Während Mao gerade den »Großen Sprung nach vorn« propagiert, darf »Großmutter« Guo mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter in die Neubergstraße im sogenannten Harmoniedorf ziehen, einer neuen und einigermaßen komfortablen Siedlung auf einem Hügel, zu dessen Füßen die gigantische Dongshan-Stahlfabrik liegt. »Großmutter« wird sie vom Polizisten aus Respekt genannt, und zur Parteisekretärin der Neubergstraße wird sie, weil kein anderes Parteimitglied dort lebt. Guos Quartierinitiative wird durch den »Großen Sprung nach vorn«, mit der die Stahlproduktion in die Höhe getrieben werden soll, komplett in den Schatten gestellt. Plötzlich bauen sogar die bisher untätigen Hausfrauen des Quartiers einen Hochofen und beginnen Stahl zu schmelzen. Dabei treten sie in einen Wettstreit mit ihren Männern, den Arbeitern des Stahlwerks, darum, einen neuen Produktionsrekord aufzustellen, was damit verglichen wird, einen Satelliten ins All zu schießen. Die Stahlschmelze schlägt derweil Funken der Liebe, entfacht das Feuer der politischen Gesinnung und lässt die Flammen des Schicksals in den Himmel lodern. Wei Zhangs neuer Roman ist bunt und vielschichtig wie ein Kaleidoskop, dabei präzise beobachtet und mitreißend erzählt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.2022Der Stahl ließ sich nicht verspeisen
Wei Zhang macht aus der Katastrophe des "Großen Sprungs nach vorn" einen berückenden, auf Deutsch verfassten Komödienroman.
Heutzutage heißt alles Roman; auch wenn etwas kein Roman ist, verkauft es sich unter entsprechender Titelei eben besser. Inzwischen übersiedelt auch alle Welt nach Mitteleuropa. Und so beginnen ehemals Fremde in ehemals fremden Sprachen zu schreiben, vor allem Romane zur Bewältigung der persönlichen Geschichte. So auch Chinesinnen. Die Autorin Wei Zhang lebt und unterrichtet heute in der Schweiz. Sie blickt als Erzählerin auf ein Leben und auf ein Land zurück, das sie 1990 verlassen hat. Ihr Deutsch ist nach dreißig Jahren in der neuen Heimat superb. Das ist erstaunlich, da die meisten "Chinesen" im Ausland nicht die Sprache ihres Gastgebers erlernen und lieber in einer Chinatown untertauchen. Die Sinologenschaft vor Ort hilft ihnen ebenso fleißig wie bemüht über die sprachliche Dürre bis zum angenehmeren Lebensende hinweg.
Im Falle von Wei Zhang kann sich selbst manch deutscher Literat eine Scheibe überragendes Deutsch abschneiden. Jeder Satz ein Treffer. Roman? Ach, eher ein Dokument der Schmerzen, humorvoll verbrämt. Das Personal ist einfach zu groß: Hunderte von Personen wie im Stil lang vergangener chinesischer Zeiten. Es schwirrt der Kopf. Dennoch lässt sich leidvoll grübeln und entspannt lachen. Das ist ungewöhnlich, weil den meisten Autoren in China selbst seit 1949 der Humor abgeht, zu schwer wiegen ihnen ihre Lieblingsthemen wie Vaterland, Staat, Nation und vermeintlich fehlende Größe. Da wird entsprechend unangemessen gestöhnt und gebettelt, besonders seit 1979, seit der Öffnung Richtung Westen. Hier dagegen kommt die Leserschaft leicht davon: Sie lacht mehr, als dass sie weint. Wei Zhang hat meisterhaft die Prinzipien von Yin und Yang zur Anwendung gebracht: Das Dunkle wird das Lichte, und das Helle schlägt ins Finstere um. Ganz dem Prinzip des Buches der Wandlungen ("Yijing") verpflichtet.
