Ein Paar befürchtet, ihre Freunde könnten sie für Langweiler halten; eine Frau führt uns vor, wie schwierig es ist, Prioritäten im Alltag herzustellen; eine andere möchte sich selbst gerne als nichts begreifen und muss entdecken, dass das ein zu hochgestecktes Ziel ist; ein Bestattungsunternehmen bekommt einen Beschwerdebrief wegen sprachlicher Unzulänglichkeiten in seinem Werbematerial; wir werden in Überlegungen hineingezogen, welches die Bedingungen für glückliche Erinnerungen sind, lesen über die glückliche Ehe eines siamesischen Zwillingspaars, über die Ungleichbehandlung von Kindern und Wörterbüchern, einen knappen Bericht über einen Massenmord in Böhmen und eine Familienzusammenführungsgeschichte mit Schluckauf. Willkommen in der Welt von Lydia Davis und ihren Erzählungen, die manchmal 30 Seiten, manchmal nur eine Zeile lang sind, und immer die Tücken des Verhältnisses von Sprache und Welt verhandeln – mit Ernst und Witz, ungewöhnlich und raffiniert und niemals langweilig! Die »stille Gigantin der amerikanischen Literatur« ist auch in diesem Band aus dem Jahr 2002 eine Offenbarung für alle, die wissen wollen, was Literatur eigentlich kann und wie sie das anstellt.
buecher-magazin.deAlle Texte sind immer zu lang. Wer schon einmal etwas redigiert hat, weiß das. Für Texte von Lydia Davis gilt das nicht. Diese spröden, klugen, oft witzigen, oft verstörenden, sich ins Groteske drehenden Miniaturen enthalten keine überflüssigen Wörter. Sie zu übersetzen muss Millimeterarbeit sein. Eine der Kurzgeschichten, "A Mown Lawn", ist so sehr Sprachspiel, dass Klaus Hoffer sie als "Mond-Land" nachdichtete und einen völlig anderen Text erzeugte. Den er übrigens zurückübersetzte und dem englischen Original in einem Nachwort gegenüberstellt. Das ist erfreulich wie eine dieser kleinen Szenen, die im Kino manchmal nach dem Abspann kommen. Die Zugabe ist verdient, schließlich musste das deutsche Publikum auf die Übersetzung dieser Texte 16 Jahre warten. "Wir kennen nur vier langweilige Leute. Alle übrigen Freunde finden wir interessant. Aber die meisten Freunde, die wir interessant finden, finden uns langweilig; die Interessantesten finden uns am allerlangweiligsten." Lydia Davis schreibt über eigenartige Sozialgefüge, über Ehepaare in getrennten Schlafzimmern und Schwestern, "nicht mehr jung", im selben Bett, über miteinander verheiratete siamesische Zwillinge und das Leben Marie Curies.
© BÜCHERmagazin, Elisabeth Dietz (ed)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.05.2018Fass-Nacht
Die Avantgarde lebt! Neue Erzählungen der Amerikanerin Lydia Davis
Es ist an der Zeit, den österreichischen Literaturbegriff zu erweitern. Nicht nur der amerikamüde Nikolaus Lenau gehört dazu und der entlaufene Priester Charles Sealsfield, sondern auch Lydia Davis, geboren 1947 als Tochter solider amerikanischer Kommunisten. Mit sieben steckten die Eltern sie für ein Jahr zu den Ursulinen in Graz, eine Klosterschule, so fromm und streng wie bei Barbara Frischmuth geschildert. Trotzdem wurde noch was Rechtes aus ihr: Davis übersetzte Maurice Blanchot und Marcel Proust und schreibt an der amerikanischen Ostküste Miniaturen, wie es sie seit dem Beginn des Grazer Forums Stadtpark nicht mehr zu lesen gab.
