale Frage auf eine Weise verschwinden konnte, dass sie die Abgehängten von Reims unter dem Siegel emanzipatorischer Mikropolitiken noch einmal abhängte.
In diesem Punkt verschränkt sich Eribons "Rückkehr nach Reims", im französischen Original bereits 2009 erschienen, mit einem anderen gerade ins Deutsche übertragenen Buch auf ebenso ungeheuerliche Weise: mit Paul B. Preciados "Testo Junkie". Preciado ist 1970 im spanischen Burgos als Beatriz Preciado geboren. Die Automobilindustrie boomte noch. Ihr Vater betrieb die erste und größte Autowerkstatt in Burgos, "einer gotischen Stadt voller Pfarrer und Militärs". Für General Franco, den Diktator Spaniens, war Burgos die symbolische Hauptstadt des faschistischen Spaniens. Die "Garage Centrale", die Werkstatt des Vaters, lag in der Rue du General Mola, benannt nach dem Anführer des Aufstands gegen das republikanische Spanien 1936. Die Kunden des Vaters sind die Reichen und Würdenträger des Franco-Regimes. "Zu Hause gab es keine Bücher, nur Autos", heißt es in einer der vielen knappklaren Situationsbeschreibungen. Dafür muss es die Oldtimersammlung des Vaters in sich gehabt haben, sie reicht von einem schwarzen Mercedes "Lola Flores" bis zu einem Citroën von 1928 mit seinem "Froscharsch" und einem Cadillac mit acht Zylindern. Alt wurde die Sammlung aber nicht, der Vater hatte sein Geld in eine Fabrik zur Ziegelherstellung investiert, mit der es in der Erdölkrise von 1975 bergab ging, zufälligerweise gleichzeitig mit der Diktatur Francos. "Am Ende konnte er den Konkurs seiner Fabrik nur abwenden, indem er seine Autosammlung verkaufte", schreibt Preciado und fährt fort: "Da habe ich geweint. Zwischenzeitlich wuchs ich auf als eine Art Tomboy. Darüber hat mein Vater geweint."
Es ist nur eine Seite, auf der Preciado ihre Herkunft aus der spanischen Mittelschicht des Franco-Regimes, ihre Technikaffinität und die Tatsache, dass sie sich nie als die Frau oder das Mädchen fühlte, als das man sie benannt und damit definiert hatte, beschreibt. Wobei die schlichte Schönheit der Sprache mit der der Autos korrespondiert. Die Automobilindustrie hatte eine eigene Form der Produktion und des Konsums erzeugt und definiert, "eine sleeke, polychrome Ästhetik der unbelebten Objekte, eine spezifische Weise, den Innenraum zu denken und die Stadt zu bewohnen, eine konfliktuelle Aufteilung zwischen Körper und Maschine, einen diskontinuierlichen Strom der Wünsche und des Widerstands", wie es heißt. Formen und Zustände, die man Preciado noch mit in die Wiege gelegt hatte, denen aber nicht erst seit der Energiekrise der 70er Jahre bestimmt nicht die Zukunft gehört. Die globale Ökonomie begann ihre neuen Wachstumsfelder in biochemischen, elektronischen und digitalen Industrien ebenso zu suchen wie auf dem weiten Feld der Kommunikation. Es sei allerdings aussichtslos, meint Preciado, zu versuchen, mit den Diskursen dieser neuen Wachtstumsindustrien das Neue, das die Wertschöpfung der Gesellschaften bis heute tiefgreifend verändert und die Transformation des Lebens beschleunigt, zu erklären. Die für Preciado grundlegende Frage - "Wie konnte Geschlecht und Sexualität zum zentralen politischen und ökonomischen Einsatz werden?" - kann aus den Spezialdiskursen heraus nicht beantwortet werden. Das kann nur eine körperpolitische Analyse der Weltökonomie. Und Preciados Buch ist die Prolegomena zu einer körperpolitischen Analyse der Weltökonomie unter dem Einsatz des eigenen Körpers, angereichert um die auch klassischen Texte der Philosophiegeschichte.
