Nicht nur über eine derzeit umstrittene Pipeline, sondern auch über Jahrhunderte des Austauschs wie der Abstoßung waren und sind Rußland und Deutschland einander so fern wie verbunden. Die politische Gegenwart scheint kritisch, die Zeichen stehen auf Konflikt und Polarität.
In dieser Lage macht Alexander Kluge Rußland zum ausschließlichen Thema eines neuen Großbandes. In dezidiert poetischer Weise, nicht mit dem herrischen Willen zur Synthese, nähert er sich dem unermeßlichen Terrain des größten Landes der Erde und der Mehrzahl seiner Seelen. Ihm geht es um den »ungeknechteten« Stoff, der dem Leser und den Materialien »die Freiheit lässt zu atmen«. Diese Freiheit realisiert sich in polymorpher Darstellung: Aus dem historisch geprägten Blickwinkel deutscher Patrioten wie Humboldt und Kleist ebenso wie aus der erzählerischen Sicht eines Franz Kafka und eines Heiner Müller, aus der Perspektive der Bismarckschen Rückversicherungspolitik, aus der Faszination eines revolutionären Erneuerungsversuchs, aus den utopischen und heterotopischen Erwartungen des 20. und 21. Jahrhunderts, aber auch – und möglicherweise vor allem – aus der dezidiert weiblichen Empathie einer Swetlana Alexijewitsch und der Rußlandliebe seiner Schwester Alexandra: »In ihrem Auftrag schreibe ich dieses Buch.«
In dieser Lage macht Alexander Kluge Rußland zum ausschließlichen Thema eines neuen Großbandes. In dezidiert poetischer Weise, nicht mit dem herrischen Willen zur Synthese, nähert er sich dem unermeßlichen Terrain des größten Landes der Erde und der Mehrzahl seiner Seelen. Ihm geht es um den »ungeknechteten« Stoff, der dem Leser und den Materialien »die Freiheit lässt zu atmen«. Diese Freiheit realisiert sich in polymorpher Darstellung: Aus dem historisch geprägten Blickwinkel deutscher Patrioten wie Humboldt und Kleist ebenso wie aus der erzählerischen Sicht eines Franz Kafka und eines Heiner Müller, aus der Perspektive der Bismarckschen Rückversicherungspolitik, aus der Faszination eines revolutionären Erneuerungsversuchs, aus den utopischen und heterotopischen Erwartungen des 20. und 21. Jahrhunderts, aber auch – und möglicherweise vor allem – aus der dezidiert weiblichen Empathie einer Swetlana Alexijewitsch und der Rußlandliebe seiner Schwester Alexandra: »In ihrem Auftrag schreibe ich dieses Buch.«
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2020Wie Anna Karenina glücklich wurde
Alexander Kluges "Russland-Kontainer" ist ein rechtes Dokumentarzirkusstück für Kenner.
Der unerschöpfliche Geschichtenerzähler Alexander Kluge hat wieder eine poetische Doku-Wunderkammer zwischen Buchdeckeln vorgelegt. Er berichte von einem ihm fremden Land, schreibt Kluge nicht ganz wahrheitsgemäß am Beginn seines "Russland-Kontainers", einer Sammlung disparater, assoziativ geordneter Texte über Mitgestalter russischer Wirtschafts-, Wissenschaftsund Kulturgeschichte, die von breiter Sachkenntnis kündet und, unterbrochen von Tagebuchnotizen des Autors, ein Wimmelbild zumeist gescheiterter Projekte ergibt.
Der mit Filmstills, Grafiken und Fotos illustrierte Band nimmt Themen früherer Kluge-Bücher auf, etwa Napoleons und Hitlers Russland-Feldzüge, revolutionäre Utopien und Terror, Raumfahrt und Perestroika; entstanden sei er freilich als Abbitte an seine vor drei Jahren verstorbene Schwester Alexandra, über deren an der DDR-Schule erworbenes Russland-Faible sich die Familie lustig gemacht habe, erfährt man. Der Blick zurück auf die kolossale Erfahrung sozialer Erosion in diesem Land passt aber vor allem bestens ins laufende Krisenjahr, in dem kumulierende Probleme den Zukunftshorizont zunehmend versperren - und das nicht nur in Russland.
