Was bedeutet der Tod des Vaters für das Leben? Wer war dieser Vater? Wer bin ich? Der Sohn sitzt in einer Zelle und schreibt um sein Leben. Sein Leben, das ist der Roman »Schattenfroh«. Nichts kann ihn retten, auch das eigene Erzählen nicht. Und doch muss genau davon erzählt werden: dass der Vater tot, das Ich unrettbar und die Heilsgeschichte eine gewaltige Lüge ist. Wer »Schattenfroh« liest, der liest Gott und den Teufel, der liest die Liebe und den Tod, die Einsamkeit und den Schmerz und die Toten des Luftangriffs auf Düren am 16. November 1944, der liest Tinte und Weißraum, der liest die Schrift. »Schattenfroh« ist ein Roman und die Welt und das Leben. Tausend verzweifelte Seiten, die die Frage nicht beantworten, ob das Leben reparabel ist und uns das Erzählen heilen kann. Tausend manische Seiten des unmöglichen Abschieds vom Vater: so hermetisch wie kraftvoll, monumental und überwältigend.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.2018Tod, wo ist dein Griffel?
Schreiben können nur wir Menschen: Michael Lentz erzählt mit "Schattenfroh" seinen Vater und seine zerstörte Heimatstadt zurück ins Leben.
Der erste und der letzte Satz dieses Buchs lauten gleich, und zwischen ihnen liegen exakt tausend Seiten. "Man nennt es schreiben", so steht es am Anfang und am Ende, und dazwischen wird schreibend vorgeführt, was das alles heißen kann: konkret und assoziativ schreiben, vorwärts und rückwärts, buchstäblich und anagrammatisch, konventionell und kopfstehend, in Antiqua und Fraktur, gedruckt und handschriftlich, schwarz auf weiß und verblassend, todernst und wortspielerisch, verstörend und betörend. "Schattenfroh" von Michael Lentz ist ein Buch der Gegen-Sätze: ein permanenter Zwist von Vater und Sohn, Leben und Sterben, von Gegenwart und Vergangenheit, von Wirklichkeit und Literatur. "Das ist nicht mein Buch", sagt sein Erzähler nach mehr als achthundert Seiten, "was hier gedruckt wird. Mein Buch ist ein absolutes Buch, es hat apokryphe Teile und zwei Zentren, mein Buch ist eine Person als zwei, das sind mein Vater und das bin ich."
Die grammatikalisch unmögliche Formulierung des letzten Satzteils ist kein Versehen, schon gar kein Verschreiben. Sie drückt eben die Differenz zwischen Vater und Sohn aus. Alles in "Schattenfroh" ist mehrdeutig und dabei so minutiös konstruiert, dass man nach der ersten Lektüre direkt die zweite beginnen sollte, um die grundlegende Zweiteilung des Buchs erst richtig schätzen zu lernen. Sie bildet den Zwiespalt ab, in dem sich der Erzähler befindet: als schreibend Beschriebener, der nur zu genau weiß, dass er gar keine letzte Gewalt hat über das, was er da erzählt. Weil "Schattenfroh" kein Roman ist, sondern gemäß der von Lentz gewählten Genrebezeichnung ein Requiem, und zum Requiem gehört der Tod. Er entzieht sich allem Begreifen, weil er nicht selbst erlebt werden kann. Und doch empfindet man den Tod zutiefst: als Hinterbliebener.
Am 20. August 2014 ist der Vater von Michael Lentz gestorben, sechzehn Jahre nach der Mutter, deren Tod damals zum Anlass für das bewegende Buch "Muttersterben" geworden war. "Schattenfroh" ist kein Komplementärstück geworden, dazu sind die beiden Umfänge zu ungleichgewichtig, fünffach dicker ist das Vaterbuch. Man mag es als Variationen über das alte Thema betrachten, denn einiges, was "Schattenfroh" bemerkenswert macht, war in "Muttersterben" schon angelegt (handwerklich etwa eine lange handschriftliche Passage, inhaltlich die wiederkehrenden Exerzitien des Schmerzes), aber wie das neue Buch die Sache angeht, unterscheidet sich gravierend vom Vorläufer. Hier wird ein Verlust zu bewältigen versucht, indem nun dem Verstorbenen eine Stimme verliehen, er zum Mitverfasser des Buchs gemacht wird. "Muttersterben" war radikal subjektiv und darin untröstlich, "Schattenfroh" ist radikal suggestiv und damit zutiefst tröstlich. Ein Requiem eben.
