U. is a 'corporate anthropologist' who, while working on a giant, epoch-defining project no one really understands, is also tasked with writing the Great Report on our society. But instead, U. spends his days procrastinating, meandering through endless buffer-zones of information and becoming obsessed by the images with which the world bombards him on a daily basis: oil spills, African traffic jams, roller-blade processions.
Is there a secret logic holding all these images together? Once cracked, will it unlock the master-meaning of our era? Might it have something to do with the dead parachutists in the news? Perhaps; perhaps not.
Is there a secret logic holding all these images together? Once cracked, will it unlock the master-meaning of our era? Might it have something to do with the dead parachutists in the news? Perhaps; perhaps not.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.06.2016Jetlag der Jetztzeit
„Satin Island“ ist ein grandioses Buch über
unsere Gegenwart: Tom McCarthy lässt darin ethnologische
Kulturtheorie zur Fiktion werden
VON CARLOS SPOERHASE
Man könnte die Besprechung des neuen Buches von Tom McCarthy, der mit „8 ½ Millionen“ eines der grandios beklemmendsten Erzählwerke der letzten Dekade geschrieben hat, so beginnen: „Satin Island“ ist der neue Roman von Tom McCarthy. In diesem Roman wird der Protagonist „U.“ (You), ein promovierter Ethnologe, von seinem in London ansässigen Arbeitgeber beauftragt, einen „Großen Bericht“ über die Gegenwart zu schreiben. Zu diesem Zweck reist er nach Turin, Paris, Budapest, Stockholm, Frankfurt am Main und schließlich nach New York. Während seiner weltumspannenden Recherchen lernt er eine Frau kennen, verliert einen Freund und beginnt, an seinem Auftrag zu zweifeln. Das alles wäre nicht falsch.
Nur: „Satin Island“ ist kein Roman. Jedenfalls nicht in einem unproblematischen Sinne. Im Gegensatz zur deutschen Übersetzung enthält der Umschlag der amerikanischen Erstausgabe einen Hinweis auf diesen Sachverhalt. Dort stehen die folgenden sechs Gattungsbezeichnungen: A Treatise, An Essay, A Report, A Confession, A Manifesto, A Novel. Ist der „Roman“ hier also das Verlegenheitsgenre, das für ein Prosawerk übrig bleibt, wenn sich alle anderen Charakterisierungen als ungeeignet erwiesen haben?
McCarthys Nicht-Abhandlung, Nicht-Essay, Nicht-Bericht, Nicht-Bekenntnis oder eben Nicht-Manifest legt keinen großen Wert auf Plot oder Figurenzeichnung. Anstelle einer durchgehenden Handlung finden sich komplex komponierte Reflexionsszenen. Und „U.“ ist weniger der Erzähler-Protagonist als vielmehr eine Figur, die selbst als Reflexionsform verstanden werden muss. Zudem sind die mit Dezimalzahlen versehenen, von 1.1. bis 14.12. fortlaufend nummerierten Absätze des Buches keine konventionellen Romankapitel, sondern erinnern an das bürokratische Genre des Memos.
„U.“ schreibt solche Memos für ein weltweit operierendes Beratungsunternehmen, das in „Satin Island“ einfach „die Firma“ genannt wird. Als studierter Ethnologe soll er für das Unternehmen die Gegenwart beobachten, aktuelle globale Tendenzen registrieren und Zukunftsszenarien entwickeln. Megatrends und Paradigmenwechsel auszurufen ist dabei ebenso Teil des Geschäftsmodells, wie permanent neue, immer nur in Großbuchstaben auftretende Begriffe zu prägen, die einen Universalschlüssel zum Verständnis der Gegenwart liefern sollen. Diese Substantive wie „Narrativ“, „Migration“, „Mutation“ oder „Superzession“ versprechen, das eine entscheidende Wort zu sein, das unsere Situation vollständig erfasst. Nur könnten diese Begriffe letztlich auch „Rosebud“ und „Rumpelstilzchen“ lauten oder eben „Satin Island“ – ein merkwürdiges Wort, das „U.“ in einem Traum erscheint.
