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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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An der Reibung wächst die eigene Stimme: Die ersten Bände der Peter-Rühmkorf-Werkausgabe
Falls eine Werkausgabe das Format eines Autors sichtbar macht, dann lässt sich im Fall von Peter Rühmkorfs auf 21 Bände angelegte Studienausgabe folgende Größenordnung ablesen: Sieben der insgesamt einundzwanzig Bände seiner "Sämtlichen Werke" umfassen seine literarischen Texte, da sind seine autobiographischen Schriften bereits eingerechnet. Die übrigen vierzehn Bände versammeln alle seine zu Lebzeiten publizierten oder als vollständige Texte im Nachlass vorgefundenen Arbeiten zur Literaturkritik, die Schriften zur Poetik, zu Politik, Film, Musik, Kunst und obendrauf noch die Gespräche und Interviews. Rühmkorf war zwar kein Eindrittel-, sondern ein Vollblutdichter, aber er hinterließ ein schmales, ausgesuchtes, dafür gewichtiges literarisches Werk, spektakulär überbaut von Beiträgen stetiger Selbst- und Fremdreflexion, die gestatten, Rühmkorf als literarischen, vor allem aber lyrischen Seismographen zu bezeichnen. Zwischen seinen Publikationen aus dem Jahr 1953 und seinen letzten 2007 konnte kein Vers auch nur den leichtesten Riss aufweisen, ohne dass es dem poetischen Pannenprüfer Rühmkorf zum Anlass scharfsichtiger Kritik geworden wäre.
Gemessen am Umfang und an der Bedeutung von Rühmkorfs kritischen Arbeiten, ist es nur konsequent, dass die Werkausgabe zuerst (mit Band 12) die Literaturkritiken aus den Jahren 1953 bis 1962 und als Zweites (mit Band 9) die "Schriften zur Poetik" präsentiert, die zwischen 1953 und 1967 entstanden sind. 1953 war Rühmkorf noch ein ambitionierter Niemand. Doch wie wird er zum Autor? Indem er gemeinsam mit Werner Riegel in Hamburg die Zeitschrift "Zwischen den Kriegen - Blätter gegen die Zeit" gründet und damit ein Forum für die eigenen Gedichte wie für die Kritik und poetische Reflexion schafft. Bis 1956 bestand die Zeitschrift, die sich als Sprachorgan des selbsternannten "Finismus" inszenierte. Im Willen zur Selbsttheoretisierung lautete so das Etikett, das Rühmkorf und Riegel ihrer Kunst verliehen. Finalismus vereinte in sich "den jugendlichen Aufbruch mit dem Abstiegsmotiv, das Progressive und niederdrückende Schwermut als die gleichzeitig tragenden Temperamente". Pointierter konnte man die Fünfzigerjahre - aus der Perspektive eines 1929 Geborenen - kaum fassen. Autoren wie Wolfgang Borchert oder Wolfgang Bächler fallen einem als Verwandte im Geiste sofort ein. Und doch ist dem ausgelobten "Finismus" eine literaturgeschichtliche Großkarriere versagt geblieben.
Genau 26 Ausgaben erlebte die Zeitschrift, bevor sie mit Werner Riegels Tod ihre Pforten schließen musste. Liest man die Liste der beteiligten Autoren, staunt man, wie zahlreich sich die (in diesem Fall durchweg männliche) Jugend damals offenbar für Lyrik begeisterte. Im Blatt schrieben in atemberaubender Höchstfrequenz unter anderen die Herren Kefer, Leu, Scharbock, Frieder und Riegel sowie Leslie Meier, Johannes Fontara oder eben Peter Rühmkorf. Doch eigentlich waren es eben nur zwei Personen, "die unter zahlreichen Pseudonymen ihren unterschiedlichen Intentionen Ausdruck gaben". Mit Riegel verstarben fünf Autoren auf einen Streich. Das Ende des Anfangs: "Die Zeitschrift ,Zwischen den Kriegen', die fünf ihrer Autoren verloren hat, ist nicht mehr zu halten", gab Rühmkorf bekannt.
"Schizographie" nannten er und Riegel diese schriftliche Unterhaltung mit sich selbst. Sie trug zur Geburt des Autors Peter Rühmkorf auch deshalb entscheidend bei, weil jenseits des gepflegten Selbstgesprächs - so war der Eindruck der jungen Autoren - niemand da war, mit dem zu reden wäre. Die schizographische Methode führte ihrerseits zu kuriosen Szenen. Wenn der in Hamburg arbeitende Rühmkorf etwa "Leslie Meier in Paris", der er in Personalunion war, überschwänglich lobte. Oder wenn Hans Bender, der gemeinsam mit Walter Höllerer 1952 die Literaturzeitschrift "Akzente" gründete, davon berichtet, wie er und sein Mitjuror, Ferdinand Lion, 1958 für den Hugo-Jacobi-Dichter-Preis exakt zwei Autoren nominierten. In direkter Konkurrenz traten an: Peter Rühmkorf und Leslie Meier. Als Sieger konnte sich Rühmkorf durchsetzen.