Denn auf dem Weg von Beatriz zu Paul B. Preciado kamen auch die Bücher in ihr Leben und damit auch Baruch de Spinozas Feststellung, dass wir nicht wissen, was der Körper vermag. Eine Frage, die sich noch dringlicher stellt, wenn man bemerkt, dass der eigene Körper nicht so ist, wie einem immer gesagt wurde, dass er sei.
Wie kommt man also aus dem Körper heraus, von dem man merkt, dass er nicht das ist, was Väter, Ärzte und Ämter einem sagen? Preciados konkreten Weg kann man 1998 mit einem Drag-King-Workshop in New York beginnen lassen. Dort ging es unter anderem darum, diesen Status von Männlichkeit zu erlernen, "der gebraucht wird, um zur herrschenden Klasse zu gehören". Macht, hatte Foucault gesagt, existiere nicht außerhalb der Techniken, die in ihrer Theatralisierung eingesetzt werden. Und die Performance einer übertriebenen Maskulinität funktioniert auch bei Preciado gut, bis sie an der Universität von Santiago de Chile selbst einen Drag-King-Workshop gibt - und eine Hörerin sie als "Repräsentantin der heteropatriarchalen und kolonialen Ordnung" angreift.
Zweifelsfrei ist Preciado weiß, spanisch und mit einem Doktortitel der Universität Princeton ausgezeichnet. Was dann aber aus dem heftigen Streit folgt, kann man als kollektive Wiederaneignung des öffentlichen Raums als agonistisches Feld direkter argumentativer Auseinandersetzung beschreiben. Fast schon als Utopie: 35 Frauen arbeiteten an diesem Wintertag im August in Santiago de Chile am Drag-King-Werden. Es waren militante Mütter aus der feministischen Linken der Allende-Zeit, und mit ihnen kamen Großmütter, Töchter und Nichten. Manche sind ältere Lesben, dazu Paare, Frauen aus der "working poor", die niemals das Land verlassen hatten, auch Mädchen aus der Bourgeoisie, die später an amerikanischen Universitäten studieren würden. Und der Witz bei der Sache war, dass es nach dem Streit nicht mehr um männliche Herrschaft und weibliche Unterwerfung ging, sondern um den Widerstand gegen die Herrschaft im Allgemeinen: um die Weigerung aufzugeben.
CORD RIECHELMANN.
Didier Eribon: "Rückkehr nach Reims". Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Edition Suhrkamp, Berlin 2016, 238 Seiten Paul B. Preciado: "Testo Junkie". Aus dem Französischen von Stephan Geene. b_books, Berlin 2016, 455 Seiten
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Didier Eribons und Paul B. Preciados erregende Biographien sind zugleich eine Theorie über den blinden Fleck der Gegenwart: das verlorene Bewusstsein für soziale Lagen
Als der Soziologe Didier Eribon nach dem Tod und der Beerdigung seines Vaters sich endlich entschließt, seine Mutter zu besuchen, überfällt ihn eine ganz besondere Scham. Eribon, hierzulande vor allem als Autor einer schon klassischen und immer noch maßgeblichen Biographie Michel Foucaults bekannt, ist 1953 in Reims in das alte Arbeitermilieu hineingeboren worden. Ein Milieu, dem der heute in Frankreich fernsehbekannte Professor und öffentliche Intellektuelle erfolgreich entflohen war, wie er bis zu diesem Moment im Haus seiner Eltern, neben seiner Mutter sitzend, über alte Familienfotos gebeugt, selbst dachte.
Entsetzt muss er feststellen, wie unmittelbar die in der Vergangenheit fotografierten Körper, viel mehr noch als bewegte oder leibhaftig vor uns stehende, ihm als soziale Körper, als "Körper einer Klasse" buchstäblich ins Auge springen. Aus den Physiognomien der Häuser im Hintergrund der Fotos, aus den Inneneinrichtungen, aus den Klamotten, aus den Körpern selbst lässt sich nichts anderes lesen, als dass der öffentlich zu allen möglichen politischen und gesellschaftlichen Themen befragte Intellektuelle Didier Eribon ein Kind genau dieses Arbeitermilieus, dieses Arbeiterelends ist.