Man muss viel von China verstehen, um diesen Roman zu begreifen. Es ist 1958, der "Große Sprung nach vorn" steht an: Großbritannien und die USA sollen bei der Stahlproduktion innerhalb kürzester Zeit überflügelt werden, sodass Satelliten flugs über dem Platz des Himmlischen Friedens von Peking fliegen lernen. Die Autorin ist klug genug, die damalige Tragödie mit Millionen von Toten nicht in den üblichen Klagerhythmus einzubinden. Sie entfaltet vielmehr eine Komödie, aus welcher die Frauen gestärkt und die Männer erschlafft hervorgehen. Was wollen wir mehr?
1958, das war der Versuch, ohne Fachkräfte, das heißt ohne die zum Teufel gejagte "stinkende Nummer neun" (die Intelligenzija), allein gestützt auf fachlich unvorbereitete Arbeiter und Bauern, den Übergang von der sozialistischen Realität zum kommunistischen Paradies zu schaffen - ein Paradies, welches Xi Jinping jüngst wieder als sein Ziel verkündet hat! Die heimische Küche wurde seinerzeit durch Kantinen ersetzt, die Kochgeräte eines jeden Haushaltes wanderten in die Hochöfen als fürderhin unnützes Material, und als dann das Lieblingsgericht von Mao Tse-tung, Speck mit roter Soße, nicht mehr zur Verfügung stand, brachen die Hungersnöte aus: Man hatte ja keine Pfanne mehr, um am heimischen Herd so etwas wie Schwarten fetter Schweine - großartiges Leitmotiv des Romans - zu brutzeln. Stahl, falls tatsächlich erfolgreich produziert, ließ sich nicht verspeisen.
Aus den ersehnten Satelliten über Peking werden im Laufe der Großerzählung arme Seelen in der Provinz, die gen Himmel schweben. "Satellit" ist ein weiteres der Leitmotive (neben dem Regen als zerstörender Kraft), die den Roman zu einem Meisterwerk machen. Von den kleinen Mängeln sei abgesehen, man will nicht beckmessern. Das Einzige, was missfiel, sollte dennoch zur Sprache gebracht werden: die Liebesszenen. Als wenn ein Mann sie geschrieben hätte, werden die Schönen der chinesischen Welt reduziert auf pralle Brüste, runden Po und warmen Ofen. Und die chinesischen Männer trotteln anscheinend wie Dummerchen hinterher, als hätten sie ohne jeden Verstand nichts anderes zu tun. Gefällt uns Männern dieses Männerbild? Sind "wir" wirklich diese blinden Passagiere unseres Lebens? Nach traditionellem chinesischen Verständnis ja. So gesehen, war die chinesische Frau immer stärker als der chinesische Mann, niemals untertan! Auch das kommt hier versteckt zum Ausdruck.
Der Roman handelt überwiegend von Frauen. Und das ist gut so. Warum? Chinesische Männer verstehen chinesische Frauen in der Regel weniger als wenig. Nicht nur bei Wei Zhang geht die Frau ihren eigenen Weg. Die Erzählerin hinterfragt den Irrsinn von 1958 am Beispiel der zunächst enthusiastischen, dann realistischen Weiblichkeit: gerodete Wälder, einstürzende Neubauten, Menschen, die verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Die neuen Frauen auf der neuen Bergstraße im Gegensatz zu den alten Vertretern der alten Bergstraße winden sich hoffnungsvoll von Revolution zu Revolution, von Sozialismus zum ersehnten Kommunismus. Und dann werden nach all ihren Niederlagen aus den für die Arbeiter der Stahlfabrik nebenan gedachten Trompetenhosen nichts anderes als Leichenhosen. Grandioser kann der Abgesang auf die damalige maoistische Eskapade nicht klingen.
Und wenn auch alles zur Karikatur eines nicht gelingenden Lebens wird, siegt die Erzählerin über die Vergangenheit. Sie lässt wie in russischen oder chinesischen Werken den Vorsitzenden Mao als Inspektor des Stahlwerks Dongshan auftreten und vieles für gut befinden. Die Toten waren ihm gleich. Aber nicht der Erzählerin. Dafür haben wir ihrer sanften Art zu danken. WOLFGANG KUBIN
Wei Zhang: "Satellit über Tiananmen". Roman.
