Als der Journalist Thomas Franke zum ersten Mal nach Russland reiste, musste man eigentlich keine Angst mehr haben: Das Sowjetreich war zusammengebrochen, der russische Bär bleckte nicht länger die Zähne. Heute fürchten sich wieder viele Menschen vor - und ebenso: in - Putins Russland. Seit mehr als 20 Jahren bereist Franke Russland, von 2012 bis 2016 lebte er in Moskau: Zeit für zahllose Begegnungen und Gespräche zwischen der Hauptstadt und der Krim, zwischen Wolgograd und Sibirien. Mit scharfem Blick und präzisem Ton erzählt Franke von Alltag, Geschichte und Politik und erlebt als mitfühlender Chronist eine Entwicklung, die er nicht für möglich gehalten hatte: die Reaktivierung sowjetischer Reflexe, die Rückkehr der Angst in die russische Gesellschaft. Diese Angst, so Franke, hat das ganze Land infiziert: Die Staatsmacht unter Putin nutzt sie, um ihre Autorität zu stärken und die Moral der Opposition zu untergraben. Und zugleich schürt sie die Angst vor Macht- und Identitätsverlust, vor der weltpolitischen Marginalisierung: In der russischen Seele gärt eine explosive Mischung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2017Mit Angst lässt sich politisch arbeiten
Ideologie ist ganz gut, aber das Gefühl von Unsicherheit noch besser: Thomas Franke und Manfred Quiring beschreiben jüngste Entwicklungen im Russland Wladimir Putins.
Politische Macht beruht auf dem zumindest billigenden Einverständnis der Bürger, beherrscht zu werden. Dieser stillschweigende Gesellschaftsvertrag ist allerdings - wie der berühmte Lunch - nicht kostenlos zu haben. In der Ära Putin, die bereits siebzehn Jahre dauert, hat der Kreml verschiedene Machtressourcen angezapft: Zunächst profitierte die Regierung vom wirtschaftlichen Aufschwung, der sich allerdings nicht so sehr einer effizienten Modernisierungspolitik verdankte, sondern dem märchenhaften Anstieg des Ölpreises. Nach der globalen Finanzkrise kam das Versprechen politischer Stabilität, das zwar die zunehmenden Demokratiedefizite überdeckte, aber mit den Massendemonstrationen des Winters 2011/2012 in Frage gestellt wurde. Mit der Annexion der Krim schossen die Zustimmungswerte des Präsidenten erneut in die Höhe, der Kreml stützte sich auf einen medial angestachelten Hurrapatriotismus. Allerdings erschöpften sich diese Machtressourcen mit der Zeit. Deshalb lässt sich in Russland seit einigen Monaten der Wechsel zu einer weiteren Strategie der Herrschaftssicherung beobachten: Eine schleichende Angst greift um sich - sowohl in der russischen Gesellschaft selbst als auch in der Staatengemeinschaft.
Zwei neue lesenswerte Bücher dokumentieren diesen Prozess, der nicht nur die russische Zivilgesellschaft lähmt, sondern auch die russische Staatsführung in eine fast komplette Isolation geführt hat. Thomas Franke und Manfred Quiring kennen Russland wie ihre Westentasche, beide waren lange Jahre als Korrespondenten in Moskau tätig. Sie beschreiben die russische Kultur mit einer deutlich spürbaren Liebe zu Land und Leuten. Allerdings fällt ihr Urteil über die gegenwärtige Situation sehr kritisch aus.
Franke erblickt die größte Bedrohung für die russische Gesellschaft in jenem diffusen Gefühl, das er mit dem Reimport eines deutschen Fremdworts im Englischen als "Russian Angst" bezeichnet. Die russischen Bürger fürchten die Gefahren einer unsicheren Zukunft seit dem Ende der Sowjetunion: Die kommunistische Zukunft hatte sich in Nichts aufgelöst, an ihre Stelle war der nackte Überlebenskampf getreten. Wechsel bedeutete aus der Sicht des einfachen Bürgers immer nur eine Verschlechterung der eigenen Lebensumstände. Diese beklemmende Grundstimmung wird seit jeher von den Polittechnologen des Kremls für die Herrschaftssicherung genutzt. Sowohl Jelzin als auch Putin wurden den Wählern als "alternativlos" präsentiert. Man zeichnete Schreckensszenarien, die von einem Rückfall in den Stalinismus bis zur Machtergreifung von Rechtsradikalen reichten. Medienschaffende, die ihre Stimme warnend erhoben, wurden eingeschüchtert.