Dessen Ich-Erzähler nennt sich Nemo, "ein schlechtes Omen", wie er sehr früh im Buch selbst sagt, und das ist schon das erste von zahllosen Anagrammen - NEMO, OMEN -, mit denen die Figuren dieses Buchs immer wieder ihre Gestalten wechseln, ohne aber ihre Grundzüge zu verlieren. Schattenfroh ist der Wichtigste dieser Gestaltwandler, und er bleibt als Einziger seinem Namen treu - als Vater, aber auch als Fürst der Unterwelt, als Diktator und nicht zuletzt als der eigentliche Autor des Buchs: In einem mitten im Text eingestreuten Literaturverzeichnis, das Quellen und Inspirationen für "Schattenfroh" benennt, wird als Verfasser des gleichnamigen Buchs Schattenfroh selbst genannt.
Michael Lentz betreibt also ein gigantisches Vexierspiel, und wer sich darauf einlassen will, muss wissen, dass es in den letzten Jahren kein verrätselteres Buch gegeben hat. Es ist eine Zumutung: Immer wieder springt die Handlung, die aus einem großen Geständnis besteht, das der Ich-Erzähler in einer Zelle ablegt, einer Suada, die uns durch die Vergangenheit der Familie Lentz und die Geschichte ihrer Heimatstadt Düren führt, zwischen den Zeiten und Schauplätzen hin und her. Aber es hat auch kein Buch gegeben, das so unfehlbar immer wieder Episoden bereithält, für die sich der weiteste Leseweg und die größte Lesemühe gelohnt haben. Mehrmals stirbt der Ich-Erzähler selbst, und zwar auf schlimmste Weisen, auf dem Scheiterhaufen wie Jan Hus, auf dem Richtblock wie Thomas Müntzer, und riesige, nahezu unerträgliche Passagen sind den technischen Aspekten dieser und anderer Hinrichtungen gewidmet, der Kreuzigung Christi etwa oder einer Pfählung, die Lentz aus Ivo Andrics Roman "Brücke über die Drina" entnommen hat.
Es gibt dergleichen Anleihen zuhauf in "Schattenfroh", nicht nur bei der Literatur, wo nur zum Beispiel noch "Tristram Shandy" zu nennen wäre, aus dem Lentz das Prinzip einer schwarzen Seite entlehnt hat, oder die Kuckucksseite aus dem spanischen "Don Quijote", die unvermittelt in "Schattenfroh" auftaucht. Noch prägender für das Buch sind jedoch Vor-Bilder im wörtlichen Sinne: Hieronymus Boschs Visionen, Vermeers Interieurs oder, als Auslöser eines besonders virtuosen Stücks der Bildaneignung, Werner Tübkes Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen, das Lentz indes in Prüm umbenennt und samt dem Geschehen des Jahres 1525 in die Eifel verlegt, einem weiteren familiär wichtigen Schauplatz des Requiems. Selbst die damals beteiligten Fürsten sind nun Herrscher über Gebiete in der Eifel; die fiebrig phantasierende Geschichtsschreibung von "Schattenfroh" wird auf die Spitze getrieben. Prüm ist wie jede biographische Station des Ich-Erzählers ein Schreckensort. Hier durchlebt auch der Großvater des Erzählers in der Nazi-Zeit seinen Kreuzweg in der Verhörzelle, und diese historische Konstellation ähnelt der Gnadenlosigkeit, mit der Schattenfroh den eigenen Sohn diszipliniert.
Doch der zentrale Handlungsort ist Düren, "Stadt der Toten, Steinwüste". Im dortigen Verwaltungsgebäude, wo der Vater eine leitende Stellung innehatte, tritt der Erzähler durch einen Wandteppich in dessen Büro in seine Heimatstadt während der Dreißigjährigen Kriegs ein. Akribisch folgt er bei seinem Weg durchs frühneuzeitliche Düren den historischen Stadtansichten, wie die aus dem Geist der Literatur vollzogene Wiederauferstehung des toten Vaters in "Schattenfroh" wird auch die der Stadt betrieben. Denn Düren ist ebenfalls gestorben, am 16. November 1944 im alliierten Bombenhagel, bei dem mehr als dreitausend Menschen ihr Leben verloren. In der kompromisslosesten Episode von "Schattenfroh" hat Lentz alle die Namen der Bombenopfer, ihr jeweiliges Alter und die Herkunftsorte per Hand aufgeschrieben, eine 75 Buchseiten umfassende Liste als eigenes Requiem im Requiem. Der Tod führt in "Schattenfroh" permanent Regie.