„In der Stadt Frýdlant in Böhmen, wo ohnehin alle Leute blass sind wie Gespenster und dunkle Winterkleidung anhaben, konnte eine alte Frau den unausweichlichen Abstieg ihres Lebens in Armut und Schande nicht länger ertragen, wurde verrückt und brachte aus Mitleid ihren Mann, ihre beiden Söhne und ihre Tochter um, aus Wut die Nachbarn an ihrer Straßenseite und die Nachbarn an der gegenüberliegenden Straßenseite“, und so munter weiter. Das ist aber kein Schwedenkrimi, sondern Ausgeburt eines eminent literarischen Gehirns.
Das Unbehagen an der zuhandenen Sprache übersetzt Lydia Davis in absurd-wahre Geschichten. Kann sein, dass sie ihre eigenen Eltern meint, wenn sie von der alten Mutter und dem Griesgram erzählt, muss aber nicht sein. Die beiden kennen sich so gut, dass sie beständig streiten, „über Reisepläne, ihre Eltern, seine Arbeit, ihre Arbeit und, neben anderem, über seien Katze. Sie haben bislang noch nicht über spezielle Einkäufe, Anschaffungen für das Haus, Naturlandschaften, Wildtiere, die Stadtverwaltung und die örtliche Bibliothek gestritten“.
Mit Psychologie, Einfühlungsvermögen, Charakterzeichnung, den üblichen Sättigungsbeilagen üblicher Romane, hat das nichts zu tun, es ist bloß so komisch, wie es immerwährende Ehen für die Beteiligten nicht sind. „Die Alte Mutter macht eine unfreundliche Bemerkung über eine ihrer Lampen. Der Griesgram ist überzeugt, dass die Alte Mutter ihn treffen will. Er versucht herauszufinden, was sie damit über ihn sagt, kann’s aber nicht und sagt also nichts.“
Eine der kürzesten Miniaturen hat dem Buch den Titel geliefert: „Samuel Johnson ist ungehalten“. Nach der Überschrift folgt nur noch ein Finalsatz „Dass Schottland so wenige Bäume hat“. Das versteht nur, wer der unheilbar wortverliebten Lydia Davis folgen kann: Der große Lexikograf Dr. Johnson hatte sich nämlich einmal doch aus der Wörterwelt ins Freie gewagt und versucht, zusammen mit seinem Verehrer James Boswell den Norden zu erkunden und dort möglichst alles zu botanisieren, was ihnen vor die Augen kam. Gemessen an den Büchern musste ihn Schottland enttäuschen.
Kafkaesk mag das nennen, wer mag, es ist aber trotzdem was Eigenes, davisesk also vielleicht, lydiaesk, ein Wortbildungs- und Erfindungsfest in unerbittlicher Präzision. Die bewahrt der Übersetzer Klaus Hoffer, auch wenn er sich (auf ausdrücklichen Wunsch von Davis) in der Geschichte „Mond-Land“ (Moon Land) nicht an die wortwörtliche Bedeutung hält, sondern allein dem Lautwert und dem Rhythmus folgt und dabei ein berüchtigtes Foto aus dem Vietnamkrieg beschwört: „Das Mädchen … Gangräne. Wundbrand. Brandrot. Brandgerodetes Land. Flammenland. Mordland. Man kam in ihr Land, und das Land hieß Nam: Man, rückwärts gelesen. Landnahme. American man: Langnase flämmte das Land.“
Da ist dann schnell die Sprachhöhe erreicht, auf der eine Geliebte den Meister von Meßkirch parodierte, der hier um den rechten Begriff von der Fasnacht ringt: „Das Fassende des Fassbaren ist die Nacht. Sie fasst, indem sie übernachtet. So gefasst, nachtet das Fass in der Nacht. Was fasst? Was nachtet? Dasein nachtet fast.“ Martin Heidegger, das sei hier als Prolegomenon einer künftigen gesamtösterreichischen Literaturgeschichte angeboten, wäre demnach doch kein Epigone Ernst Jandls (was er schon aus generationellen Gründen nicht sein kann), sondern sein Vor-Denker, sein Johannes der Täufer. Aber schließlich ist bereits ein anderer Meßkirchner, der Augustinermönch Johann Ulrich Megerle, erst in Graz und Wien zu Ruhm gekommen, wo er unter dem Künstlernamen Abraham a Santa Clara als Hofprediger wirkte. Das nur nebenbei.
