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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Eckart Conze legt sein Buch über das deutsche Kaiserreich als geschichtspolitische Intervention an
"Geschichte ist immer Gegenwart", lässt der Marburger Historiker Eckart Conze seine Leser wissen. Diese Gegenwart hat Einfluss nicht nur auf die Themen, mit denen Historikerinnen und Historiker sich auseinandersetzen, sondern auch auf die Methoden und Ansätze, die sie dafür wählen. Conze reagiert mit seinem Buch über das deutsche Kaiserreich alarmiert auf den vermeintlichen bundesrepublikanischen "Neonationalismus". Jedoch verstärkt er durch den Fokus seiner Darstellung paradoxerweise den Trend zu einer mittlerweile wieder stärker nationalgeschichtlich verfahrenden Historiographie. Allerdings geht es dem Historiker weniger um neue Erkenntnisse über die Geschichte des Kaiserreichs, als vielmehr um eine "geschichtspolitische Intervention". Diese erscheint rechtzeitig vor dem Jubiläum der Kaiserproklamation vor hundertfünfzig Jahren am 18. Januar 1871. Bevor es nun irgendeinem bundesrepublikanischen Politiker einfallen könnte, sich positiv auf das Kaiserreich zu beziehen, mahnt Conze im Klappentext: "Es gibt nichts zu feiern. Das Reich von 1871, es ist vergangen. Das Deutschland der Gegenwart steht nicht in seiner Tradition."
Mit "Tradition" ist offenbar eine affirmative "Traditionspflege" gemeint, denn dass das Kaiserreich in der heutigen Bundesrepublik (immerhin die Rechtsnachfolgerin des Reiches) nachwirkt, ist ja gerade Conzes Sorge. Dabei macht er aus der Wahrnehmung des Kaiserreichs die Gretchenfrage der aktuellen Demokratie, denn das Bild, dass man sich heute von Reichskanzler Bismarck mache, lasse auf die Demokratietauglichkeit der Gegenwartsgesellschaft schließen: Je größer die Distanz, desto besser stehe es um die "Liberalität in Politik und Gesellschaft". Damit ist in irritierender Weise vorgegeben, wie das Urteil über die deutsche Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts auszufallen hat.
Conzes Bild des Kaiserreichs folgt einer historiographischen Pendelbewegung, auf die er selbst eingeht. Hatte die deutsche Geschichtsschreibung bis in die fünfziger Jahre hinein ein weithin positives Bild der Jahre zwischen 1871 und 1914 gepflegt, das sich vom Nationalsozialismus und der ungeliebten Weimarer Zeit abhob, kehrte sich seit den sechziger Jahren mit den Thesen des Hamburger Historikers Fritz Fischer und der "Bielefelder Schule" die Blickrichtung um. Fortan galten gerade die gesellschaftlichen Strukturen des Kaiserreichs als ursächlich für den Ersten Weltkrieg und den Nationalsozialismus. In umfangreichen Forschungsprojekten versuchten Historiker nun, die Deformationen des kaiserzeitlichen Bürgertums als Ursache der Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts dingfest zu machen. Letztlich aber scheiterte dieses Vorhaben, erwiesen sich doch das Kaiserreich als weniger undemokratisch und der Westen als weniger vorbildlich als gedacht. Fortan konzentrierte sich die Erklärung des Nationalsozialismus, erst recht des Holocausts, auf den Ersten Weltkrieg und Weimar, während die vom politisch-moralischen Erklärungszwang befreite Historiographie des neunzehnten Jahrhunderts ein vielschichtigeres Bild der deutschen Gesellschaft und Kultur entwickelte.
In diesen kulturgeschichtlich inspirierten Arbeiten vermag Conze jedoch nur eine "Weichzeichnung" des Kaiserreichs zu erkennen, welche die harten Fakten der ausgebliebenen Parlamentarisierung außer Acht lasse. Erneut dringt er darauf, dass der Weg in den Ersten Weltkrieg und der Nationalsozialismus "Fluchtpunkt und Frageperspektive jeder Auseinandersetzung mit der Geschichte des 1870/71 gegründeten Nationalstaates" sein müssten. Allerdings kommt die von Conze entfaltete Geschichte nicht über das hinaus, was seit langem hinlänglich bekannt ist. Die alte Fragestellung führt nicht zu neuen Erkenntnissen.