Die Methode der Materialsammlung ist Kluges künstlerisches Credo. Er will Geschichte nicht als Korsett konsekutiver Abläufe vorführen, sondern als Polyphonie von Zielstrebigkeiten, die dem Leser eigene Arbeit abverlangt. Darin versteht Kluge sich als Romancier. Vor allem aber liebt er den Zirkus. Er schildert, wie der sowjetische Staatszirkus "Sieg des Proletariats" im Juli 1941 vom deutschen Überfall in Weißrussland überrascht und dennoch glücklich evakuiert wurde. Nach der Wende 1989 setzte dann im ehemaligen Ostblock das große Zirkussterben ein. Der "Russland-Kontainer" mit seinem K als Hommage an die russische Schreibweise lässt Momentaufnahmen historischer Nervenpunkte zirkushaft nach dem Überraschungsprinzip aufeinanderfolgen und bringt das Publikum durch artistische Mystifikation zum Staunen.
Kluge hat politische Entscheider aus Russland getroffen, zum Beispiel den Nahostexperten Jewgeni Primakow, der als russischer Außenminister unter Jelzin Einflussverluste seines Landes wieder wettzumachen versuchte. Der verriet ihm, dass, wären im ersten Golfkrieg die Amerikaner bis nach Bagdad vorgestoßen, sowjetische Militärs Gorbatschow gestürzt und eingegriffen hätten - allerdings soll Primakow ihm das ganz ohne Worte, nur durch geheime Signale im Augenhintergrund mitgeteilt haben. Kluges besondere Sympathie gilt dem Reformator Gorbatschow, dessen Projekt, die Sowjetunion zu erhalten, scheiterte, weil er nach dem gescheiterten Augustputsch 1991 die systemerhaltenden Kräfte nicht mehr mobilisieren konnte. Im Gegensatz zu den "Buschräubern von Minsk" - Russland, der Ukraine, Weißrussland -, denen ihre staatliche Abkopplung Beute versprach, hätte Gorbatschows Gegenkoalition sich auf Verzichtsbereitschaft gründen müssen.
So widmet sich Kluges zentrales Kapitel dem Raubtierblick des Beutemachers auf die Landkarte. Seine Erörterung der "Herzland"-Theorie des britischen Geostrategen Halford Mackinder (1861 bis 1947), wonach eine starke Macht im osteuropäisch-westsibirischen Raum die Welt dominieren werde, charakterisiert den Theoretiker des britischen Imperiums nebenbei auch als Eroberer neuer Forschungsressourcen. Und zeigt Mackinder 1920 als schmallippigen Unterhändler mit geschlagenen Einheiten der Weißen Armee in Südrussland, weil er ein Wiedererstarken des Russischen Reiches um jeden Preis verhindern will. Was den Engländer mit Napoleon, Hitler und ihren Truppenkommandeuren verbindet, ist in Kluges Darstellung, dass alle Russland als Beutestück ansahen, das sie zugleich nicht "haben", das heißt erkunden und kultivieren, wollten - ein Motiv, das der Autor parallel auch in erotischen Eroberungskonstellationen durchspielt.
Umso mehr imponiert ihm der frühere amerikanische Außenminister James Baker, dem dieser Beuteblick fremd gewesen sei. Der texanische Jurist, der die Sowjetunion während der Auflösungsphase bereiste, hätte ihren Fortbestand vorgezogen und sorgte sich um die Rache einer späteren Generation von Militärs, falls die Implosion des Imperiums rückblickend als Demütigung empfunden werden würde.
Kluge präsentiert jedoch auch intellektuelle Trapezkünstler wie Heiner Müller, der im Flugzeug über Sibirien an das revolutionäre Projekt eines künstlichen Meeres dort denken musste, oder Jürgen Habermas, der angesichts der Krise Europas am liebsten das menschliche Subjekt umbauen würde. Die auftretenden Bodenturner der Transformation wurden sämtlich Opfer des Staatsterrors: der Theologe und Mathematiker Pawel Florenski, für den die Elektrifizierung auch eine apokalyptische Erleuchtungsmission war, der Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratjew, der in den zwanziger Jahren einer der ersten Vertreter der Konjunkturzyklentheorie war, oder Nestor Karger, der Pionier der sibirischen Sprachforschung. Als Schlusskadenz folgt eine ganze Kaskade von Tötungsszenen ausgewiesener Miterbauer des Systems, von Marschall Michail Tuchatschewski über die Parteiführer Nikolai Bucharin und Alexej Rykow bis zu deren NKWD-Henker Nikolai Jeschow.
