Der dritte Band der Gesamtausgabe schließt unmittelbar an den vorhergehenden an, umfasst er doch den zweiten Teil des »Pariser Tagebuchs«, die »Kirchhorster Blätter« sowie »Die Hütte im Weinberg«. Damit liegen die Tagebücher Jüngers aus den Jahren 1943 bis 1948 vor. Umfasst das »zweite Pariser Tagebuch« den Zeitraum vom Februar 1943 bis zum August 1944, so siedelt Jünger mit dem Vorrücken der alliierten Truppen von Paris wieder nach Kirchhorst bei Hannover über. Die dort verfassten »Blätter« enden mit dem Eintreffen der amerikanischer Soldaten. »Die Hütte im Weinberg« war zunächst 1958 unter dem Titel »Jahre der Okkupation« veröffentlicht worden und beschreiben Jüngers Erleben der Besatzungszeit. Wie auch Jüngers Erstling »In Stahlgewittern« waren auch die »Strahlungen« gleichermaßen erfolgreich wie umstritten, wenn er etwa die Bombardierung von Paris als ästhetisches Schauspiel beschreibt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.2022Als trüge er alles mit Fassung
Im Maschinenraum der "Strahlungen": Die historisch-kritische Ausgabe von Ernst Jüngers Tagebüchern gibt den Blick auf eine hochgradig inszenierte Prosa frei
Beträchtlich ist das Engagement, das Klett-Cotta um das Werk des 1998 im hundertdritten Lebensjahr gestorbenen Ernst Jünger betreibt: Briefwechsel, Biographien, Neuausgaben - wenige Verlage pflegen Nachlass und Nachruhm ihrer Autoren derart aufwendig. Dem steht freilich auch ein ungebrochenes Interesse des Publikums gegenüber. Kein Jahr verstreicht ohne neue Bücher, Dissertationen, Aufsätze oder Symposien zum Werk dieses deutschen Jahrhundertzeugen. Jüngers im hohen Alter aufgestellte Behauptung, er wäre gern ein "poète oublié", ein vergessener Dichter also, hat sich auch ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod nicht erfüllt.
Nun erscheint, mehr als sieben Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung, eine historisch-kritische Ausgabe der "Strahlungen", der Jünger'schen Tagebücher von 1939 bis 1948. Ein monumentales Unterfangen von fast 2400 Seiten, von denen gut 700 allein auf Anmerkungsapparat und Register entfallen. Das wirkt einschüchternd, aber auch vielversprechend. Kaum ein Werk der deutschen Nachkriegsliteratur wurde (und wird bis heute) heftiger angefeindet, kaum eines ist aber auch vehementer verteidigt worden als dieses voluminöse Journal, dessen erster Teil, "Gärten und Straßen", noch von Joseph Goebbels persönlich zum Druck freigegeben wurde, wenn auch nur widerwillig.
Der zweite Teil, der Jüngers Aufzeichnungen aus Paris sowie Russland und der Ukraine umfasst, wäre vom Regime niemals freigegeben worden, hätte dem Verfasser im Fall einer Entdeckung vielmehr gefährlich werden können. Er erschien erst 1949 und sorgte sofort für Aufsehen. Eine besonders umstrittene Passage, die berüchtigte "Burgunderszene" vom Mai 1944, wurde sogar von der Unterhaltungsbranche aufgegriffen: Die Szene, in der Jünger beschreibt, wie er als Offizier der deutschen Besatzungsmacht vom Dach seines Hotels aus weintrinkend einen amerikanischen Bombenangriff auf Paris beobachtet habe, spielte Harald Schmidt im Fernsehen mit Playmobilfiguren nach.