Wobei es auch burleske Passagen gibt. Etwa die an Doderer erinnernde Schilderung der Verzweiflung der Untergebenen des Vaters über dessen dienstliche Monologe: "Man hat Mitglieder des Rates und der verschiedenen Haupt-, Neben- und Unterausschüsse dabei beobachtet, wie sie die oft über Stunden geführten Reden meines Vaters in der Luft zerrissen, und als das noch nicht genug war, ihre überschäumende Wut zu befrieden, von der Galerie regnete es Konfetti wie Rosenmontag, schlugen sie ihren Kopf gegen die Wand, was in der Kassenhalle des Gebäudes eigenartig nachhallte, so dass eigens ein Ausschuss einberufen wurde, in dem über mögliche Polsterungen des Büros beraten werden sollte, zu diesem Ausschuss ist aber niemand erschienen, als bekannt wurde, dass sich auch mein Vater zu den Beratungen angekündigt hatte, man vermutete wohl nicht zu Unrecht, dass er sich nur anschauen wollte, wer von seinen erklärten, vermuteten und verkappten Gegnern sich seinetwegen am meisten Leid zufügte." Angesichts solch langer Sätze ist die provozierend freche skatologische Lesart von Thomas Manns Schreibstil, die in "Schattenfroh" einmal durchexerziert wird, auch erfrischend selbstironisch. Ja, lange, schier endlose Sätze gibt es bei Lentz oft, aber sie sind durchrhythmisiert mit aller Erfahrung, die dem Lyriker, der Lentz ja vor allem ist, zur Verfügung steht, und das ganze Buch, kapitellos über seine mehr als tausend Seiten hinweg, ist dementsprechend ein Kunststück der Tempo- und Pathosvariation, zu der eben auch das Umkippen ins Komische und dann wieder ins Tragische gehört, zeitweise innerhalb eines einzigen Satzes.
Aber hinter all der Virtuosität des Schreibens und des Lesens, hinter all dem Einfalls- und Geistreichtum, dem literarischen und kunstgeschichtlichen Zitieren, Collagieren und Montieren steht als Grundantrieb des Buchs die Fassungslosigkeit angesichts des Vatertodes. Es ist ein Paradox: Aus der völligen Passivität der Verlusterfahrung ist ein gewaltiges Prosawerk entstanden, dessen Erzähler aber immer noch als ein Gehetzter auftritt, der selbst vom Tod immer wieder ereilt wird. Über den Tod des Vaters ist Michael Lentz ebenso wenig hinweggekommen wie über den der Mutter. Dass daraus jedoch Literatur wie "Schattenfroh" und "Muttersterben" hat entstehen können, maßlos im Anspruch wie im Können, ist die Revanche des Schriftstellers: "Bei uns ist alles in der Familie geblieben, bis heute. Nur die Familie ist nicht in der Familie geblieben. Sie ist in die Schrift gegangen." Da wird sie leben, solange gelesen wird.
ANDREAS PLATTHAUS
Michael Lentz: "Schattenfroh". Ein Requiem.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 1008 S., Abb., geb., 36,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schreiben können nur wir Menschen: Michael Lentz erzählt mit "Schattenfroh" seinen Vater und seine zerstörte Heimatstadt zurück ins Leben.
Der erste und der letzte Satz dieses Buchs lauten gleich, und zwischen ihnen liegen exakt tausend Seiten. "Man nennt es schreiben", so steht es am Anfang und am Ende, und dazwischen wird schreibend vorgeführt, was das alles heißen kann: konkret und assoziativ schreiben, vorwärts und rückwärts, buchstäblich und anagrammatisch, konventionell und kopfstehend, in Antiqua und Fraktur, gedruckt und handschriftlich, schwarz auf weiß und verblassend, todernst und wortspielerisch, verstörend und betörend. "Schattenfroh" von Michael Lentz ist ein Buch der Gegen-Sätze: ein permanenter Zwist von Vater und Sohn, Leben und Sterben, von Gegenwart und Vergangenheit, von Wirklichkeit und Literatur. "Das ist nicht mein Buch", sagt sein Erzähler nach mehr als achthundert Seiten, "was hier gedruckt wird. Mein Buch ist ein absolutes Buch, es hat apokryphe Teile und zwei Zentren, mein Buch ist eine Person als zwei, das sind mein Vater und das bin ich."
