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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Revolutionäre Kakophonie, und der böse Nachbar wartet schon: Der ukrainische Autor Andrej Kurkow rückt in einem Kriminalroman die Geschichte seiner Heimat ins Licht
Darf man im Krieg satirische Geschichten erzählen? Andrej Kurkow, geboren in Sankt Petersburg und aufgewachsen in Kiew, hat sich seit Beginn des russischen Angriffskrieges vom Prosaschreiben verabschiedet und sieht sich nunmehr als Dokumentarist und Kommentator des aktuellen Geschehens. Niemand sei jetzt noch mit Romanen beschäftigt. "Für mich gibt es keine Beziehung zu Russland mehr", sagte Kurkow unlängst, und als Präsident des ukrainischen PEN-Clubs fordert er gar den Total-Boykott russischer Kultur. Dass jetzt die Übersetzung des ersten Bandes von Kurkows mit Schwung und Witz erzählter Krimi-Reihe über "Samson und Nadjeschda" auf Deutsch erscheint, könnte also wundernehmen. Aber sind fiktive, satirische Geschichten, ja sogar das Lachen nicht gerade in Zeiten des Krieges wichtig, eben weil sie sich dessen Logik konsequent widersetzen?
Er selbst habe seinen Humor verloren, so Kurkow, und im Übrigen sei die einzige Errungenschaft der Europäer und Amerikaner angesichts des Angriffskrieges ihre Einsicht, dass sie nichts über die Ukraine, ihre Kultur und Geschichte wüssten. Der im Original bereits 2020 erschienene Auftaktband zur Reihe "Samson und Nadjeschda" schafft Abhilfe, denn die um 1919 in Kiew angesiedelte faktengesättigte Kriminalgeschichte über die Anfänge des ukrainischen Nationalstaates ist zugleich ein satirisches Mentalitätsporträt seiner Bewohner. Es ist dunkel in diesem Roman, dunkel und kalt, denn seit der Absetzung des Zaren herrscht Mangel an allem, an Salz, Zucker, Brot, Brennholz und Elektrizität. Im Bürgerkrieg kämpfen kosakische Aufrührer, bolschewikische Rotarmisten, von den deutschen Militärbesatzern unterstützte Nationalisten und die antibolschewikische "Weiße Armee" um die Vorherrschaft im konfessionell, ethnisch und kulturell zerklüfteten Land.
Kurkow mangelt es nicht an Reverenzen an die ukrainische Literaturgeschichte. Die schnörkellose, knappe Sprache und das Anarchisch-Absurde in einem System aus Gaunerei und Gerüchten erinnern an die grotesken Szenarien von Michail Bulgakow und Isaak Babel. Das zentrale Motiv seiner Geschichte, eine abgetrennte Ohrmuschel, verweist auf die berühmte Novelle "Die Nase" des ebenfalls ukrainischstämmigen Nikolaj Gogol. Gewalt, Chaos und eine omnipräsente subtile Ironie stehen im Mittelpunkt von Kurkows literarischer Bühne. Bereits auf der ersten Seite wird Samsons Vater von marodierenden Kosaken auf offener Straße der Schädel eingeschlagen und dem Sohn sein rechtes Ohr abgetrennt - eine Schlüsselszene, die in präzisen, schmucklosen Sätzen auch in der deutschen Übersetzung ein mitreißendes Tempo vorgibt. "Samson sah es fallen, konnte noch die Hand ausstrecken, fing es auf und hielt es festumschlossen in der Faust, während sein Vater mit gespaltenem Schädel direkt auf die Straße stürzte und das Pferd ihn mit einem beschlagenen Hinterhuf noch einmal niedertrat."
Nicht etwa, dass sich Samson in Trauer oder Selbstmitleid erginge. Unversehens kehrt er in die elterliche Wohnung zurück, schiebt nach kurzem Innehalten je eine Kugel auf dem Abakus für seinen Vater und die zuvor bereits verstorbene Mutter und Schwester hinüber, zieht "einen Strich unter sein vergangenes Leben" und wendet sich wieder den schrulligen Launen der Wirklichkeit zu.