Verlag Elster & Salis, Zürich 2022. 379 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wei Zhang macht aus der Katastrophe des "Großen Sprungs nach vorn" einen berückenden, auf Deutsch verfassten Komödienroman.
Heutzutage heißt alles Roman; auch wenn etwas kein Roman ist, verkauft es sich unter entsprechender Titelei eben besser. Inzwischen übersiedelt auch alle Welt nach Mitteleuropa. Und so beginnen ehemals Fremde in ehemals fremden Sprachen zu schreiben, vor allem Romane zur Bewältigung der persönlichen Geschichte. So auch Chinesinnen. Die Autorin Wei Zhang lebt und unterrichtet heute in der Schweiz. Sie blickt als Erzählerin auf ein Leben und auf ein Land zurück, das sie 1990 verlassen hat. Ihr Deutsch ist nach dreißig Jahren in der neuen Heimat superb. Das ist erstaunlich, da die meisten "Chinesen" im Ausland nicht die Sprache ihres Gastgebers erlernen und lieber in einer Chinatown untertauchen. Die Sinologenschaft vor Ort hilft ihnen ebenso fleißig wie bemüht über die sprachliche Dürre bis zum angenehmeren Lebensende hinweg.
Im Falle von Wei Zhang kann sich selbst manch deutscher Literat eine Scheibe überragendes Deutsch abschneiden. Jeder Satz ein Treffer. Roman? Ach, eher ein Dokument der Schmerzen, humorvoll verbrämt. Das Personal ist einfach zu groß: Hunderte von Personen wie im Stil lang vergangener chinesischer Zeiten. Es schwirrt der Kopf. Dennoch lässt sich leidvoll grübeln und entspannt lachen. Das ist ungewöhnlich, weil den meisten Autoren in China selbst seit 1949 der Humor abgeht, zu schwer wiegen ihnen ihre Lieblingsthemen wie Vaterland, Staat, Nation und vermeintlich fehlende Größe. Da wird entsprechend unangemessen gestöhnt und gebettelt, besonders seit 1979, seit der Öffnung Richtung Westen. Hier dagegen kommt die Leserschaft leicht davon: Sie lacht mehr, als dass sie weint. Wei Zhang hat meisterhaft die Prinzipien von Yin und Yang zur Anwendung gebracht: Das Dunkle wird das Lichte, und das Helle schlägt ins Finstere um. Ganz dem Prinzip des Buches der Wandlungen ("Yijing") verpflichtet.
Man muss viel von China verstehen, um diesen Roman zu begreifen. Es ist 1958, der "Große Sprung nach vorn" steht an: Großbritannien und die USA sollen bei der Stahlproduktion innerhalb kürzester Zeit überflügelt werden, sodass Satelliten flugs über dem Platz des Himmlischen Friedens von Peking fliegen lernen. Die Autorin ist klug genug, die damalige Tragödie mit Millionen von Toten nicht in den üblichen Klagerhythmus einzubinden. Sie entfaltet vielmehr eine Komödie, aus welcher die Frauen gestärkt und die Männer erschlafft hervorgehen. Was wollen wir mehr?
1958, das war der Versuch, ohne Fachkräfte, das heißt ohne die zum Teufel gejagte "stinkende Nummer neun" (die Intelligenzija), allein gestützt auf fachlich unvorbereitete Arbeiter und Bauern, den Übergang von der sozialistischen Realität zum kommunistischen Paradies zu schaffen - ein Paradies, welches Xi Jinping jüngst wieder als sein Ziel verkündet hat! Die heimische Küche wurde seinerzeit durch Kantinen ersetzt, die Kochgeräte eines jeden Haushaltes wanderten in die Hochöfen als fürderhin unnützes Material, und als dann das Lieblingsgericht von Mao Tse-tung, Speck mit roter Soße, nicht mehr zur Verfügung stand, brachen die Hungersnöte aus: Man hatte ja keine Pfanne mehr, um am heimischen Herd so etwas wie Schwarten fetter Schweine - großartiges Leitmotiv des Romans - zu brutzeln. Stahl, falls tatsächlich erfolgreich produziert, ließ sich nicht verspeisen.