Die grammatikalisch unmögliche Formulierung des letzten Satzteils ist kein Versehen, schon gar kein Verschreiben. Sie drückt eben die Differenz zwischen Vater und Sohn aus. Alles in "Schattenfroh" ist mehrdeutig und dabei so minutiös konstruiert, dass man nach der ersten Lektüre direkt die zweite beginnen sollte, um die grundlegende Zweiteilung des Buchs erst richtig schätzen zu lernen. Sie bildet den Zwiespalt ab, in dem sich der Erzähler befindet: als schreibend Beschriebener, der nur zu genau weiß, dass er gar keine letzte Gewalt hat über das, was er da erzählt. Weil "Schattenfroh" kein Roman ist, sondern gemäß der von Lentz gewählten Genrebezeichnung ein Requiem, und zum Requiem gehört der Tod. Er entzieht sich allem Begreifen, weil er nicht selbst erlebt werden kann. Und doch empfindet man den Tod zutiefst: als Hinterbliebener.
Am 20. August 2014 ist der Vater von Michael Lentz gestorben, sechzehn Jahre nach der Mutter, deren Tod damals zum Anlass für das bewegende Buch "Muttersterben" geworden war. "Schattenfroh" ist kein Komplementärstück geworden, dazu sind die beiden Umfänge zu ungleichgewichtig, fünffach dicker ist das Vaterbuch. Man mag es als Variationen über das alte Thema betrachten, denn einiges, was "Schattenfroh" bemerkenswert macht, war in "Muttersterben" schon angelegt (handwerklich etwa eine lange handschriftliche Passage, inhaltlich die wiederkehrenden Exerzitien des Schmerzes), aber wie das neue Buch die Sache angeht, unterscheidet sich gravierend vom Vorläufer. Hier wird ein Verlust zu bewältigen versucht, indem nun dem Verstorbenen eine Stimme verliehen, er zum Mitverfasser des Buchs gemacht wird. "Muttersterben" war radikal subjektiv und darin untröstlich, "Schattenfroh" ist radikal suggestiv und damit zutiefst tröstlich. Ein Requiem eben.
Dessen Ich-Erzähler nennt sich Nemo, "ein schlechtes Omen", wie er sehr früh im Buch selbst sagt, und das ist schon das erste von zahllosen Anagrammen - NEMO, OMEN -, mit denen die Figuren dieses Buchs immer wieder ihre Gestalten wechseln, ohne aber ihre Grundzüge zu verlieren. Schattenfroh ist der Wichtigste dieser Gestaltwandler, und er bleibt als Einziger seinem Namen treu - als Vater, aber auch als Fürst der Unterwelt, als Diktator und nicht zuletzt als der eigentliche Autor des Buchs: In einem mitten im Text eingestreuten Literaturverzeichnis, das Quellen und Inspirationen für "Schattenfroh" benennt, wird als Verfasser des gleichnamigen Buchs Schattenfroh selbst genannt.
Michael Lentz betreibt also ein gigantisches Vexierspiel, und wer sich darauf einlassen will, muss wissen, dass es in den letzten Jahren kein verrätselteres Buch gegeben hat. Es ist eine Zumutung: Immer wieder springt die Handlung, die aus einem großen Geständnis besteht, das der Ich-Erzähler in einer Zelle ablegt, einer Suada, die uns durch die Vergangenheit der Familie Lentz und die Geschichte ihrer Heimatstadt Düren führt, zwischen den Zeiten und Schauplätzen hin und her. Aber es hat auch kein Buch gegeben, das so unfehlbar immer wieder Episoden bereithält, für die sich der weiteste Leseweg und die größte Lesemühe gelohnt haben. Mehrmals stirbt der Ich-Erzähler selbst, und zwar auf schlimmste Weisen, auf dem Scheiterhaufen wie Jan Hus, auf dem Richtblock wie Thomas Müntzer, und riesige, nahezu unerträgliche Passagen sind den technischen Aspekten dieser und anderer Hinrichtungen gewidmet, der Kreuzigung Christi etwa oder einer Pfählung, die Lentz aus Ivo Andrics Roman "Brücke über die Drina" entnommen hat.
Es gibt dergleichen Anleihen zuhauf in "Schattenfroh", nicht nur bei der Literatur, wo nur zum Beispiel noch "Tristram Shandy" zu nennen wäre, aus dem Lentz das Prinzip einer schwarzen Seite entlehnt hat, oder die Kuckucksseite aus dem spanischen "Don Quijote", die unvermittelt in "Schattenfroh" auftaucht. Noch prägender für das Buch sind jedoch Vor-Bilder im wörtlichen Sinne: Hieronymus Boschs Visionen, Vermeers Interieurs oder, als Auslöser eines besonders virtuosen Stücks der Bildaneignung, Werner Tübkes Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen, das Lentz indes in Prüm umbenennt und samt dem Geschehen des Jahres 1525 in die Eifel verlegt, einem weiteren familiär wichtigen Schauplatz des Requiems. Selbst die damals beteiligten Fürsten sind nun Herrscher über Gebiete in der Eifel; die fiebrig phantasierende Geschichtsschreibung von "Schattenfroh" wird auf die Spitze getrieben. Prüm ist wie jede biographische Station des Ich-Erzählers ein Schreckensort. Hier durchlebt auch der Großvater des Erzählers in der Nazi-Zeit seinen Kreuzweg in der Verhörzelle, und diese historische Konstellation ähnelt der Gnadenlosigkeit, mit der Schattenfroh den eigenen Sohn diszipliniert.