Und als er vor den Fotos die Tatsache seiner Herkunft nicht mehr übersehen kann, kriecht ihm die ganz besondere Scham, die "soziale Scham", wie Eribon sie nennt, den Rücken hoch. Eribon beschreibt den Punkt der Aktivierung der sozialen Scham in sich so unaufgeregt klar, dass man im ersten Moment gar nicht merkt, dass hier nicht nur der Schlüssel zum Verständnis einer persönlichen Verstörung liegt. Eribon fügt sich mit seiner Verwischung oder, genauer: Verschleierung seiner Herkunft in die allgemeine Geschichte Frankreichs ein, seine scheinbar nur biographischen Notizen fügen sich in den allgemeinen Gang der französischen Gesellschaft. Eribons Biographie wird exemplarisch für das Versagen der Eliten vor den "einfachen Leuten", den Arbeitern, die heute keine Arbeit mehr haben wie sein älterer Bruder. Während Didier als "Allererster" seiner Familie das Gymnasium besuchen darf, bricht der Bruder die Schule ab, macht eine Metzgerlehre und lebt heute in Belgien von der Sozialhilfe. Das Tragen der Schweine- und Rinderhälften hat seine Schulter ruiniert, so dass er auch keine anderen Arbeiten mehr ausführen kann. In den letzten Jahren war er wie auch die jüngeren Brüder Didiers ein treuer Anhänger des Front National (FN) von Marine Le Pen.
Der Schock, der Eribon angesichts des vom FN beherrschten Milieus bei seiner Rückkehr nach Reims in Körper und Hirn fährt, hat aber nicht nur damit zu tun, dass das Reims seiner Kindheit in den 1950er und 60er Jahren wie selbstverständlich "kommunistisch" gewesen war, in dem Sinn, "dass die Bindung an die Kommunistische Partei als eine Art politisches Ordnungsprinzip den Horizont des Verhältnisses zur Politik überhaupt bestimmte", wie er schreibt. Sein Schock folgt vielmehr aus der tieferen Einsicht in seinen eigenen Anteil am Verrat der "einfachen Leute" - und das, obwohl er sich als Linker, als Verfechter emanzipatorischer Politiken begreift.
Eribon realisiert erst auf dem Sofa seiner Mutter, dass seine Emanzipation aus dem Arbeitermilieu substantiell ein Teil der Geschichte des ewigen Siegs der Herrschenden über die Beherrschten ist. Die Zeitbombe, die er gerade jetzt, aktuell, damit zündet, hat vor allem damit zu tun, dass Eribon weltweit als einer der Soziologen und Denker homosexueller beziehungsweise schwuler, also männlich-minoritärer Subjektivierungsprozesse gilt. Sein Erfolg, seine "Klassenflucht" verdankt sich nämlich wesentlich seiner bewussten Homosexualität. Und so, wie Eribon seine Abwanderung aus seinem Herkunftsmilieu beschreibt, bleibt sie in ihrer Klarheit in jedem Moment nachvollziehbar. Als trotzkistischer Gymnasiast fällt es ihm leicht, von der "Arbeiterklasse" und von der "permanenten Revolution" zu schwärmen, nur im Umgang mit konkreten Arbeitern, also auch seiner Familie, wird es schwierig. Die in jedem Gespräch anklingenden rassistischen Bemerkungen und homophoben Anspielungen nerven. Dabei ist die flächendeckende Homophobie der Arbeiterklasse keine neue Erkenntnis Eribons; die britische Popjournalistin Julie Burchill hat in den frühen 1980er Jahren gegen die allzu arbeiterfreundliche Poplinke schneidend genaue Berichte von der Homophobie der britischen Gewerkschaften und des linken Flügels der Labour Party geliefert, die auch die neuen homophoben Ausfälle wieder linker Labourpolitiker immer noch sehr gut erklären.