Ausgehend von der Annahme, dass die entscheidende Ursache des Kriegs von 1914 der Nationalismus gewesen sei, skizziert Conze in den ersten Kapiteln die Entstehungsgeschichte des deutschen Nationalismus beziehungsweise die Genese des deutschen Nationalstaats. So erfährt der Leser von der nationalen Bewegung seit den Befreiungskriegen, vom Mord an Kotzebue, dem Hambacher Fest, der gescheiterten Revolution, der realpolitischen Wende unter Bismarck und den drei sogenannten Einigungskriegen. Dass letztere von Bismarck in skrupelloser Weise herbeigeführt wurden, ist unstrittig; dass Zeitgenossen wie Napoleon III. und Cavour ähnlich vorgingen, erfährt man nicht.
Ohnehin verwundert, mit welcher Hartnäckigkeit Conze die Ergebnisse international vergleichender Studien beiseitewischt. Schließlich hatte sich die These vom deutschen Sonderweg, an die Conze wieder anschließt, gerade durch komparatistische Arbeiten als unhaltbar erwiesen. Auch seine Prämisse, wonach Obrigkeitsstaat, Militarismus, Nationalismus und mangelnde Parlamentarisierung für den Ersten Weltkrieg und den Nationalsozialismus ursächlich gewesen seien, lässt sich nur aufrechterhalten, wenn vergleichende Forschungen, die ein Demokratiedefizit des Kaiserreichs in Frage stellen, nicht ernst genommen werden. Sosehr Conze recht hat mit den Hinweisen auf die dunklen Seiten des Kaiserreichs, so bleibt es doch falsch, Entwicklungen hin zu Demokratisierung und Pluralisierung gänzlich auszublenden.
In den letzten Kapiteln des Buches, die den Schnittstellen von Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik gewidmet sind, tritt die Sorge vor dem aktuellen Aufkommen eines Neonationalismus zutage. Dieser habe sich auch bei einigen Historikern bemerkbar gemacht, die 2014 Christopher Clarks These von den "Schlafwandlern" als Exkulpierung "der Deutschen" begrüßt hätten. Eine Fortsetzung dieses Trends sieht Conze in der aktuellen Debatte über Entschädigungsansprüche der Hohenzollern. In den dabei geäußerten Ansichten über das Kaiserreich beobachtet er eine wachsende Bereitschaft, das geschichtspolitische und demokratische Selbstverständnis der Bundesrepublik aufzukündigen.
Ohne Zweifel ist es ebenso richtig wie wichtig, immer wieder den Stellenwert von Nationalsozialismus und Holocaust in Erinnerung zu rufen, gerade wenn am rechtsextremen Rand der Gesellschaft dieser Konsens in Frage gestellt wird. Die Lösung kann aber nicht darin liegen, aus purer Abwehrhaltung veraltete Bilder vom Kaiserreich einzufrieren. Natürlich gab es die "Schatten des Kaiserreichs", also Militarismus, Nationalismus und Obrigkeitsstaat. Aber erst in Kombination mit der breiten kultur- und politikgeschichtlichen Forschung, die die gegenläufigen Phänomene von Pluralisierung, Demokratisierung, Rationalisierung und Emotionalisierung in Politik und Gesellschaft betont, ergibt sich ein "vollständiges" Bild jener Epoche. Conzes Buch ist eine wichtige, legitime und gutgeschriebene "geschichtspolitische Intervention", aber der Komplexität des Kaiserreichs wird es nicht gerecht.
BIRGIT ASCHMANN
Eckart Conze: "Schatten des Kaiserreichs". Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2020. 228 S., geb., 22,- [Euro].
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