Nun also die Gesamtausgabe mit allen Streichungen, Änderungen und nachträglichen Ergänzungen, die sich aufgrund der im Literaturarchiv in Marbach verwahrten Handschriften sowie eines in Privatbesitz befindlichen Teilkonvoluts noch rekonstruieren ließen. Das Resultat bestätigt, was aus Analysen einzelner Einträge dieses Werks schon bekannt war: Jünger wollte, dass seine Tagebücher wie ein unmittelbar in und aus ihrer Zeit heraus entstandenes Werk wirken, mit jeweils am Abend des Geschehens oder am Morgen danach notierten Eindrücken. Im Vorwort der Erstausgabe betonte er diesen Anspruch durch die Behauptung, die "Versuchung", den Text durch nachträgliche Retuschen zu "klären", sei naheliegend gewesen, doch habe er davon abgesehen, "da ich dem Leser eine Idee des Ganzen vermitteln will".
Das ist die wohl größte Übertreibung dieses an Übertreibungen nicht armen Buches. Denn Jünger retuschierte, was das Zeug hielt. Tausende Sätze wurden gestrichen, umgestellt, verändert oder hinzugefügt, ganze Passagen verschwanden oder kamen erst Jahre später hinzu. Alle Textarbeit geschah stets im Dienste des Scheins: Auch was erst lange nach Kriegsende am heimischen Schreibtisch entstand, sollte wirken, als wäre es in einem Pariser Hotel 1941 oder nach einem Spaziergang in Kiew 1943 notiert worden.
Die Zusätze erklären sich natürlich auch aus der Genese des Buches, denn erst vom Frühjahr 1945 an konnte Jünger gefahrlos offen schreiben. Hinzu kommt, dass er ein nahezu manischer Umschreiber seiner Texte war. Die Assoziationsmaschine Jünger stand niemals still, manche Notate der "Strahlungen" liegen in bis zu acht Fassungen vor. Am Anfang stehen mitunter nur stichwortartige Einträge auf losen Blättern, oft in Eile notiert. Dann folgen ausformulierte Übertragungen in Notizbücher und darauf wiederum umfangreiche Abschriften auf Büttenpapier. Nur wenige Notate blieben dabei unbearbeitet. Jünger raffte, strich, schmückte aus.
Oft erstaunt, wie offen sarkastisch er sich schon in den ursprünglichen Einträgen über Hitler (den er in den Aufzeichnungen nur leidlich als knebelnden Teufel namens "Kniébolo" maskiert) oder Goebbels ("Grandgoschier") auslässt. Unverhohlen ist auch die Genugtuung, als Jünger vom Attentat auf Heydrich erfährt: "Die Nachricht durchflammt gleich einem trüben Freudenfeuer die Hölle, die er schuf." Trotzdem bemüht er sich im Sommer 1942 um eine Entsendung als Kriegsberichterstatter des Regimes in den Mittelmeerraum oder den Nahen Osten. Das bleibt erfolglos, er wird stattdessen an die Ostfront entsandt und erlebt dort die Stalingrad-Wende mit.
Es gibt Dutzende bisher unveröffentlichte Notate in dieser Ausgabe, mit denen sich in den üblichen Zitatschlachten um diesen Autor belegen ließe, dass er das NS-Regime verabscheute. Das Arsenal steht indes auch der Gegenseite der Jünger-Verächter offen, so durch einen zuvor unpublizierten Eintrag vom Juni 1940. Ein gefangener schwarzer Soldat soll einen deutschen Landser gestoßen haben und dafür exekutiert werden. Jünger als höchster anwesender Offizier hat zu entscheiden. "Es handelte sich um einen Riesenkerl, schwarz und mit den Stammesnarben im Gesicht, der unbeholfen der Zelle, in die man ihn eingesperrt hatte, entstieg. 'Wie kommst du dazu, einen deutschen Soldaten zu schlagen, du sollst erschossen werden. Antworte'", notiert Jünger über seine Begegnung. Der Gefangene erwiderte demnach in schlechtem Französisch, den Deutschen aus Angst gestoßen zu haben, da er gehört habe, dass Deutsche sogar Kindern die Hände abhackten. "Indem er dies sehr schwer verständlich hervorstammelte, sah er wie ein Menschenfresser aus, und ich bemerkte, dass die beiden biederen Niedersachsen, die hinter mir mit fertig gemachten Gewehren standen, ihn mit Widerwillen betrachteten. Indessen schien mir die Ähnlichkeit mit einem großen Schimpansen noch sprechender, und gleich diesen Affen hinter ihren Käfiggittern schien dieser Mensch hier äußerst fehl am Ort." Er könne es seinen Soldaten kaum verübeln, wenn sie den Gefangenen töten wollten. "Indessen muss ich von mir doch mehr verlangen, da ich vermute, ein wenig höher auf der Stufenleiter der Gerechtigkeit zu stehen", notiert er und beschreibt, wie es ihm durch allerlei Finten gelang, dem Mann das Leben zu retten. Der Eintrag schließt: "Wenn die Leute den Neger erschlagen hätten, wäre die Sache in Ordnung gewesen, nicht aber, wenn ich zugestimmt hätte."