Was läge da näher, als sich der wissenschaftlichen Utopie der frührevolutionären Biokosmisten, Tote wieder lebendig zu machen, zu verschreiben, wie es Kluge und Heiner Müller im Whiskyrausch getan haben, und den Abschuss eines Hirsches als umgekehrten Film zu imaginieren? Kluge, der selbst mit seinem Buch Verstorbene zurückholt, glaubt an Heilungswunder. Wie ein ewigweibliches Rettungsprinzip lässt er immer wieder Pädagoginnen, stille Mitarbeiterinnen, Kindermädchen - darunter sein eigenes - auftreten, die männliche Schützlinge "instandsetzen" und so deren erfolgreiche Biographien erst ermöglichen. Während des Kriegskommunismus vor hundert Jahren soll es im moskaunahen Tula einem Trupp engagierter Junglehrerinnen gelungen sein, eine Horde verwahrloster Sozialwaisen durch geregelte Mahlzeiten, Unterrichtsstunden und Hygieneerziehung berufstauglich zu machen.
Doch Kluges Materialsammlung ist mit Vorsicht zu genießen, der Romancier arbeitet gerne Dinge um. So zitiert er den Perestroika-Ökonomen Leonid Abalkin, der in Moskau die Kondratjew-Stiftung gründete, mit einem Exkurs über schwerfällige Entwicklungsprojekte, die erst realisiert werden, wenn sie sich nicht mehr lohnen; er stellt ihn jedoch vor als Leonid Andropow, einen entfernten Verwandten des früheren Generalsekretärs Juri Andropow. Aus dem Schriftsteller Andrej Bitow macht er, offenbar inspiriert von dessen Romanfigur Monachow ("Mönch") und Reflexionen über die Abschaffung der Kalenderzeit in dessen letztem Buch, einen Klosterbruder, der die moderne Chronologie widerlegt. Er erfindet einen Komponisten, der bei Schostakowitsch gelernt und eine Fuge für Wellenlängen und Obertonfolgen verfasst haben soll. Und als Herzenskenner versetzt er die Figuren des Romans "Anna Karenina" in den Ersten Weltkrieg, wo die Titelheldin zur hingebungsvollen Krankenschwester und mangels freier Zeit in ihrer Ehe glücklich wird.
Solche Zaubereien zu entschlüsseln bleibt der Findigkeit des Lesers überlassen. Die Anmerkungen im Anhang verrätseln die Sache nur weiter und ziehen mit QR-Codes zu Kluges Filmen den Leser tiefer in seinen Kosmos hinein. Doch gerade diese spiegelkabinettartige Sprache transferiere das russische Material in das Idiom und den Kontext der globalen Kultur, sagt die Kuratorin des Moskauer Garage-Museums für Zeitgenössische Kunst, Katja Inosemzewa, der Kluge für ihre Unterstützung seines Buchprojekts besonders dankt. Daher will die Garage noch in diesem Herbst die russische Ausgabe des "Russland-Kontainers" präsentieren und im kommenden Jahr Kluge eine Ausstellung widmen.
KERSTIN HOLM.
Alexander Kluge: "Russland-Kontainer".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 444 S., Abb., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alexander Kluges "Russland-Kontainer" ist ein rechtes Dokumentarzirkusstück für Kenner.
Der unerschöpfliche Geschichtenerzähler Alexander Kluge hat wieder eine poetische Doku-Wunderkammer zwischen Buchdeckeln vorgelegt. Er berichte von einem ihm fremden Land, schreibt Kluge nicht ganz wahrheitsgemäß am Beginn seines "Russland-Kontainers", einer Sammlung disparater, assoziativ geordneter Texte über Mitgestalter russischer Wirtschafts-, Wissenschaftsund Kulturgeschichte, die von breiter Sachkenntnis kündet und, unterbrochen von Tagebuchnotizen des Autors, ein Wimmelbild zumeist gescheiterter Projekte ergibt.
Der mit Filmstills, Grafiken und Fotos illustrierte Band nimmt Themen früherer Kluge-Bücher auf, etwa Napoleons und Hitlers Russland-Feldzüge, revolutionäre Utopien und Terror, Raumfahrt und Perestroika; entstanden sei er freilich als Abbitte an seine vor drei Jahren verstorbene Schwester Alexandra, über deren an der DDR-Schule erworbenes Russland-Faible sich die Familie lustig gemacht habe, erfährt man. Der Blick zurück auf die kolossale Erfahrung sozialer Erosion in diesem Land passt aber vor allem bestens ins laufende Krisenjahr, in dem kumulierende Probleme den Zukunftshorizont zunehmend versperren - und das nicht nur in Russland.