Neu an Eribons Text ist die Beschreibung seiner Sprachverwandlung und der damit einhergehende Weg eines jeden bewussten jungen Homosexuellen in die Großstadt Paris als Einstieg in seinen Aufstieg. Sein Buch wird schon in den paar supergenauen Beschreibungen seiner Sprachverwandlung zu einem Meisterwerk. "Auch das Sprechen", schreibt er, "musste ich von Grund auf neu lernen: fehlerhafte Aussprachen oder Wendungen korrigieren, Regionalismen verlernen (nicht länger sagen, dass ein Apfel ,stolz', sondern dass er ,sauer' ist), den Zungenschlag sowohl des Nordostens als auch der Arbeiterschicht ablegen, mir ein feineres Vokabular und präzisere grammatische Konstruktionen angewöhnen - kurz: Ich musste meine Sprache und meine Ausdrucksweise permanent überwachen." Und das gelingt ihm so gut, dass niemand in Paris mehr seine Herkunft auch nur ahnt und er zum Starintellektuellen wird, der selber sein ganzes Leben als schwul begreift: "Ein schwules Kind, ein schwuler Heranwachsender, kein Arbeiterkind." Bis er eben neben seiner Mutter auf dem Sofa sitzt und ihm die schamvolle Erkenntnis kommt, dass es ihm immer leichter gefallen ist, über sexuelle Scham zu schreiben als über soziale. Was dann folgt, ist die eigentliche Ungeheuerlichkeit der empirisch-theoretischen Analyse seiner Biographie angesichts seines Erfolgs. Es erscheint ihm, als sei die Untersuchung der Konstitution homosexueller und anderer minoritärer Subjektivitäten "mit ihren komplexen Mechanismen des Sich-Verschweigens und Sich-Bekennens heute geachtet und achtbar, ja politisch gewollt, wenn es dabei um Sexualität geht, als sei sie aber höchst problematisch und in den Kategorien des öffentlichen Diskurses so gut wie gar nicht vertreten, wenn sie die Herkunft aus einer niedrigen sozialen Schicht zum Thema hat".
Eribons Buch ist die unter dieser These sehr klar zur historischen und theoretischen Analyse geformte Biographie, die zu erfassen versucht, wie gerade unter den Beschreibungen minoritärer Subjektivierungsprozesse die soziale Frage auf eine Weise verschwinden konnte, dass sie die Abgehängten von Reims unter dem Siegel emanzipatorischer Mikropolitiken noch einmal abhängte.
In diesem Punkt verschränkt sich Eribons "Rückkehr nach Reims", im französischen Original bereits 2009 erschienen, mit einem anderen gerade ins Deutsche übertragenen Buch auf ebenso ungeheuerliche Weise: mit Paul B. Preciados "Testo Junkie". Preciado ist 1970 im spanischen Burgos als Beatriz Preciado geboren. Die Automobilindustrie boomte noch. Ihr Vater betrieb die erste und größte Autowerkstatt in Burgos, "einer gotischen Stadt voller Pfarrer und Militärs". Für General Franco, den Diktator Spaniens, war Burgos die symbolische Hauptstadt des faschistischen Spaniens. Die "Garage Centrale", die Werkstatt des Vaters, lag in der Rue du General Mola, benannt nach dem Anführer des Aufstands gegen das republikanische Spanien 1936. Die Kunden des Vaters sind die Reichen und Würdenträger des Franco-Regimes. "Zu Hause gab es keine Bücher, nur Autos", heißt es in einer der vielen knappklaren Situationsbeschreibungen. Dafür muss es die Oldtimersammlung des Vaters in sich gehabt haben, sie reicht von einem schwarzen Mercedes "Lola Flores" bis zu einem Citroën von 1928 mit seinem "Froscharsch" und einem Cadillac mit acht Zylindern. Alt wurde die Sammlung aber nicht, der Vater hatte sein Geld in eine Fabrik zur Ziegelherstellung investiert, mit der es in der Erdölkrise von 1975 bergab ging, zufälligerweise gleichzeitig mit der Diktatur Francos. "Am Ende konnte er den Konkurs seiner Fabrik nur abwenden, indem er seine Autosammlung verkaufte", schreibt Preciado und fährt fort: "Da habe ich geweint. Zwischenzeitlich wuchs ich auf als eine Art Tomboy. Darüber hat mein Vater geweint."