Im Nachkriegsteil der Tagebücher wird die eigene Rolle bei der eben zu Ende gegangenen Katastrophe gedeutet und ins rechte Licht gerückt. Jünger scheint erschüttert, als er den Bericht einer Auschwitz-Überlebenden hört, schwächt seine Emotionen für die veröffentlichte Fassung aber wieder ab. Deutsche Verbrechen werden nicht geleugnet, aber der SS oder namenlosen "Lemuren" angelastet. Die Wehrmacht bleibt sauber. So wird ein Grundstein zur Legende von der "sauberen Wehrmacht" gelegt, die bis zu den Ausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung von 1995 an weitgehend unwidersprochen blieb. Diese Tendenz dürfte maßgeblich zum frühen Publikumserfolg der "Strahlungen" beigetragen haben.
Im Rückblick zeigt Jünger sich erleichtert, dass eine potentiell folgenschwere Begegnung ausgefallen war. "Herr Hitler würde sich freuen, Sie einmal persönlich sprechen zu können. Die Gelegenheit ergibt sich wahrscheinlich schon in allernächster Zeit, bei einer Durchfahrt durch Leipzig im Auto", hatte Rudolf Heß dem Pour-le-Mérite-Träger des Ersten Weltkriegs 1926 geschrieben. Wegen einer Änderung der Reiseroute kam es nicht zu dem Besuch. "Bestimmt hätte er Unheil gebracht", fügt Jünger nachträglich unter dem Datum des 2. April 1946 ein. Dass er sich in den Zwanzigerjahren selbst um eine Begegnung mit Hitler bemüht und bei einem Aufenthalt in München dazu das "Braune Haus" aufgesucht hatte, vertraute er 1966 seinem damaligen Sekretär Heinz Ludwig Arnold an: "Da war Hitler aber nicht da, ich traf bloß den Hess, der machte mir aber einen ziemlich wirren Eindruck damals schon." Diese Episode fehlt in den "Strahlungen", denn sie hätte nicht zur Inszenierung gepasst.
Was ist das alles nun? Wer sich wochenlang durch Tausende Seiten liest, auf denen Literatur und Zeitgeschichte, Brillanz und Kitsch, Kühle und Pathos zu einem untrennbaren Klumpen verwoben sind, wird sich wohl öfter fragen, ob es das alles wert ist. Tatsächlich ist diese zweihundert Euro teure Ausgabe für ein normales Zeitbudget und eine Leserschaft, die sich nicht beruflich mit Germanistik oder Geschichte befasst, eine Zumutung. Doch wird wohl ohnehin kaum jemand alle drei Bände von der ersten bis zur letzten Seite lesen. Sie strotzen aber dermaßen vor zeitgeschichtlichen Trouvaillen und Querverweisen, stupenden Beobachtungen und aphoristisch verkürzten Skizzen, dass man sich immer wieder festlesen kann, dabei oft verblüfft oder belehrt, manchmal beeindruckt, mitunter auch abgestoßen sein wird. Fazit: Dass der Zeitzeuge Jünger alles mit Fassung trug, ist falsch. Aber unbedingt wollte er so wirken, als trüge er alles mit Fassung. Zumal er die bei Bedarf aktualisieren konnte. MICHAEL MARTENS
Ernst Jünger: "Strahlungen". Die Tagebücher des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit (1939 -1948).
