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Jürgen Theobaldy aktualisiert den Angestelltenroman
"Ich möchte lieber nicht", sagt der Kanzleischreiber Bartleby in Melvilles berühmter Erzählung zu seinem Chef, der ihm einen Auftrag erteilt, und der Schweizer Dichter Robert Walser sagte sinngemäß dasselbe, als er sich Ende der zwanziger Jahre aus der Gesellschaft ausklinkte, um den Rest seines Lebens in psychiatrischen Anstalten zu verbringen. Zuvor hatte Walser sich im deutschen Literaturbetrieb einen Namen gemacht.
Auch der 1944 geborene Lyriker und Romancier Jürgen Theobaldy trat nach dem Erfolg seiner Bücher, etwa "Sperrsitz" (1973) oder "Sonntags Kino" (1978), von der Berliner Bühne ab und übersiedelte nach Bern, wo er als Protokollant im Bundestag arbeitete, froh, dem literarischen Existenz- und Konkurrenzkampf entronnen zu sein. "Die große Verweigerung" hat Herbert Marcuse, der Vordenker der Achtundsechziger, das genannt, doch Theobaldys Ausstieg war eher unspektakulär. Er schrieb und publizierte weiter in kleinen Verlagen, und trotz oder wegen des Verzichts auf jedweden Ehrgeiz hat seine Wahlheimat Schweiz ihn mit Literaturpreisen und Stipendien geehrt. "Aber er würde nie zum Typ werden, der die öffentliche Hochachtung sucht ... Eher stieß ihn soviel Lust am Auftrumpfen ab, soviel Gier, im Mittelpunkt einer Runde zu glänzen, weit herum bekannt zu sein und bewundert zu werden" - diese Sätze stammen aus Theobaldys neuem Roman "Rückvergütung", und der Autor legt sie der Hauptfigur Renner in den Mund, die sich, passend zu ihrem sprechenden Namen, redlich abstrampelt, ohne es allzu weit zu bringen. Renner landet im Gefängnis, nachdem er sich nolens volens an einem durch seine Schlichtheit verblüffenden Versicherungsbetrug beteiligt und seine Frau mit der Gattin seines Chefs betrogen hat. Am Ende ist die Firma pleite, und der gelackmeierte Renner steht ohne Geld, ohne Frau und ohne Familie da.
Der Text behandelt ein Thema, das in deutscher Gegenwartsliteratur - außer bei Wilhelm Genazino - weitgehend unterbelichtet bleibt: das Leben der Angestellten. Dabei denkt man hier weniger an Siegfried Kracauers gleichnamiges Buch als an den eingangs erwähnten Robert Walser. Jürgen Theobaldy hat, vermutlich ohne es zu wollen, Walsers wunderbaren Roman "Der Gehülfe" neu geschrieben und aus dem frühen 20. Jahrhundert in die Schweiz der Gegenwart transponiert. Ein gelungenes Remake, bei dem jedes Detail stimmt: Auch bei Robert Walser geht eine Firma bankrott, weil Investitionen ausbleiben und der von seinem Angestellten bewunderte Chef die Gläubiger nicht bezahlen kann. Doch die Talfahrt des Kleinunternehmers wirkt geradezu idyllisch im Vergleich zur von Banken- und Korruptionsskandalen zerrütteten Schweiz des 21. Jahrhunderts - Turbokapitalismus ist das passende Wort dafür: "Im Versicherungswesen sitzen keine Albert Schweitzers. Wo jeder Minister nur die Fehler einräumt, die ihm nachgewiesen werden, geben auch wir nur das zu, was man uns nachweisen kann."
Noch drastischer ist der Unterschied zwischen der scheuen und keuschen Minne, die Walsers "Gehülfe" seiner "Herrin" entgegenbringt, und den sexuellen Exerzitien, die mit Wissen des Chefs, vielleicht sogar auf dessen Wunsch, im Hotel Metropol stattfinden: "Mit Jeanine war das anders. Kunststück! Keine Störungen, keine Träume, sondern halb nackte und ganz nackte, nach Schweiß und auch Urin riechende, mal sachte, mal heftig schabende Wahrheiten aus Haut und Fleisch. Oder so ähnlich. Rucken und schrubben, schrabben und kratzen. Rocken und rollen, ja, das auch."
Jürgen Theobaldy hat einen kleinen, aber feinen Roman geschrieben, dem viele Leser zu wünschen sind, weil er Erotik mit kriminalistischer Spannung verbindet und das Kunststück fertigbringt, Diskretion zu wahren, wiewohl der Text an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt.
HANS CHRISTOPH BUCH
Jürgen Theobaldy:
"Rückvergütung". Roman.
Verlag Das Wunderhorn,
Heidelberg 2015. 146 S., geb., 19,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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