„U.“ ist Teil eines Unternehmensbereichs, der sich seit etwa einem Jahrzehnt unter dem Namen „Corporate Anthropology“ tatsächlich etabliert hat. Internationale Unternehmensberatungen und Großkonzerne leisten sich eigene Abteilungen mit Geistes- und Sozialwissenschaftlern, die nichts anderes tun, als die Gegenwart zu beobachten, die aktuellen Arrangements kultureller Formen zu erkunden und nach einer geheimen Geometrie unserer unordentlichen Alltagswelt zu fahnden. Automobilunternehmen heuern heute vielköpfige „Kontext-Design-Teams“ an, die ein Szenario genau der Zukunftswelt erstellen sollen, in der fünf Jahre später das nächste Oberklassenmodell umherfahren soll. Und selbst im Bundeskanzleramt arbeitet seit Februar vergangenen Jahres eine Projektgruppe „Wirksam regieren“, für die anthropologisch geschulte Referenten gesucht wurden.
„Satin Island“ ist aber nicht nur eine kritische Reflexion darüber, dass die an Universitäten gelehrten Verfahren der kulturellen „Kontextualisierung“ mittlerweile hauptsächlich für die Gestaltung von Dienstleistungen und Produkten gebraucht werden. Vielmehr nährt die Lektüre den Verdacht, dass sich heute die besten Gegenwartsdiagnosen eben nicht mehr im Feuilleton oder in Merve-Bändchen finden lassen, sondern in den internen Memos finanziell bestens ausgestatteter Unternehmensabteilungen. In „Satin Island“ wird „U“ mit der Aufgabe betraut, einen „Großen Bericht“ zu schreiben, der die Gegenwart erfassen und ihre grundlegenden Muster freilegen soll.
Damit fangen die Probleme jedoch an. Denn wie soll man einen solchen Bericht über die Gegenwart schreiben, wenn man selbst Teil dieser Gegenwart ist? In der klassischen Ethnologie gibt es, wie „U.“ immer wieder betont, eine genaue Grenzziehung zwischen dem „Feld“ und dem „zu Hause“. So halten es auch die Heroen des Fachs: Bronisław Malinowski reiste zu seiner Zeit von London in die Südsee, Claude Lévi-Strauss von Paris nach Südamerika. Wo aber hört in der gegenwärtigen Kultur das Eigene auf und wo fängt das Fremde an? „U.“ fragt sich, ob er die Freunde, mit denen er im Rahmen seines Dissertationsprojekts zur Ethnografie der Klubkultur abends tanzen ging, als „Informanten“ bezeichnen darf: Was tun, wenn die Grenzen zwischen Beobachtung und Teilnahme vollständig verschwinden? „Zählt Sex, den du mit einer Informantin im Lycra-Minirock um fünf Uhrmorgens auf deinem Schreibtisch hast, während ihr beide auf einem Trip seid?“ Ist das noch „Forschung“? McCarthys „U.“ ist klar, dass es eine Distanz zwischen Beobachter und Gegenstand geben muss, wenn man als Wissenschaftler arbeiten möchte, aber wie bemisst sich diese Distanz? Lässt sie sich in Kilometern oder in Tagen berechnen? Reicht ein Jahr oder nur ein Jahrhundert aus, um diese Distanz herzustellen? Es genügt jedenfalls nicht mehr, wie noch Lévi-Strauss einen Ozean zu überqueren. Denn die Reise über den Ozean führt nicht mehr zwangsläufig zu einer Begegnung mit dem schlechthin anderen, sondern nur in eine von sehr vielen ausgedehnten Übergangszonen, die weder ganz das Eigene noch das ganz Fremde sind.
Auch die temporalen Ordnungen sind zunehmend durch Interferenzen charakterisiert. Unsere Moderne ist für „U.“ ein „bewegliches Mischverhältnis“. „Satin Island“ lässt unsere Gegenwart als durchgängig transistorisch erscheinen, als eine Phase, die weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft einen festen Halt findet. Heute gibt es, wie es gleich zu Beginn heißt, keine Rückbindung der Zeit an ein Jahr null, das die geschichtliche Realität strukturiert und uns sagen könnte, was davor und was danach war und vor allem: was noch kommen wird. Es bleibt nur eine Gegenwart, die so total geworden ist, dass ihr letztlich die Bezugspunkte fehlen, um zu beurteilen, ob sie sich bewegt, und wenn ja, wohin und mit welcher Geschwindigkeit. Der Verdacht einer global konvergierenden Stagnation lässt sich deshalb genauso wenig belegen wie entkräften.