Hrsg. von Joana van de Löcht und Helmuth
Kiesel. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2022. 3 Bd., zus. 2388 S., Abb., geb., 199,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Maschinenraum der "Strahlungen": Die historisch-kritische Ausgabe von Ernst Jüngers Tagebüchern gibt den Blick auf eine hochgradig inszenierte Prosa frei
Beträchtlich ist das Engagement, das Klett-Cotta um das Werk des 1998 im hundertdritten Lebensjahr gestorbenen Ernst Jünger betreibt: Briefwechsel, Biographien, Neuausgaben - wenige Verlage pflegen Nachlass und Nachruhm ihrer Autoren derart aufwendig. Dem steht freilich auch ein ungebrochenes Interesse des Publikums gegenüber. Kein Jahr verstreicht ohne neue Bücher, Dissertationen, Aufsätze oder Symposien zum Werk dieses deutschen Jahrhundertzeugen. Jüngers im hohen Alter aufgestellte Behauptung, er wäre gern ein "poète oublié", ein vergessener Dichter also, hat sich auch ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod nicht erfüllt.
Nun erscheint, mehr als sieben Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung, eine historisch-kritische Ausgabe der "Strahlungen", der Jünger'schen Tagebücher von 1939 bis 1948. Ein monumentales Unterfangen von fast 2400 Seiten, von denen gut 700 allein auf Anmerkungsapparat und Register entfallen. Das wirkt einschüchternd, aber auch vielversprechend. Kaum ein Werk der deutschen Nachkriegsliteratur wurde (und wird bis heute) heftiger angefeindet, kaum eines ist aber auch vehementer verteidigt worden als dieses voluminöse Journal, dessen erster Teil, "Gärten und Straßen", noch von Joseph Goebbels persönlich zum Druck freigegeben wurde, wenn auch nur widerwillig.
Der zweite Teil, der Jüngers Aufzeichnungen aus Paris sowie Russland und der Ukraine umfasst, wäre vom Regime niemals freigegeben worden, hätte dem Verfasser im Fall einer Entdeckung vielmehr gefährlich werden können. Er erschien erst 1949 und sorgte sofort für Aufsehen. Eine besonders umstrittene Passage, die berüchtigte "Burgunderszene" vom Mai 1944, wurde sogar von der Unterhaltungsbranche aufgegriffen: Die Szene, in der Jünger beschreibt, wie er als Offizier der deutschen Besatzungsmacht vom Dach seines Hotels aus weintrinkend einen amerikanischen Bombenangriff auf Paris beobachtet habe, spielte Harald Schmidt im Fernsehen mit Playmobilfiguren nach.
Nun also die Gesamtausgabe mit allen Streichungen, Änderungen und nachträglichen Ergänzungen, die sich aufgrund der im Literaturarchiv in Marbach verwahrten Handschriften sowie eines in Privatbesitz befindlichen Teilkonvoluts noch rekonstruieren ließen. Das Resultat bestätigt, was aus Analysen einzelner Einträge dieses Werks schon bekannt war: Jünger wollte, dass seine Tagebücher wie ein unmittelbar in und aus ihrer Zeit heraus entstandenes Werk wirken, mit jeweils am Abend des Geschehens oder am Morgen danach notierten Eindrücken. Im Vorwort der Erstausgabe betonte er diesen Anspruch durch die Behauptung, die "Versuchung", den Text durch nachträgliche Retuschen zu "klären", sei naheliegend gewesen, doch habe er davon abgesehen, "da ich dem Leser eine Idee des Ganzen vermitteln will".