Franke gibt einen Einblick in die Dynamik der Protestbewegung des Winters 2011/2012. An einzelnen Biographien zeichnet er nach, wie die Anwendung von Polizeigewalt einfache Demonstranten in engagierte Aktivisten verwandelte. Umgekehrt dokumentiert er, mit welchen Mitteln der Kreml eigene Loyalitätskundgebungen organisiert. Er kritisiert die selbsternannten Sittenpolizisten, die in Kosakenkostümen "amerikanische Propaganda" oder die "Verbreitung von Homosexualität" bekämpfen wollen, und dokumentiert die fragwürdigen Aktionen der "Nationalen Befreiungsbewegung" des linientreuen Duma-Abgeordneten Jewgeni Fjodorow. Als Speerspitze dieser Bewegung agiert die attraktive Einpeitscherin Maria Katassonowa, die sich immer wieder für die nationale Wiedergeburt Russlands in Szene setzt.
Während Franke einen desillusionierten Bericht zur aktuellen Lage der Nation gibt, holt Manfred Quiring historisch weiter aus. Er verfolgt Putins Aufstieg vom bescheidenen Posten eines KGB-Spions in Dresden über die Kaderstelle als Mitarbeiter des Petersburgers Bürgermeisters Anatoli Sobtschak bis zu seiner überraschenden Plazierung in höchste politische Ämter der russischen Föderation. Dabei unterstreicht Quiring die Konstanz von Putins nationalkonservativen Ansichten. Bereits 1994 hatte Putin auf einer Diskussionsveranstaltung in Deutschland darauf hingewiesen, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion 25 Millionen Russen im Ausland leben und Russland es sich nicht leisten könne, diese Menschen einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Im selben Jahr verließ Putin aus Protest einen Vortrag des estnischen Präsidenten, der die Sowjetarmee als "Besatzer" bezeichnet hatte. Die Schalmeienklänge von Putins berühmter Rede im Deutschen Bundestag 2001 seien, so Quiring, vor allem auf den Input von Horst Teltschik zurückzuführen. Als Präsident habe Putin auch schnell dafür gesorgt, dass anhängige Gerichtsverfahren aus seiner Petersburger Zeit zu den Akten gelegt wurden.
Aber nicht nur die persönliche Biographie des Kremlchefs wird streng kontrolliert. Dasselbe gilt für die Vergangenheit des ganzen Landes. Quiring widmet der russischen Geschichtspolitik ein eigenes Kapitel. Die Voraussetzungen für eine patriotische Geschichtsschreibung sind in Russland denkbar gut. In einer Umfrage aus dem Jahr 2014 wussten nur gerade 19 Prozent vom sowjetischen Überfall auf Polen im Jahr 1939, und 53 Prozent waren davon überzeugt, dass die Sowjetunion die baltischen Staaten im Jahr 1940 nicht okkupiert habe.
Quiring beschließt sein Buch mit einem Überblick über die Verbindungen des Kremls zu nationalistischen Parteien und separatistischen Gruppierungen in Europa. Schlüsselfiguren sind dabei der ultranationalistische Vizeregierungschef Dmitri Rogosin und der Milliardär Konstantin Malofejew, der aus seinen streng orthodoxen und monarchistischen Ansichten kein Hehl macht. Unterstützt werden der Front National, Jobbik, Ukip, AfD und die FPÖ, die kürzlich sogar einen Kooperationsvertrag mit der Regierungspartei "Einiges Russland" abgeschlossen hat. Die "Antiglobalistische Bewegung" ist eine vom Kreml geförderte russische NGO, die Konferenzen mit separatistischen Aktivisten aus Nordirland, Schottland, dem Baskenland, Katalonien und Norditalien durchführt. Natürlich werden solche Abspaltungstendenzen nur im Ausland gestärkt. Quiring weist darauf hin, dass eine Bürgerrechtsaktivistin aus Krasnodar, die einen Marsch zur Föderalisierung des Kubangebiets organisiert hatte, wegen "Extremismus" und "Separatismus" zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Der Kreml kümmert sich kaum um ideologische Kohärenz, wichtig ist der Ausbau der eigenen Machtposition.