Schnell hatte Rühmkorf jede Form literarischer Neuerscheinungen im Blick, von Hans Henny Jahnn bis zum heute weithin vergessenen Lyriker und Essayisten Georg Maurer, der mit "Ich sitz im Weltall auf einer Bank im Rosental" jüngst ein kleines Comeback feiern konnte. Rühmkorf zeigte sich so begeisterungsfähig, als ginge es an Weihnachten konsequent darum, statt einzelner Kerzen immer gleich den ganzen Baum anzuzünden. Von Arno Schmidts "Das steinerne Herz" hingerissen, zückt er gleich mal die Denkfigur der Zäsur: "Ich betone: hier ist nicht mehr zu loben wie seine dichtenden Altersgenossen gelobt wurden, hier hat ein Ereignis stattgefunden, das neue Maße herausfordert, hier ist das erste Buch, das die Generation rechtfertigt, der Schmidt angehört."
Im Begeisterungstaumel bleibt sogar noch Restenergie für Kollegenschelte: "Die deutsche Literaturkritik hat einen Brocken vorgesetzt bekommen, dem die aufgeweichte Diskussionsterminologie, der Kastratenknigge von 1956 kaum gewachsen sein dürfte." Polemik konnte und liebte er. Weil es bestes Feuilleton ist.
"Das ist alles so verquirlt wie herausgegurgelt", urteilt Rühmkorf an anderer Stelle, um hinterherzuschieben: "und doch vermißt man starke und durchschlagende Formeln". Eindrücklich zeigen die beiden Bände, wie der Schriftsteller in der Reibung mit anderen künstlerischen wie kritischen Positionen seine eigene Stimme profiliert. Die Grundstimmung dieser gnadenlosen Selektionsarbeit ist grimm. Seine Kritiken erschienen in der Rubrik "Leslie Meiers Lyrik-Schlachthof". Da weiß man, wo der Weg hinführt und dass es nur in systematisch nicht vorgesehenen Ausnahmefällen überhaupt ein Überleben geben kann. Obgleich Rühmkorf ja, das zeigt ein Blick in seine Schriften "Über die Künstler und die anderen" sowie in "Wie ein Gedicht entsteht", sich zu Beginn selbst als ein bedrohter Dichter versteht.
Eine Kommunikationsform kam für Rühmkorf übrigens zu keinem Zeitpunkt infrage: die literaturwissenschaftliche. Quellenangaben oder exakte Zitate sind seine Sache nicht. Das zeigt zugleich, welche enorme wie grundlegende Arbeit jetzt die wissenschaftliche Kommentierung der Studienausgabe zu leisten hat. Was ihr mit ihrem akribischen, aber nie aufgesetzten Apparat in schönstmöglicher Form gelingt. Denn die Gestaltung der Ausgabe, verantwortet von Friedrich Forssman, überzeugt in ihrer Übersichtlichkeit und kompositorischen Eleganz absolut.
Am nachhaltigsten aber wirken Rühmkorfs poetische Reflexionen dort, wo sie durch versierte Lektüre und literaturhistorische Tiefenkenntnis brillieren. In wenigen Sätzen fasst er spezifische Verfahren (Denaturierung, Reduzierung der Natur auf geometrische Muster) der Nachkriegsmoderne. Hellsichtig markiert er die Verlegenheit der Lyrik, nach der Avantgarde um 1900 abermals mit einem engen Bildmaterial das Nichts umkreisen zu wollen (oder zu müssen). Um im nächsten Augenblick anzuerkennen, dass Celan genau dies auf faszinierende Weise gelinge. Solche in die Kritiken und Reflexionen gestreuten Passagen triumphieren auch noch über den essayistisch vorgetragenen Ratschlag, die Finger von Mondgedichten zu lassen, obwohl gerade dieser Beitrag nachweislich auf Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann gewirkt hat.
Zum literaturkritischen Autor gereift - die Werkausgabe reicht uns den spektakulären Erfolg des "Irdischen Vergnügens in g" ja noch nach - zeigt Rühmkorf sich mit den beiden Monographien, welche die Bände jeweils abschließen. In der Literaturkritik widmet er sich in einer Rororo-Biographie Wolfgang Borchert, dem Autor "Der Generation ohne Abschied"; der "Jugend ohne Jugend" fühlte sich Rühmkorf aufs Engste verbunden. Einerseits, denn andererseits zeigt Rühmkorfs "Über das Volksvermögen", mit dem die "Schriften zur Poetik" schließen, wie weit und wagelustig sich der selbsternannte "wilde Denker" Mitte der Sechzigerjahre von den Nachkriegsleiden gelöst hat.
Die kommentierte Sammlung geläufiger Umgangspoesie - von Abzählreimen bis zum Schlagertext - zeigt Rühmkorfs sprühende Provokationslust und kompositorische Leichtigkeit, und das nicht erst, wenn der Autor in seinem Nachwort doch noch einen Toilettenspruch in seine Sammlung einschmuggelt. Was für eine wunderbare Weitsicht und Offenheit nimmt hier Raum, die den literaturkritischen Dichter von jetzt an zu seiner unbestreitbaren historischen Größe tragen wird. CHRISTIAN METZ
Peter Rühmkorf:
"Sämtliche Werke". Bd. I/12: Literaturkritik (1953 -1962).
Hrsg. von Stephan Opitz und Barbara Potthast. Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 548 S., Abb., geb., 29,- Euro.
Peter Rühmkorf:
"Sämtliche Werke". Bd. I/9: Schriften zur Poetik (1953 -1967).
Hrsg. von Hans-Edwin Friedrich. Wallstein Verlag, Göttingen 2023. 532 S., Abb., geb., 34,- Euro.
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