Aus den ersehnten Satelliten über Peking werden im Laufe der Großerzählung arme Seelen in der Provinz, die gen Himmel schweben. "Satellit" ist ein weiteres der Leitmotive (neben dem Regen als zerstörender Kraft), die den Roman zu einem Meisterwerk machen. Von den kleinen Mängeln sei abgesehen, man will nicht beckmessern. Das Einzige, was missfiel, sollte dennoch zur Sprache gebracht werden: die Liebesszenen. Als wenn ein Mann sie geschrieben hätte, werden die Schönen der chinesischen Welt reduziert auf pralle Brüste, runden Po und warmen Ofen. Und die chinesischen Männer trotteln anscheinend wie Dummerchen hinterher, als hätten sie ohne jeden Verstand nichts anderes zu tun. Gefällt uns Männern dieses Männerbild? Sind "wir" wirklich diese blinden Passagiere unseres Lebens? Nach traditionellem chinesischen Verständnis ja. So gesehen, war die chinesische Frau immer stärker als der chinesische Mann, niemals untertan! Auch das kommt hier versteckt zum Ausdruck.
Der Roman handelt überwiegend von Frauen. Und das ist gut so. Warum? Chinesische Männer verstehen chinesische Frauen in der Regel weniger als wenig. Nicht nur bei Wei Zhang geht die Frau ihren eigenen Weg. Die Erzählerin hinterfragt den Irrsinn von 1958 am Beispiel der zunächst enthusiastischen, dann realistischen Weiblichkeit: gerodete Wälder, einstürzende Neubauten, Menschen, die verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Die neuen Frauen auf der neuen Bergstraße im Gegensatz zu den alten Vertretern der alten Bergstraße winden sich hoffnungsvoll von Revolution zu Revolution, von Sozialismus zum ersehnten Kommunismus. Und dann werden nach all ihren Niederlagen aus den für die Arbeiter der Stahlfabrik nebenan gedachten Trompetenhosen nichts anderes als Leichenhosen. Grandioser kann der Abgesang auf die damalige maoistische Eskapade nicht klingen.
Und wenn auch alles zur Karikatur eines nicht gelingenden Lebens wird, siegt die Erzählerin über die Vergangenheit. Sie lässt wie in russischen oder chinesischen Werken den Vorsitzenden Mao als Inspektor des Stahlwerks Dongshan auftreten und vieles für gut befinden. Die Toten waren ihm gleich. Aber nicht der Erzählerin. Dafür haben wir ihrer sanften Art zu danken. WOLFGANG KUBIN
Wei Zhang: "Satellit über Tiananmen". Roman.
Verlag Elster & Salis, Zürich 2022. 379 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der hier rezensierende Lyriker und Sinologe Wolfgang Kubin empfiehlt Wei Zhangs Roman, besser Abgesang und Schmerzensdokument, meint er, über Chinas "Großen Sprung nach vorn". Dass die Autorin ein besseres Deutsch schreibt als mancher Muttersprachler findet Kubin sagenhaft. Und auch, dass sie Humor hat (laut Kubin eine Seltenheit unter Chinesen). Das umfangreiche Personal im Text überfordert den Rezensenten zwar, dennoch scheint ihm das Buch gelungen - als unterhaltsames Yin und Yang von Dunkel und Licht. Eins stößt Kubin allerdings wirklich schlecht auf: Männer wie Trottel und Frauen, die vor allem durch Po und Brüste auffallen. Was für ein Personal!
© Perlentaucher Medien GmbH
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