Die Übertragung des Grazer Autors Klaus Hoffer entspricht dem amerikanischen Original vollkommen und hat doch fast nichts mehr damit zu tun. Im Anhang hat er seine deutsche Fassung deshalb in eine neue englische Version übersetzt, die nach dem Gesetz der „Stillen Post“ natürlich erst recht nichts mehr mit dem Ausgangstext zu tun hat.
„Da mein Gehirn mein einziges Werkzeug zur Beobachtung meines Denkens ist, kann ich unmöglich objektiv sein“, heißt es einmal, aber was ist schon objektiv und wer außer den Rechenschiebern aller Länder braucht es? Literatur ist niemals objektiv, das ist doch das Schöne an ihr. Aber noch schöner ist, dass die Avantgarde lebt. Sie hört auf den Namen Lydia Davis und lebt als Freigeist im Forum Stadtpark in Graz, U. S. A.
WILLI WINKLER
Lydia Davis: Samuel Johnson ist ungehalten. Stories. Aus dem Amerikanischen von Klaus Hoffer. Droschl Verlag, Graz 2017. 216 S.,
22 Euro. E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Avantgarde lebt! Neue Erzählungen der Amerikanerin Lydia Davis
Es ist an der Zeit, den österreichischen Literaturbegriff zu erweitern. Nicht nur der amerikamüde Nikolaus Lenau gehört dazu und der entlaufene Priester Charles Sealsfield, sondern auch Lydia Davis, geboren 1947 als Tochter solider amerikanischer Kommunisten. Mit sieben steckten die Eltern sie für ein Jahr zu den Ursulinen in Graz, eine Klosterschule, so fromm und streng wie bei Barbara Frischmuth geschildert. Trotzdem wurde noch was Rechtes aus ihr: Davis übersetzte Maurice Blanchot und Marcel Proust und schreibt an der amerikanischen Ostküste Miniaturen, wie es sie seit dem Beginn des Grazer Forums Stadtpark nicht mehr zu lesen gab.
„In der Stadt Frýdlant in Böhmen, wo ohnehin alle Leute blass sind wie Gespenster und dunkle Winterkleidung anhaben, konnte eine alte Frau den unausweichlichen Abstieg ihres Lebens in Armut und Schande nicht länger ertragen, wurde verrückt und brachte aus Mitleid ihren Mann, ihre beiden Söhne und ihre Tochter um, aus Wut die Nachbarn an ihrer Straßenseite und die Nachbarn an der gegenüberliegenden Straßenseite“, und so munter weiter. Das ist aber kein Schwedenkrimi, sondern Ausgeburt eines eminent literarischen Gehirns.
Das Unbehagen an der zuhandenen Sprache übersetzt Lydia Davis in absurd-wahre Geschichten. Kann sein, dass sie ihre eigenen Eltern meint, wenn sie von der alten Mutter und dem Griesgram erzählt, muss aber nicht sein. Die beiden kennen sich so gut, dass sie beständig streiten, „über Reisepläne, ihre Eltern, seine Arbeit, ihre Arbeit und, neben anderem, über seien Katze. Sie haben bislang noch nicht über spezielle Einkäufe, Anschaffungen für das Haus, Naturlandschaften, Wildtiere, die Stadtverwaltung und die örtliche Bibliothek gestritten“.