Es ist nur eine Seite, auf der Preciado ihre Herkunft aus der spanischen Mittelschicht des Franco-Regimes, ihre Technikaffinität und die Tatsache, dass sie sich nie als die Frau oder das Mädchen fühlte, als das man sie benannt und damit definiert hatte, beschreibt. Wobei die schlichte Schönheit der Sprache mit der der Autos korrespondiert. Die Automobilindustrie hatte eine eigene Form der Produktion und des Konsums erzeugt und definiert, "eine sleeke, polychrome Ästhetik der unbelebten Objekte, eine spezifische Weise, den Innenraum zu denken und die Stadt zu bewohnen, eine konfliktuelle Aufteilung zwischen Körper und Maschine, einen diskontinuierlichen Strom der Wünsche und des Widerstands", wie es heißt. Formen und Zustände, die man Preciado noch mit in die Wiege gelegt hatte, denen aber nicht erst seit der Energiekrise der 70er Jahre bestimmt nicht die Zukunft gehört. Die globale Ökonomie begann ihre neuen Wachstumsfelder in biochemischen, elektronischen und digitalen Industrien ebenso zu suchen wie auf dem weiten Feld der Kommunikation. Es sei allerdings aussichtslos, meint Preciado, zu versuchen, mit den Diskursen dieser neuen Wachtstumsindustrien das Neue, das die Wertschöpfung der Gesellschaften bis heute tiefgreifend verändert und die Transformation des Lebens beschleunigt, zu erklären. Die für Preciado grundlegende Frage - "Wie konnte Geschlecht und Sexualität zum zentralen politischen und ökonomischen Einsatz werden?" - kann aus den Spezialdiskursen heraus nicht beantwortet werden. Das kann nur eine körperpolitische Analyse der Weltökonomie. Und Preciados Buch ist die Prolegomena zu einer körperpolitischen Analyse der Weltökonomie unter dem Einsatz des eigenen Körpers, angereichert um die auch klassischen Texte der Philosophiegeschichte.
Denn auf dem Weg von Beatriz zu Paul B. Preciado kamen auch die Bücher in ihr Leben und damit auch Baruch de Spinozas Feststellung, dass wir nicht wissen, was der Körper vermag. Eine Frage, die sich noch dringlicher stellt, wenn man bemerkt, dass der eigene Körper nicht so ist, wie einem immer gesagt wurde, dass er sei.
Wie kommt man also aus dem Körper heraus, von dem man merkt, dass er nicht das ist, was Väter, Ärzte und Ämter einem sagen? Preciados konkreten Weg kann man 1998 mit einem Drag-King-Workshop in New York beginnen lassen. Dort ging es unter anderem darum, diesen Status von Männlichkeit zu erlernen, "der gebraucht wird, um zur herrschenden Klasse zu gehören". Macht, hatte Foucault gesagt, existiere nicht außerhalb der Techniken, die in ihrer Theatralisierung eingesetzt werden. Und die Performance einer übertriebenen Maskulinität funktioniert auch bei Preciado gut, bis sie an der Universität von Santiago de Chile selbst einen Drag-King-Workshop gibt - und eine Hörerin sie als "Repräsentantin der heteropatriarchalen und kolonialen Ordnung" angreift.
Zweifelsfrei ist Preciado weiß, spanisch und mit einem Doktortitel der Universität Princeton ausgezeichnet. Was dann aber aus dem heftigen Streit folgt, kann man als kollektive Wiederaneignung des öffentlichen Raums als agonistisches Feld direkter argumentativer Auseinandersetzung beschreiben. Fast schon als Utopie: 35 Frauen arbeiteten an diesem Wintertag im August in Santiago de Chile am Drag-King-Werden. Es waren militante Mütter aus der feministischen Linken der Allende-Zeit, und mit ihnen kamen Großmütter, Töchter und Nichten. Manche sind ältere Lesben, dazu Paare, Frauen aus der "working poor", die niemals das Land verlassen hatten, auch Mädchen aus der Bourgeoisie, die später an amerikanischen Universitäten studieren würden. Und der Witz bei der Sache war, dass es nach dem Streit nicht mehr um männliche Herrschaft und weibliche Unterwerfung ging, sondern um den Widerstand gegen die Herrschaft im Allgemeinen: um die Weigerung aufzugeben.
CORD RIECHELMANN.
Didier Eribon: "Rückkehr nach Reims". Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Edition Suhrkamp, Berlin 2016, 238 Seiten Paul B. Preciado: "Testo Junkie". Aus dem Französischen von Stephan Geene. b_books, Berlin 2016, 455 Seiten
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»... das Buch der Stunde, menschlich zutiefst berührend und aufschlussreich.« Michaela Maria Müller Frankfurter Rundschau 20161119