Das ist die wohl größte Übertreibung dieses an Übertreibungen nicht armen Buches. Denn Jünger retuschierte, was das Zeug hielt. Tausende Sätze wurden gestrichen, umgestellt, verändert oder hinzugefügt, ganze Passagen verschwanden oder kamen erst Jahre später hinzu. Alle Textarbeit geschah stets im Dienste des Scheins: Auch was erst lange nach Kriegsende am heimischen Schreibtisch entstand, sollte wirken, als wäre es in einem Pariser Hotel 1941 oder nach einem Spaziergang in Kiew 1943 notiert worden.
Die Zusätze erklären sich natürlich auch aus der Genese des Buches, denn erst vom Frühjahr 1945 an konnte Jünger gefahrlos offen schreiben. Hinzu kommt, dass er ein nahezu manischer Umschreiber seiner Texte war. Die Assoziationsmaschine Jünger stand niemals still, manche Notate der "Strahlungen" liegen in bis zu acht Fassungen vor. Am Anfang stehen mitunter nur stichwortartige Einträge auf losen Blättern, oft in Eile notiert. Dann folgen ausformulierte Übertragungen in Notizbücher und darauf wiederum umfangreiche Abschriften auf Büttenpapier. Nur wenige Notate blieben dabei unbearbeitet. Jünger raffte, strich, schmückte aus.
Oft erstaunt, wie offen sarkastisch er sich schon in den ursprünglichen Einträgen über Hitler (den er in den Aufzeichnungen nur leidlich als knebelnden Teufel namens "Kniébolo" maskiert) oder Goebbels ("Grandgoschier") auslässt. Unverhohlen ist auch die Genugtuung, als Jünger vom Attentat auf Heydrich erfährt: "Die Nachricht durchflammt gleich einem trüben Freudenfeuer die Hölle, die er schuf." Trotzdem bemüht er sich im Sommer 1942 um eine Entsendung als Kriegsberichterstatter des Regimes in den Mittelmeerraum oder den Nahen Osten. Das bleibt erfolglos, er wird stattdessen an die Ostfront entsandt und erlebt dort die Stalingrad-Wende mit.
Es gibt Dutzende bisher unveröffentlichte Notate in dieser Ausgabe, mit denen sich in den üblichen Zitatschlachten um diesen Autor belegen ließe, dass er das NS-Regime verabscheute. Das Arsenal steht indes auch der Gegenseite der Jünger-Verächter offen, so durch einen zuvor unpublizierten Eintrag vom Juni 1940. Ein gefangener schwarzer Soldat soll einen deutschen Landser gestoßen haben und dafür exekutiert werden. Jünger als höchster anwesender Offizier hat zu entscheiden. "Es handelte sich um einen Riesenkerl, schwarz und mit den Stammesnarben im Gesicht, der unbeholfen der Zelle, in die man ihn eingesperrt hatte, entstieg. 'Wie kommst du dazu, einen deutschen Soldaten zu schlagen, du sollst erschossen werden. Antworte'", notiert Jünger über seine Begegnung. Der Gefangene erwiderte demnach in schlechtem Französisch, den Deutschen aus Angst gestoßen zu haben, da er gehört habe, dass Deutsche sogar Kindern die Hände abhackten. "Indem er dies sehr schwer verständlich hervorstammelte, sah er wie ein Menschenfresser aus, und ich bemerkte, dass die beiden biederen Niedersachsen, die hinter mir mit fertig gemachten Gewehren standen, ihn mit Widerwillen betrachteten. Indessen schien mir die Ähnlichkeit mit einem großen Schimpansen noch sprechender, und gleich diesen Affen hinter ihren Käfiggittern schien dieser Mensch hier äußerst fehl am Ort." Er könne es seinen Soldaten kaum verübeln, wenn sie den Gefangenen töten wollten. "Indessen muss ich von mir doch mehr verlangen, da ich vermute, ein wenig höher auf der Stufenleiter der Gerechtigkeit zu stehen", notiert er und beschreibt, wie es ihm durch allerlei Finten gelang, dem Mann das Leben zu retten. Der Eintrag schließt: "Wenn die Leute den Neger erschlagen hätten, wäre die Sache in Ordnung gewesen, nicht aber, wenn ich zugestimmt hätte."