„Satin Island“ beginnt und endet mit den Nicht-Orten, die für unsere Gegenwart charakteristisch sind: Ein Flughafen-Terminal in Turin, ein Fähr-Terminal in Manhattan. „U.“ hängt immer wieder im Verkehr zwischen zwei Orten fest. Man gewinnt den Eindruck, dass der Roman einen metaphysischen Jetlag versinnbildlichen soll: was es bedeutet, sich permanent zugleich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Zeitzonen zu befinden, aber nirgendwo voll und ganz zu sein.
„U.“ möchte auf diese Konstellation mit einer neuen Ethnologie reagieren, die sich als Live-Schaltung zur Gegenwart versteht. Einer Ethnologie, die diese Gegenwart schon in dem Moment zu beschreiben in der Lage ist, in dem sie sich erst zaghaft herauszubilden beginnt. „U.“ träumt davon, der Begründer einer neuen „Präsensanthropologie“ zu werden, die ihm akademischen Ruhm bescheren soll. Und finanziellen Erfolg, wie sein Reflex verrät, sein Verfahren sogleich mit einem Warenzeichen zu versehen: „PräsensanthropologieTM“. Auf Konferenzen wird seine ambitionierte These jedoch allenfalls mit höflichem Applaus quittiert.
Kann die laufende Gegenwart überhaupt Gegenstand des Endloskommentars einer solchen „Präsensanthropologie“ werden? Lässt sich ihre Lebendigkeit bewahren, wenn man sie sofort in kulturtheoretische Kategorien übersetzt? „U.“ richtet sein Projekt deshalb neu aus. Es soll nicht mehr nur ein Reflexionsprozess sein, sondern politische Aktion, sogar bewaffneter Widerstand: „Mein Netzwerk aus hochgebildeten, bestens trainierten Staatsfeinden, bewaffnet mit den neuesten, anthropologiegestützten Vernichtungstechniken, würde aus den sexyesten, bestgekleideten und orgasmischsten Revolutionären aller Zeiten bestehen.“
Madison, eine der beiden wichtigen Frauenfiguren in McCarthys Buch, erkennt sofort den hohen Ästhetisierungsgrad dieses Programms. Der avantgardistische Glaube, avancierte Theorie könne schon so etwas wie aktive Subversion sein, ist in ihren Augen eine Jungs-Fantasie: „Ihr Jungs seid süß. Ihr wollt alle der Filmheld sein, der in Zeitlupe von dem Fabrikgebäude des Bösewichts wegrennt, in dem er soeben eine Bombe versteckt hat, und euch auf den Boden werfen, während sie explodiert. Aber die Explosion findet bereits statt .“ Madison sieht hier den Versuch, sich aus dem Dilemma, die eigene Epoche zu bestimmen, herauszustehlen, indem man vorgibt, selbst Epoche zu machen. Und tatsächlich wird der „Große Bericht“ nicht fertig. Als Überbleibsel der Studien von „U.“ bleibt nur „Satin Island“ – sein nummerierter „Nicht-Bericht“.
Was uns mit „Satin Island“ in die Hände fällt, ist die formal gewagteste und intellektuell aufregendste Erkundung unserer Gegenwart, die in jüngerer Zeit unternommen worden ist. McCarthys Beobachtungen sind aufmerksamer und herausfordernder als vieles, was derzeit in der Kunsttheorie und der Kulturkritik zur Frage der Gegenwärtigkeit geschrieben wird. Unsere Gegenwart tritt uns in „Satin Island“ als eine in so hohem Maße flimmernde Zwischenzeit entgegen, dass sich bei der Lektüre eine leichte Orientierungslosigkeit einstellen kann. Die Orientierung gewinnt man aber nur vermeintlich zurück, wenn man das Buch wie Verlag und Literaturkritik vorschnell einen Roman nennt, um für ihn eine Schublade zu haben.
Wenn es sich hier um einen Roman handelt, dann im Sinne einer Meta-Gattung, die sämtliche anderen Gattungen in sich aufnehmen und in der Schwebe halten möchte. Tom McCarthys großartiges Buch wäre dann nichts Geringeres als: ein erstaunlicher Roman.
Tom McCarthy: Satin Island. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Melle. Deutsche Verlags-Anstalt 2016, München 2016. 224 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Wie eine Epoche
erfassen, die so amorph
ist wie unsere?