ULRICH SCHMID
Thomas Franke:
"Russian Angst". Einblicke in die postsowjetische
Seele.
Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2017. 256 S., br., 18,- [Euro].
Manfred Quiring:
"Putins russische Welt".
Wie der Kreml Europa
spaltet.
Ch. Links Verlag, Berlin 2017. 262 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ideologie ist ganz gut, aber das Gefühl von Unsicherheit noch besser: Thomas Franke und Manfred Quiring beschreiben jüngste Entwicklungen im Russland Wladimir Putins.
Politische Macht beruht auf dem zumindest billigenden Einverständnis der Bürger, beherrscht zu werden. Dieser stillschweigende Gesellschaftsvertrag ist allerdings - wie der berühmte Lunch - nicht kostenlos zu haben. In der Ära Putin, die bereits siebzehn Jahre dauert, hat der Kreml verschiedene Machtressourcen angezapft: Zunächst profitierte die Regierung vom wirtschaftlichen Aufschwung, der sich allerdings nicht so sehr einer effizienten Modernisierungspolitik verdankte, sondern dem märchenhaften Anstieg des Ölpreises. Nach der globalen Finanzkrise kam das Versprechen politischer Stabilität, das zwar die zunehmenden Demokratiedefizite überdeckte, aber mit den Massendemonstrationen des Winters 2011/2012 in Frage gestellt wurde. Mit der Annexion der Krim schossen die Zustimmungswerte des Präsidenten erneut in die Höhe, der Kreml stützte sich auf einen medial angestachelten Hurrapatriotismus. Allerdings erschöpften sich diese Machtressourcen mit der Zeit. Deshalb lässt sich in Russland seit einigen Monaten der Wechsel zu einer weiteren Strategie der Herrschaftssicherung beobachten: Eine schleichende Angst greift um sich - sowohl in der russischen Gesellschaft selbst als auch in der Staatengemeinschaft.
Zwei neue lesenswerte Bücher dokumentieren diesen Prozess, der nicht nur die russische Zivilgesellschaft lähmt, sondern auch die russische Staatsführung in eine fast komplette Isolation geführt hat. Thomas Franke und Manfred Quiring kennen Russland wie ihre Westentasche, beide waren lange Jahre als Korrespondenten in Moskau tätig. Sie beschreiben die russische Kultur mit einer deutlich spürbaren Liebe zu Land und Leuten. Allerdings fällt ihr Urteil über die gegenwärtige Situation sehr kritisch aus.
Franke erblickt die größte Bedrohung für die russische Gesellschaft in jenem diffusen Gefühl, das er mit dem Reimport eines deutschen Fremdworts im Englischen als "Russian Angst" bezeichnet. Die russischen Bürger fürchten die Gefahren einer unsicheren Zukunft seit dem Ende der Sowjetunion: Die kommunistische Zukunft hatte sich in Nichts aufgelöst, an ihre Stelle war der nackte Überlebenskampf getreten. Wechsel bedeutete aus der Sicht des einfachen Bürgers immer nur eine Verschlechterung der eigenen Lebensumstände. Diese beklemmende Grundstimmung wird seit jeher von den Polittechnologen des Kremls für die Herrschaftssicherung genutzt. Sowohl Jelzin als auch Putin wurden den Wählern als "alternativlos" präsentiert. Man zeichnete Schreckensszenarien, die von einem Rückfall in den Stalinismus bis zur Machtergreifung von Rechtsradikalen reichten. Medienschaffende, die ihre Stimme warnend erhoben, wurden eingeschüchtert.