Die Methode der Materialsammlung ist Kluges künstlerisches Credo. Er will Geschichte nicht als Korsett konsekutiver Abläufe vorführen, sondern als Polyphonie von Zielstrebigkeiten, die dem Leser eigene Arbeit abverlangt. Darin versteht Kluge sich als Romancier. Vor allem aber liebt er den Zirkus. Er schildert, wie der sowjetische Staatszirkus "Sieg des Proletariats" im Juli 1941 vom deutschen Überfall in Weißrussland überrascht und dennoch glücklich evakuiert wurde. Nach der Wende 1989 setzte dann im ehemaligen Ostblock das große Zirkussterben ein. Der "Russland-Kontainer" mit seinem K als Hommage an die russische Schreibweise lässt Momentaufnahmen historischer Nervenpunkte zirkushaft nach dem Überraschungsprinzip aufeinanderfolgen und bringt das Publikum durch artistische Mystifikation zum Staunen.
Kluge hat politische Entscheider aus Russland getroffen, zum Beispiel den Nahostexperten Jewgeni Primakow, der als russischer Außenminister unter Jelzin Einflussverluste seines Landes wieder wettzumachen versuchte. Der verriet ihm, dass, wären im ersten Golfkrieg die Amerikaner bis nach Bagdad vorgestoßen, sowjetische Militärs Gorbatschow gestürzt und eingegriffen hätten - allerdings soll Primakow ihm das ganz ohne Worte, nur durch geheime Signale im Augenhintergrund mitgeteilt haben. Kluges besondere Sympathie gilt dem Reformator Gorbatschow, dessen Projekt, die Sowjetunion zu erhalten, scheiterte, weil er nach dem gescheiterten Augustputsch 1991 die systemerhaltenden Kräfte nicht mehr mobilisieren konnte. Im Gegensatz zu den "Buschräubern von Minsk" - Russland, der Ukraine, Weißrussland -, denen ihre staatliche Abkopplung Beute versprach, hätte Gorbatschows Gegenkoalition sich auf Verzichtsbereitschaft gründen müssen.
So widmet sich Kluges zentrales Kapitel dem Raubtierblick des Beutemachers auf die Landkarte. Seine Erörterung der "Herzland"-Theorie des britischen Geostrategen Halford Mackinder (1861 bis 1947), wonach eine starke Macht im osteuropäisch-westsibirischen Raum die Welt dominieren werde, charakterisiert den Theoretiker des britischen Imperiums nebenbei auch als Eroberer neuer Forschungsressourcen. Und zeigt Mackinder 1920 als schmallippigen Unterhändler mit geschlagenen Einheiten der Weißen Armee in Südrussland, weil er ein Wiedererstarken des Russischen Reiches um jeden Preis verhindern will. Was den Engländer mit Napoleon, Hitler und ihren Truppenkommandeuren verbindet, ist in Kluges Darstellung, dass alle Russland als Beutestück ansahen, das sie zugleich nicht "haben", das heißt erkunden und kultivieren, wollten - ein Motiv, das der Autor parallel auch in erotischen Eroberungskonstellationen durchspielt.
Umso mehr imponiert ihm der frühere amerikanische Außenminister James Baker, dem dieser Beuteblick fremd gewesen sei. Der texanische Jurist, der die Sowjetunion während der Auflösungsphase bereiste, hätte ihren Fortbestand vorgezogen und sorgte sich um die Rache einer späteren Generation von Militärs, falls die Implosion des Imperiums rückblickend als Demütigung empfunden werden würde.
Kluge präsentiert jedoch auch intellektuelle Trapezkünstler wie Heiner Müller, der im Flugzeug über Sibirien an das revolutionäre Projekt eines künstlichen Meeres dort denken musste, oder Jürgen Habermas, der angesichts der Krise Europas am liebsten das menschliche Subjekt umbauen würde. Die auftretenden Bodenturner der Transformation wurden sämtlich Opfer des Staatsterrors: der Theologe und Mathematiker Pawel Florenski, für den die Elektrifizierung auch eine apokalyptische Erleuchtungsmission war, der Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratjew, der in den zwanziger Jahren einer der ersten Vertreter der Konjunkturzyklentheorie war, oder Nestor Karger, der Pionier der sibirischen Sprachforschung. Als Schlusskadenz folgt eine ganze Kaskade von Tötungsszenen ausgewiesener Miterbauer des Systems, von Marschall Michail Tuchatschewski über die Parteiführer Nikolai Bucharin und Alexej Rykow bis zu deren NKWD-Henker Nikolai Jeschow.