Ein Flughafen-Terminal, ein Fähranleger – „Satin Island“
beginnt und endet an den transitorischen Nicht-Orten, die für unsere Zeit charakteristisch sind. Foto: Ramesh Amruth / plainpicture
Tom McCarthy. Foto: Erinn Hartman
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Satin Island“ ist ein grandioses Buch über
unsere Gegenwart: Tom McCarthy lässt darin ethnologische
Kulturtheorie zur Fiktion werden
VON CARLOS SPOERHASE
Man könnte die Besprechung des neuen Buches von Tom McCarthy, der mit „8 ½ Millionen“ eines der grandios beklemmendsten Erzählwerke der letzten Dekade geschrieben hat, so beginnen: „Satin Island“ ist der neue Roman von Tom McCarthy. In diesem Roman wird der Protagonist „U.“ (You), ein promovierter Ethnologe, von seinem in London ansässigen Arbeitgeber beauftragt, einen „Großen Bericht“ über die Gegenwart zu schreiben. Zu diesem Zweck reist er nach Turin, Paris, Budapest, Stockholm, Frankfurt am Main und schließlich nach New York. Während seiner weltumspannenden Recherchen lernt er eine Frau kennen, verliert einen Freund und beginnt, an seinem Auftrag zu zweifeln. Das alles wäre nicht falsch.
Nur: „Satin Island“ ist kein Roman. Jedenfalls nicht in einem unproblematischen Sinne. Im Gegensatz zur deutschen Übersetzung enthält der Umschlag der amerikanischen Erstausgabe einen Hinweis auf diesen Sachverhalt. Dort stehen die folgenden sechs Gattungsbezeichnungen: A Treatise, An Essay, A Report, A Confession, A Manifesto, A Novel. Ist der „Roman“ hier also das Verlegenheitsgenre, das für ein Prosawerk übrig bleibt, wenn sich alle anderen Charakterisierungen als ungeeignet erwiesen haben?
McCarthys Nicht-Abhandlung, Nicht-Essay, Nicht-Bericht, Nicht-Bekenntnis oder eben Nicht-Manifest legt keinen großen Wert auf Plot oder Figurenzeichnung. Anstelle einer durchgehenden Handlung finden sich komplex komponierte Reflexionsszenen. Und „U.“ ist weniger der Erzähler-Protagonist als vielmehr eine Figur, die selbst als Reflexionsform verstanden werden muss. Zudem sind die mit Dezimalzahlen versehenen, von 1.1. bis 14.12. fortlaufend nummerierten Absätze des Buches keine konventionellen Romankapitel, sondern erinnern an das bürokratische Genre des Memos.
„U.“ schreibt solche Memos für ein weltweit operierendes Beratungsunternehmen, das in „Satin Island“ einfach „die Firma“ genannt wird. Als studierter Ethnologe soll er für das Unternehmen die Gegenwart beobachten, aktuelle globale Tendenzen registrieren und Zukunftsszenarien entwickeln. Megatrends und Paradigmenwechsel auszurufen ist dabei ebenso Teil des Geschäftsmodells, wie permanent neue, immer nur in Großbuchstaben auftretende Begriffe zu prägen, die einen Universalschlüssel zum Verständnis der Gegenwart liefern sollen. Diese Substantive wie „Narrativ“, „Migration“, „Mutation“ oder „Superzession“ versprechen, das eine entscheidende Wort zu sein, das unsere Situation vollständig erfasst. Nur könnten diese Begriffe letztlich auch „Rosebud“ und „Rumpelstilzchen“ lauten oder eben „Satin Island“ – ein merkwürdiges Wort, das „U.“ in einem Traum erscheint.
„U.“ ist Teil eines Unternehmensbereichs, der sich seit etwa einem Jahrzehnt unter dem Namen „Corporate Anthropology“ tatsächlich etabliert hat. Internationale Unternehmensberatungen und Großkonzerne leisten sich eigene Abteilungen mit Geistes- und Sozialwissenschaftlern, die nichts anderes tun, als die Gegenwart zu beobachten, die aktuellen Arrangements kultureller Formen zu erkunden und nach einer geheimen Geometrie unserer unordentlichen Alltagswelt zu fahnden. Automobilunternehmen heuern heute vielköpfige „Kontext-Design-Teams“ an, die ein Szenario genau der Zukunftswelt erstellen sollen, in der fünf Jahre später das nächste Oberklassenmodell umherfahren soll. Und selbst im Bundeskanzleramt arbeitet seit Februar vergangenen Jahres eine Projektgruppe „Wirksam regieren“, für die anthropologisch geschulte Referenten gesucht wurden.