Franke gibt einen Einblick in die Dynamik der Protestbewegung des Winters 2011/2012. An einzelnen Biographien zeichnet er nach, wie die Anwendung von Polizeigewalt einfache Demonstranten in engagierte Aktivisten verwandelte. Umgekehrt dokumentiert er, mit welchen Mitteln der Kreml eigene Loyalitätskundgebungen organisiert. Er kritisiert die selbsternannten Sittenpolizisten, die in Kosakenkostümen "amerikanische Propaganda" oder die "Verbreitung von Homosexualität" bekämpfen wollen, und dokumentiert die fragwürdigen Aktionen der "Nationalen Befreiungsbewegung" des linientreuen Duma-Abgeordneten Jewgeni Fjodorow. Als Speerspitze dieser Bewegung agiert die attraktive Einpeitscherin Maria Katassonowa, die sich immer wieder für die nationale Wiedergeburt Russlands in Szene setzt.
Während Franke einen desillusionierten Bericht zur aktuellen Lage der Nation gibt, holt Manfred Quiring historisch weiter aus. Er verfolgt Putins Aufstieg vom bescheidenen Posten eines KGB-Spions in Dresden über die Kaderstelle als Mitarbeiter des Petersburgers Bürgermeisters Anatoli Sobtschak bis zu seiner überraschenden Plazierung in höchste politische Ämter der russischen Föderation. Dabei unterstreicht Quiring die Konstanz von Putins nationalkonservativen Ansichten. Bereits 1994 hatte Putin auf einer Diskussionsveranstaltung in Deutschland darauf hingewiesen, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion 25 Millionen Russen im Ausland leben und Russland es sich nicht leisten könne, diese Menschen einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Im selben Jahr verließ Putin aus Protest einen Vortrag des estnischen Präsidenten, der die Sowjetarmee als "Besatzer" bezeichnet hatte. Die Schalmeienklänge von Putins berühmter Rede im Deutschen Bundestag 2001 seien, so Quiring, vor allem auf den Input von Horst Teltschik zurückzuführen. Als Präsident habe Putin auch schnell dafür gesorgt, dass anhängige Gerichtsverfahren aus seiner Petersburger Zeit zu den Akten gelegt wurden.
Aber nicht nur die persönliche Biographie des Kremlchefs wird streng kontrolliert. Dasselbe gilt für die Vergangenheit des ganzen Landes. Quiring widmet der russischen Geschichtspolitik ein eigenes Kapitel. Die Voraussetzungen für eine patriotische Geschichtsschreibung sind in Russland denkbar gut. In einer Umfrage aus dem Jahr 2014 wussten nur gerade 19 Prozent vom sowjetischen Überfall auf Polen im Jahr 1939, und 53 Prozent waren davon überzeugt, dass die Sowjetunion die baltischen Staaten im Jahr 1940 nicht okkupiert habe.
Quiring beschließt sein Buch mit einem Überblick über die Verbindungen des Kremls zu nationalistischen Parteien und separatistischen Gruppierungen in Europa. Schlüsselfiguren sind dabei der ultranationalistische Vizeregierungschef Dmitri Rogosin und der Milliardär Konstantin Malofejew, der aus seinen streng orthodoxen und monarchistischen Ansichten kein Hehl macht. Unterstützt werden der Front National, Jobbik, Ukip, AfD und die FPÖ, die kürzlich sogar einen Kooperationsvertrag mit der Regierungspartei "Einiges Russland" abgeschlossen hat. Die "Antiglobalistische Bewegung" ist eine vom Kreml geförderte russische NGO, die Konferenzen mit separatistischen Aktivisten aus Nordirland, Schottland, dem Baskenland, Katalonien und Norditalien durchführt. Natürlich werden solche Abspaltungstendenzen nur im Ausland gestärkt. Quiring weist darauf hin, dass eine Bürgerrechtsaktivistin aus Krasnodar, die einen Marsch zur Föderalisierung des Kubangebiets organisiert hatte, wegen "Extremismus" und "Separatismus" zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Der Kreml kümmert sich kaum um ideologische Kohärenz, wichtig ist der Ausbau der eigenen Machtposition.
ULRICH SCHMID
Thomas Franke:
"Russian Angst". Einblicke in die postsowjetische
Seele.
Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2017. 256 S., br., 18,- [Euro].
Manfred Quiring:
"Putins russische Welt".
Wie der Kreml Europa
spaltet.
Ch. Links Verlag, Berlin 2017. 262 S., br., 18,- [Euro].
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