Im Nachkriegsteil der Tagebücher wird die eigene Rolle bei der eben zu Ende gegangenen Katastrophe gedeutet und ins rechte Licht gerückt. Jünger scheint erschüttert, als er den Bericht einer Auschwitz-Überlebenden hört, schwächt seine Emotionen für die veröffentlichte Fassung aber wieder ab. Deutsche Verbrechen werden nicht geleugnet, aber der SS oder namenlosen "Lemuren" angelastet. Die Wehrmacht bleibt sauber. So wird ein Grundstein zur Legende von der "sauberen Wehrmacht" gelegt, die bis zu den Ausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung von 1995 an weitgehend unwidersprochen blieb. Diese Tendenz dürfte maßgeblich zum frühen Publikumserfolg der "Strahlungen" beigetragen haben.
Im Rückblick zeigt Jünger sich erleichtert, dass eine potentiell folgenschwere Begegnung ausgefallen war. "Herr Hitler würde sich freuen, Sie einmal persönlich sprechen zu können. Die Gelegenheit ergibt sich wahrscheinlich schon in allernächster Zeit, bei einer Durchfahrt durch Leipzig im Auto", hatte Rudolf Heß dem Pour-le-Mérite-Träger des Ersten Weltkriegs 1926 geschrieben. Wegen einer Änderung der Reiseroute kam es nicht zu dem Besuch. "Bestimmt hätte er Unheil gebracht", fügt Jünger nachträglich unter dem Datum des 2. April 1946 ein. Dass er sich in den Zwanzigerjahren selbst um eine Begegnung mit Hitler bemüht und bei einem Aufenthalt in München dazu das "Braune Haus" aufgesucht hatte, vertraute er 1966 seinem damaligen Sekretär Heinz Ludwig Arnold an: "Da war Hitler aber nicht da, ich traf bloß den Hess, der machte mir aber einen ziemlich wirren Eindruck damals schon." Diese Episode fehlt in den "Strahlungen", denn sie hätte nicht zur Inszenierung gepasst.
Was ist das alles nun? Wer sich wochenlang durch Tausende Seiten liest, auf denen Literatur und Zeitgeschichte, Brillanz und Kitsch, Kühle und Pathos zu einem untrennbaren Klumpen verwoben sind, wird sich wohl öfter fragen, ob es das alles wert ist. Tatsächlich ist diese zweihundert Euro teure Ausgabe für ein normales Zeitbudget und eine Leserschaft, die sich nicht beruflich mit Germanistik oder Geschichte befasst, eine Zumutung. Doch wird wohl ohnehin kaum jemand alle drei Bände von der ersten bis zur letzten Seite lesen. Sie strotzen aber dermaßen vor zeitgeschichtlichen Trouvaillen und Querverweisen, stupenden Beobachtungen und aphoristisch verkürzten Skizzen, dass man sich immer wieder festlesen kann, dabei oft verblüfft oder belehrt, manchmal beeindruckt, mitunter auch abgestoßen sein wird. Fazit: Dass der Zeitzeuge Jünger alles mit Fassung trug, ist falsch. Aber unbedingt wollte er so wirken, als trüge er alles mit Fassung. Zumal er die bei Bedarf aktualisieren konnte. MICHAEL MARTENS
Ernst Jünger: "Strahlungen". Die Tagebücher des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit (1939 -1948).
Hrsg. von Joana van de Löcht und Helmuth
Kiesel. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2022. 3 Bd., zus. 2388 S., Abb., geb., 199,- Euro.
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