„Satin Island“ ist aber nicht nur eine kritische Reflexion darüber, dass die an Universitäten gelehrten Verfahren der kulturellen „Kontextualisierung“ mittlerweile hauptsächlich für die Gestaltung von Dienstleistungen und Produkten gebraucht werden. Vielmehr nährt die Lektüre den Verdacht, dass sich heute die besten Gegenwartsdiagnosen eben nicht mehr im Feuilleton oder in Merve-Bändchen finden lassen, sondern in den internen Memos finanziell bestens ausgestatteter Unternehmensabteilungen. In „Satin Island“ wird „U“ mit der Aufgabe betraut, einen „Großen Bericht“ zu schreiben, der die Gegenwart erfassen und ihre grundlegenden Muster freilegen soll.
Damit fangen die Probleme jedoch an. Denn wie soll man einen solchen Bericht über die Gegenwart schreiben, wenn man selbst Teil dieser Gegenwart ist? In der klassischen Ethnologie gibt es, wie „U.“ immer wieder betont, eine genaue Grenzziehung zwischen dem „Feld“ und dem „zu Hause“. So halten es auch die Heroen des Fachs: Bronisław Malinowski reiste zu seiner Zeit von London in die Südsee, Claude Lévi-Strauss von Paris nach Südamerika. Wo aber hört in der gegenwärtigen Kultur das Eigene auf und wo fängt das Fremde an? „U.“ fragt sich, ob er die Freunde, mit denen er im Rahmen seines Dissertationsprojekts zur Ethnografie der Klubkultur abends tanzen ging, als „Informanten“ bezeichnen darf: Was tun, wenn die Grenzen zwischen Beobachtung und Teilnahme vollständig verschwinden? „Zählt Sex, den du mit einer Informantin im Lycra-Minirock um fünf Uhrmorgens auf deinem Schreibtisch hast, während ihr beide auf einem Trip seid?“ Ist das noch „Forschung“? McCarthys „U.“ ist klar, dass es eine Distanz zwischen Beobachter und Gegenstand geben muss, wenn man als Wissenschaftler arbeiten möchte, aber wie bemisst sich diese Distanz? Lässt sie sich in Kilometern oder in Tagen berechnen? Reicht ein Jahr oder nur ein Jahrhundert aus, um diese Distanz herzustellen? Es genügt jedenfalls nicht mehr, wie noch Lévi-Strauss einen Ozean zu überqueren. Denn die Reise über den Ozean führt nicht mehr zwangsläufig zu einer Begegnung mit dem schlechthin anderen, sondern nur in eine von sehr vielen ausgedehnten Übergangszonen, die weder ganz das Eigene noch das ganz Fremde sind.
Auch die temporalen Ordnungen sind zunehmend durch Interferenzen charakterisiert. Unsere Moderne ist für „U.“ ein „bewegliches Mischverhältnis“. „Satin Island“ lässt unsere Gegenwart als durchgängig transistorisch erscheinen, als eine Phase, die weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft einen festen Halt findet. Heute gibt es, wie es gleich zu Beginn heißt, keine Rückbindung der Zeit an ein Jahr null, das die geschichtliche Realität strukturiert und uns sagen könnte, was davor und was danach war und vor allem: was noch kommen wird. Es bleibt nur eine Gegenwart, die so total geworden ist, dass ihr letztlich die Bezugspunkte fehlen, um zu beurteilen, ob sie sich bewegt, und wenn ja, wohin und mit welcher Geschwindigkeit. Der Verdacht einer global konvergierenden Stagnation lässt sich deshalb genauso wenig belegen wie entkräften.
„Satin Island“ beginnt und endet mit den Nicht-Orten, die für unsere Gegenwart charakteristisch sind: Ein Flughafen-Terminal in Turin, ein Fähr-Terminal in Manhattan. „U.“ hängt immer wieder im Verkehr zwischen zwei Orten fest. Man gewinnt den Eindruck, dass der Roman einen metaphysischen Jetlag versinnbildlichen soll: was es bedeutet, sich permanent zugleich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Zeitzonen zu befinden, aber nirgendwo voll und ganz zu sein.