Was läge da näher, als sich der wissenschaftlichen Utopie der frührevolutionären Biokosmisten, Tote wieder lebendig zu machen, zu verschreiben, wie es Kluge und Heiner Müller im Whiskyrausch getan haben, und den Abschuss eines Hirsches als umgekehrten Film zu imaginieren? Kluge, der selbst mit seinem Buch Verstorbene zurückholt, glaubt an Heilungswunder. Wie ein ewigweibliches Rettungsprinzip lässt er immer wieder Pädagoginnen, stille Mitarbeiterinnen, Kindermädchen - darunter sein eigenes - auftreten, die männliche Schützlinge "instandsetzen" und so deren erfolgreiche Biographien erst ermöglichen. Während des Kriegskommunismus vor hundert Jahren soll es im moskaunahen Tula einem Trupp engagierter Junglehrerinnen gelungen sein, eine Horde verwahrloster Sozialwaisen durch geregelte Mahlzeiten, Unterrichtsstunden und Hygieneerziehung berufstauglich zu machen.
Doch Kluges Materialsammlung ist mit Vorsicht zu genießen, der Romancier arbeitet gerne Dinge um. So zitiert er den Perestroika-Ökonomen Leonid Abalkin, der in Moskau die Kondratjew-Stiftung gründete, mit einem Exkurs über schwerfällige Entwicklungsprojekte, die erst realisiert werden, wenn sie sich nicht mehr lohnen; er stellt ihn jedoch vor als Leonid Andropow, einen entfernten Verwandten des früheren Generalsekretärs Juri Andropow. Aus dem Schriftsteller Andrej Bitow macht er, offenbar inspiriert von dessen Romanfigur Monachow ("Mönch") und Reflexionen über die Abschaffung der Kalenderzeit in dessen letztem Buch, einen Klosterbruder, der die moderne Chronologie widerlegt. Er erfindet einen Komponisten, der bei Schostakowitsch gelernt und eine Fuge für Wellenlängen und Obertonfolgen verfasst haben soll. Und als Herzenskenner versetzt er die Figuren des Romans "Anna Karenina" in den Ersten Weltkrieg, wo die Titelheldin zur hingebungsvollen Krankenschwester und mangels freier Zeit in ihrer Ehe glücklich wird.
Solche Zaubereien zu entschlüsseln bleibt der Findigkeit des Lesers überlassen. Die Anmerkungen im Anhang verrätseln die Sache nur weiter und ziehen mit QR-Codes zu Kluges Filmen den Leser tiefer in seinen Kosmos hinein. Doch gerade diese spiegelkabinettartige Sprache transferiere das russische Material in das Idiom und den Kontext der globalen Kultur, sagt die Kuratorin des Moskauer Garage-Museums für Zeitgenössische Kunst, Katja Inosemzewa, der Kluge für ihre Unterstützung seines Buchprojekts besonders dankt. Daher will die Garage noch in diesem Herbst die russische Ausgabe des "Russland-Kontainers" präsentieren und im kommenden Jahr Kluge eine Ausstellung widmen.
KERSTIN HOLM.
Alexander Kluge: "Russland-Kontainer".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 444 S., Abb., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Für Rezensentin Brigitte van Kann ist Alexander Kluges Russland-Buch ein Füllhorn. Kluges Assoziationskunst schließt sich die Rezensentin an, folgt ihm bereitwillig via Bild und Text von der Sowjet-Raumfahrt bis in die "Frankfurter Küche", auch wenn der Autor den Bogen manchmal überspanne. Es überwiegt die Animation, versichert die Rezensentin, wenn Kluge seinen Text-Bild-Teppich webt. Sogar der Anhang mit QR-Codes zu russischen Filmen und den Erkundungen der Übersetzerin Rosemarie Tietze zu russischen Wortfeldern hat es in sich, meint sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Kaum einer beherrscht diese sanfte Kunst des Gedenkens so virtuos wie Alexander Kluge.« Paul Jandl Neue Zürcher Zeitung 20200610