Als unbedarfter Held stolpert Samson durch die Wirren der postrevolutionären Gesellschaft und durch sein Leben voller unwahrscheinlicher Zufälle. Weil er nicht nur lesen und schreiben, sondern auch lesbare Berichte verfassen kann, wird er unvermittelt zur Miliz der gerade in Kiew herrschenden Bolschewiken berufen. Den Doppelmord im Milieu der Silberschmuggler und Brennholzdiebe ermittelt der herrlich naive Kommissar vor allem mithilfe seines Gehörs. Die abgetrennte Ohrmuschel lässt ihn nämlich immer dort mithören, wo er das sorgfältig konservierte Organ gerade platziert. Diese Referenz an die entstehende Überwachungsgesellschaft baut Andrej Kurkow gekonnt aus zu einem auditiven Porträt des nächtlichen Kiews. In der "revolutionären Kakofonie", in der es "Waffen wie Sand am Meer und Ordnung keine mehr gibt", klappern Droschken, knarzen Holztreppen, knirschen verrostete Riegel, knallen Schüsse, erschallt das Echo davonlaufender Füße, klopft es brutal an der Tür oder klackern verräterisch die Metallbeschläge an den Stiefeln der Miliz. Ganze Szenen beschreibt Kurkow detailliert über den Gehörsinn, denn vieles spielt auf den Straßen und Plätzen der dunklen Nacht, wenn die Beleuchtung einmal mehr ausgefallen ist.
Auch am Tage sieht es derweil nicht besser aus, denn ausschließlich schlecht und ärmlich gekleidete Passanten kreuzen Samsons Wege als Ermittler, "auch wenn die Gesichter einiger sie als die Teilnehmer an einer Maskerade verrieten, bei der niemand durch seinen Aufzug auffallen wollte". Andrej Kurkow ist überzeugt, dass den Russen der Platz im Kollektiv und die systemische Stabilität wichtiger sei als die Freiheit, während die Ukrainer Individualismus und "organisierte Anarchie" vorzögen. Diese scharfe Mentalitätsanalyse findet sich auch in seinem Roman wieder. Während die aus dem Osten gesandten Bolschewiken sich einer erbarmungslosen Bürokratie unterordnen, ruft allein der Gedanke an die neue Macht bei Samson ein kummervolles Lächeln hervor: "Der finstere Himmel versprach Regen, aber das tat er schon seit dem Morgen, und das Volk hatte aufgehört, Blicke hinaufzuwerfen, weil es begriffen hatte, dass Versprechungen in der heutigen Zeit nichts wert waren. Nicht einmal die Versprechen der Natur."
Unerschütterlich bahnt Samson sich als frisch gekürter Milizionär seinen Weg durch das Chaos, in dem unsicher ist, ob man einen nächtlichen Spaziergang überlebt und welche Währung gültig, welche Gruppe an der Macht und welche politische Haltung gerade opportun ist. Samsons Verlobte Nadjeschda, eine Funktionärin im Amt für Statistik, die im vorliegenden ersten Band der Reihe nur eine Nebenrolle einnimmt, inszeniert der Autor als Beispiel des "künftigen Menschen", der "entschieden, fleißig und gutherzig sein soll". Kurkow, der auf Russisch schreibt und dessen Bücher in Russland seit Jahren verboten sind, hat mit "Samson und Nadjeschda" einen augenscheinlich unpolitischen Unterhaltungsroman geschrieben, der gleichwohl hintergründige Erkenntnisse über die ukrainische Staatswerdung und die Auseinandersetzung mit der politischen und auch kulturellen Bevormundung durch den großen Nachbarn ins Licht rückt. Er beweist, dass satirische Geschichten auch und gerade in Kriegszeiten geschrieben und gelesen werden müssen. Am Ende, als Samson mit Nadjeschdas Hilfe den Doppelmord aufklärt, erfüllt sich im bürgerkriegsgebeutelten Kiew sogar seine größte Sehnsucht, einfach der Stille zu lauschen. CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Andrej Kurkow: "Samson und Nadjeschda". Roman.
Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing. Diogenes Verlag, Zürich 2022. 367 S., geb., 24,- Euro.
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