„U.“ möchte auf diese Konstellation mit einer neuen Ethnologie reagieren, die sich als Live-Schaltung zur Gegenwart versteht. Einer Ethnologie, die diese Gegenwart schon in dem Moment zu beschreiben in der Lage ist, in dem sie sich erst zaghaft herauszubilden beginnt. „U.“ träumt davon, der Begründer einer neuen „Präsensanthropologie“ zu werden, die ihm akademischen Ruhm bescheren soll. Und finanziellen Erfolg, wie sein Reflex verrät, sein Verfahren sogleich mit einem Warenzeichen zu versehen: „PräsensanthropologieTM“. Auf Konferenzen wird seine ambitionierte These jedoch allenfalls mit höflichem Applaus quittiert.
Kann die laufende Gegenwart überhaupt Gegenstand des Endloskommentars einer solchen „Präsensanthropologie“ werden? Lässt sich ihre Lebendigkeit bewahren, wenn man sie sofort in kulturtheoretische Kategorien übersetzt? „U.“ richtet sein Projekt deshalb neu aus. Es soll nicht mehr nur ein Reflexionsprozess sein, sondern politische Aktion, sogar bewaffneter Widerstand: „Mein Netzwerk aus hochgebildeten, bestens trainierten Staatsfeinden, bewaffnet mit den neuesten, anthropologiegestützten Vernichtungstechniken, würde aus den sexyesten, bestgekleideten und orgasmischsten Revolutionären aller Zeiten bestehen.“
Madison, eine der beiden wichtigen Frauenfiguren in McCarthys Buch, erkennt sofort den hohen Ästhetisierungsgrad dieses Programms. Der avantgardistische Glaube, avancierte Theorie könne schon so etwas wie aktive Subversion sein, ist in ihren Augen eine Jungs-Fantasie: „Ihr Jungs seid süß. Ihr wollt alle der Filmheld sein, der in Zeitlupe von dem Fabrikgebäude des Bösewichts wegrennt, in dem er soeben eine Bombe versteckt hat, und euch auf den Boden werfen, während sie explodiert. Aber die Explosion findet bereits statt .“ Madison sieht hier den Versuch, sich aus dem Dilemma, die eigene Epoche zu bestimmen, herauszustehlen, indem man vorgibt, selbst Epoche zu machen. Und tatsächlich wird der „Große Bericht“ nicht fertig. Als Überbleibsel der Studien von „U.“ bleibt nur „Satin Island“ – sein nummerierter „Nicht-Bericht“.
Was uns mit „Satin Island“ in die Hände fällt, ist die formal gewagteste und intellektuell aufregendste Erkundung unserer Gegenwart, die in jüngerer Zeit unternommen worden ist. McCarthys Beobachtungen sind aufmerksamer und herausfordernder als vieles, was derzeit in der Kunsttheorie und der Kulturkritik zur Frage der Gegenwärtigkeit geschrieben wird. Unsere Gegenwart tritt uns in „Satin Island“ als eine in so hohem Maße flimmernde Zwischenzeit entgegen, dass sich bei der Lektüre eine leichte Orientierungslosigkeit einstellen kann. Die Orientierung gewinnt man aber nur vermeintlich zurück, wenn man das Buch wie Verlag und Literaturkritik vorschnell einen Roman nennt, um für ihn eine Schublade zu haben.
Wenn es sich hier um einen Roman handelt, dann im Sinne einer Meta-Gattung, die sämtliche anderen Gattungen in sich aufnehmen und in der Schwebe halten möchte. Tom McCarthys großartiges Buch wäre dann nichts Geringeres als: ein erstaunlicher Roman.
Tom McCarthy: Satin Island. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Melle. Deutsche Verlags-Anstalt 2016, München 2016. 224 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Wie eine Epoche
erfassen, die so amorph
ist wie unsere?
Ein Flughafen-Terminal, ein Fähranleger – „Satin Island“
beginnt und endet an den transitorischen Nicht-Orten, die für unsere Zeit charakteristisch sind. Foto: Ramesh Amruth / plainpicture
Tom McCarthy. Foto: Erinn Hartman
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Smart, shimmering and thought-provoking...McCarthy isn't a frustrated cultural theorist who must content himself with writing novels; he's a born novelist, a pretty fantastic one, who has figured out a way to make cultural theory funny, scary and suspenseful - in other words, compulsively readable. New York Times