Mit Psychologie, Einfühlungsvermögen, Charakterzeichnung, den üblichen Sättigungsbeilagen üblicher Romane, hat das nichts zu tun, es ist bloß so komisch, wie es immerwährende Ehen für die Beteiligten nicht sind. „Die Alte Mutter macht eine unfreundliche Bemerkung über eine ihrer Lampen. Der Griesgram ist überzeugt, dass die Alte Mutter ihn treffen will. Er versucht herauszufinden, was sie damit über ihn sagt, kann’s aber nicht und sagt also nichts.“
Eine der kürzesten Miniaturen hat dem Buch den Titel geliefert: „Samuel Johnson ist ungehalten“. Nach der Überschrift folgt nur noch ein Finalsatz „Dass Schottland so wenige Bäume hat“. Das versteht nur, wer der unheilbar wortverliebten Lydia Davis folgen kann: Der große Lexikograf Dr. Johnson hatte sich nämlich einmal doch aus der Wörterwelt ins Freie gewagt und versucht, zusammen mit seinem Verehrer James Boswell den Norden zu erkunden und dort möglichst alles zu botanisieren, was ihnen vor die Augen kam. Gemessen an den Büchern musste ihn Schottland enttäuschen.
Kafkaesk mag das nennen, wer mag, es ist aber trotzdem was Eigenes, davisesk also vielleicht, lydiaesk, ein Wortbildungs- und Erfindungsfest in unerbittlicher Präzision. Die bewahrt der Übersetzer Klaus Hoffer, auch wenn er sich (auf ausdrücklichen Wunsch von Davis) in der Geschichte „Mond-Land“ (Moon Land) nicht an die wortwörtliche Bedeutung hält, sondern allein dem Lautwert und dem Rhythmus folgt und dabei ein berüchtigtes Foto aus dem Vietnamkrieg beschwört: „Das Mädchen … Gangräne. Wundbrand. Brandrot. Brandgerodetes Land. Flammenland. Mordland. Man kam in ihr Land, und das Land hieß Nam: Man, rückwärts gelesen. Landnahme. American man: Langnase flämmte das Land.“
Da ist dann schnell die Sprachhöhe erreicht, auf der eine Geliebte den Meister von Meßkirch parodierte, der hier um den rechten Begriff von der Fasnacht ringt: „Das Fassende des Fassbaren ist die Nacht. Sie fasst, indem sie übernachtet. So gefasst, nachtet das Fass in der Nacht. Was fasst? Was nachtet? Dasein nachtet fast.“ Martin Heidegger, das sei hier als Prolegomenon einer künftigen gesamtösterreichischen Literaturgeschichte angeboten, wäre demnach doch kein Epigone Ernst Jandls (was er schon aus generationellen Gründen nicht sein kann), sondern sein Vor-Denker, sein Johannes der Täufer. Aber schließlich ist bereits ein anderer Meßkirchner, der Augustinermönch Johann Ulrich Megerle, erst in Graz und Wien zu Ruhm gekommen, wo er unter dem Künstlernamen Abraham a Santa Clara als Hofprediger wirkte. Das nur nebenbei.
Die Übertragung des Grazer Autors Klaus Hoffer entspricht dem amerikanischen Original vollkommen und hat doch fast nichts mehr damit zu tun. Im Anhang hat er seine deutsche Fassung deshalb in eine neue englische Version übersetzt, die nach dem Gesetz der „Stillen Post“ natürlich erst recht nichts mehr mit dem Ausgangstext zu tun hat.
„Da mein Gehirn mein einziges Werkzeug zur Beobachtung meines Denkens ist, kann ich unmöglich objektiv sein“, heißt es einmal, aber was ist schon objektiv und wer außer den Rechenschiebern aller Länder braucht es? Literatur ist niemals objektiv, das ist doch das Schöne an ihr. Aber noch schöner ist, dass die Avantgarde lebt. Sie hört auf den Namen Lydia Davis und lebt als Freigeist im Forum Stadtpark in Graz, U. S. A.
WILLI WINKLER
Lydia Davis: Samuel Johnson ist ungehalten. Stories. Aus dem Amerikanischen von Klaus Hoffer. Droschl Verlag, Graz 2017. 216 S.,
22 Euro. E-Book 16,99 Euro.
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