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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
es ja wissen
In dem Buch „Sätze, die die Welt verändern“
gibt Bruno Preisendörfer Geschichtsstunden,
die man sich als Schüler gewünscht hätte.
VON GERHARD MATZIG
Wissen.de ist ein „Wissensportal“ im Internet. Weshalb man denkt, na gut, die müssen es ja wissen – und so folgt man der Google-Spur. Eingegeben hat man zuvor in der Suchmaschine das bis zum Überdruss bekannte, zu Tattoo, Kalenderspruch und Kaffeetassen-Motiv gewordene Zurück-zur-Natur-Zitat. Auf Anhieb spuckt das Wissensportal dies aus: „Jean-Jacques Rousseau: Zurück zur Natur“. Rousseau, „der Begründer der modernen Kulturkritik“, rotiert also wieder mal im Grab. Doch niemand kann ihn hören. Außer Bruno Preisendörfer.
Rousseaus Grab befindet sich – Wikipedia zufolge – im Panthéon in Paris. Aber weil man dort, bei Wikipedia, auch lesen kann, dass „der Rousseau verkürzend zugeschriebene Aufruf ,Zurück zur Natur!‘ zahlreiche Anhänger auf theoretischer Ebene wie auch in der gesellschaftlichen Praxis fand“ – misstraut man nun dem großen Haufen an Wissensartigem im Netz. Immerhin kann Preisendörfer in seinem wundervoll belehrenden, wundervoll besserwissenden und wundervoll unterhaltsamen Buch „Sätze, die die Welt verändern“ Rousseaus Grab in der französischen Ruhmeshalle bestätigen. Aber das Zitat, das den französischen Philosophen und Naturforscher berühmt machte, wird nicht verifiziert. Im Gegenteil. In dem kühn durch die halbe Geistesgeschichte eilenden Buch heißt es: „Die Parole ,Zurück zur Natur‘ indessen stammt nicht von ihm.“ Also nicht von Rousseau. Sie „findet sich im System der Natur von Paul Thiry d’Holbach und wird dort ,Mutter Natur‘ selbst in den Mund gelegt (...) Rousseau selbst wehrte sich gegen die ,Beschuldigung, daß er Wissenschaften, Künste, Theater, Akademien zerstören und die Welt in die erste Barbarei zurückstoßen wollte‘.“
Trotzdem, siehe oben, ist die Nachrede, Rousseau habe für die Rückkehr in den Naturzustand plädiert, bis heute zu hören. Auch Claude Lévi-Strauss vermochte das nicht zu ändern. Er meinte Mitte der Fünfzigerjahre, Rousseau werde „verleumdet und mißverstanden“. Tatsächlich zielt dessen Naturphilosophie auf einen ganz anders gelagerten Naturbegriff, in dem das scheinbar Natürliche als Urgrund menschlicher Existenz mit dem scheinbar Artifiziellen menschlicher Entwicklung gar nicht erst verrechnet wird.
Was aber Preisendörfers Art der liebevoll wissenden Korrektur so lesenswert macht, ist nicht das Rotstift-Moment (Rousseau hat das also gar nicht gesagt), sondern der Kontext: Was hat Rousseau denn wirklich gesagt? Vor allem: Wie kam es zu der falschen Zuschreibung – und was ist daraus zu lernen? Und zwar für die Gegenwart. In diesem umfassenden Sinn wird man als Leser an die Hand genommen, um der Wirkungsgeschichte eines Zitats bis ins Heute folgen zu können – und bereist so die Geistesgeschichte mit leichtem Gepäck, großem Staunen und, typisch Preisendörfer, mit enormer Leselust. Preisendörfer war nicht umsonst erst Jounalist, um danach Autor zu werden. Seine Reisen etwa in die Goethezeit, Lutherzeit, Bachzeit, Bismarckzeit, wo er zum Beispiel, um bei Goethe zu bleiben, einem Deutschland, das noch nicht Deutschland war, nachspürt, sind Geschichtsstunden, wie man sie sich in der Schule gewünscht hätte vor lauter Langeweile und tödlicher Jahreszahlenbesoffenheit.
Der Zeitreisende ist ein gewiefter Erzähler – und in seinem neuen Buch sogar verrückt genug, um zum Beispiel im Text über Sokrates, der weiß, dass er nichts weiß, aber eigentlich nur weiß, dass er nicht (!) weiß, die Sokrates-Forschung zu alarmieren, indem er auch mal dies bemüht: „Annabelle, ach Annabelle / Du bist so herrlich intellektuell“. Von Reinhard Mey über Sokrates, Platon, Aristoteles bis Sartre und Gadamer – das muss man sich erst mal trauen. Zu den Sätzen, die die Welt verändern oder auch nur die Art, wie über die Welt gesprochen wird, gehört auch „Wissen ist Macht“, der „Krieg aller gegen alle“, das „Sein und Bewusstsein“ und: „Gott ist tot.“ Wobei es Preisendörfer nicht um historische Fake-Zitate („Hier stehe ich und kann nicht anders“) oder Anekdotenkarrieren („Auch du, mein Sohn Brutus“) geht, sondern um Sentenzen, die philosophisch, ideologisch und politisch folgenreich sind. Das geht weit über den Zitate-Bildungsschatz hinaus, der mittlerweile im Internet eine digitale Entsprechung auf StudySmarter hat: „Die klügsten Zitate zum Nachdenken“.
Ein Beispiel für die Relevanz jenseits smarter Studien ist die eigentlich beiläufige Erwähnung der „unsichtbaren Hand“ im Werk des philosophierenden Ökonomen Adam Smith, der auch ökonomisierender Philosoph war. Preisendörfer hat dessen beide Hauptwerke Seite für Seite durchforstet auf der Suche nach der unsichtbaren Hand, die aber nahezu unsichtbar bleibt. Sie wird genau zwei Mal wie nebenher erwähnt. Warum dieses Sinnbild dennoch eine so einzigartige Karriere gemacht hat, ist die eigentlich spannende Frage. Sie wird beantwortet im Buch.
Dieses anregende Buch ist nicht der Rechthaberei gewidmet, sondern der sehr viel sympathischeren Denkhaberei. Schon deshalb kann man diese Kritik nur mit zwei Hinweisen beenden. Erstens: Das Buch ist ein fantastisches Reiseabenteuer durch die Ideengeschichte. Zweitens: Dem Deutschlandfunk hat Bruno Preisendörfer ein Interview gegeben, worin er – um auf Kant zu kommen – den Architekten Adolf Loos zitiert, beziehungsweise „sein berühmtestes Buch ,Ornament als Verbrechen‘“.
Herrlich. Denn das ist falsch zitiert. Richtigerweise (so steht es auch in Preisendörfers schlauem Buch) heißt der Aufsatz aus dem Jahr 1908 „Ornament und Verbrechen“. Und. Nicht als. Das ist ein fundamentaler Unterschied, der oft ignoriert wird. In diesem Fall, in verzeihlicher Interviewsituation, sogar von der amtierenden Falschzitate-Letztinstanz. Das ist eine schöne Pointe. Aber wie Preisendörfer in seinem exzellenten Buch nachweist: Der Sinn von Genauigkeit besteht nicht im Rechthaben, sondern im Weiter-, Um- und Andersdenken. Man könnte auch sagen: im Reisen.
Bruno Preisendörfer: Sätze, die die Welt
verändern – Eine
Gedankenreise von
Sokrates bis Nietzsche. Galiani Berlin Verlag, Berlin 2023.
336 Seiten, 25 Euro.
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