Doch der zentrale Handlungsort ist Düren, "Stadt der Toten, Steinwüste". Im dortigen Verwaltungsgebäude, wo der Vater eine leitende Stellung innehatte, tritt der Erzähler durch einen Wandteppich in dessen Büro in seine Heimatstadt während der Dreißigjährigen Kriegs ein. Akribisch folgt er bei seinem Weg durchs frühneuzeitliche Düren den historischen Stadtansichten, wie die aus dem Geist der Literatur vollzogene Wiederauferstehung des toten Vaters in "Schattenfroh" wird auch die der Stadt betrieben. Denn Düren ist ebenfalls gestorben, am 16. November 1944 im alliierten Bombenhagel, bei dem mehr als dreitausend Menschen ihr Leben verloren. In der kompromisslosesten Episode von "Schattenfroh" hat Lentz alle die Namen der Bombenopfer, ihr jeweiliges Alter und die Herkunftsorte per Hand aufgeschrieben, eine 75 Buchseiten umfassende Liste als eigenes Requiem im Requiem. Der Tod führt in "Schattenfroh" permanent Regie.
Wobei es auch burleske Passagen gibt. Etwa die an Doderer erinnernde Schilderung der Verzweiflung der Untergebenen des Vaters über dessen dienstliche Monologe: "Man hat Mitglieder des Rates und der verschiedenen Haupt-, Neben- und Unterausschüsse dabei beobachtet, wie sie die oft über Stunden geführten Reden meines Vaters in der Luft zerrissen, und als das noch nicht genug war, ihre überschäumende Wut zu befrieden, von der Galerie regnete es Konfetti wie Rosenmontag, schlugen sie ihren Kopf gegen die Wand, was in der Kassenhalle des Gebäudes eigenartig nachhallte, so dass eigens ein Ausschuss einberufen wurde, in dem über mögliche Polsterungen des Büros beraten werden sollte, zu diesem Ausschuss ist aber niemand erschienen, als bekannt wurde, dass sich auch mein Vater zu den Beratungen angekündigt hatte, man vermutete wohl nicht zu Unrecht, dass er sich nur anschauen wollte, wer von seinen erklärten, vermuteten und verkappten Gegnern sich seinetwegen am meisten Leid zufügte." Angesichts solch langer Sätze ist die provozierend freche skatologische Lesart von Thomas Manns Schreibstil, die in "Schattenfroh" einmal durchexerziert wird, auch erfrischend selbstironisch. Ja, lange, schier endlose Sätze gibt es bei Lentz oft, aber sie sind durchrhythmisiert mit aller Erfahrung, die dem Lyriker, der Lentz ja vor allem ist, zur Verfügung steht, und das ganze Buch, kapitellos über seine mehr als tausend Seiten hinweg, ist dementsprechend ein Kunststück der Tempo- und Pathosvariation, zu der eben auch das Umkippen ins Komische und dann wieder ins Tragische gehört, zeitweise innerhalb eines einzigen Satzes.
Aber hinter all der Virtuosität des Schreibens und des Lesens, hinter all dem Einfalls- und Geistreichtum, dem literarischen und kunstgeschichtlichen Zitieren, Collagieren und Montieren steht als Grundantrieb des Buchs die Fassungslosigkeit angesichts des Vatertodes. Es ist ein Paradox: Aus der völligen Passivität der Verlusterfahrung ist ein gewaltiges Prosawerk entstanden, dessen Erzähler aber immer noch als ein Gehetzter auftritt, der selbst vom Tod immer wieder ereilt wird. Über den Tod des Vaters ist Michael Lentz ebenso wenig hinweggekommen wie über den der Mutter. Dass daraus jedoch Literatur wie "Schattenfroh" und "Muttersterben" hat entstehen können, maßlos im Anspruch wie im Können, ist die Revanche des Schriftstellers: "Bei uns ist alles in der Familie geblieben, bis heute. Nur die Familie ist nicht in der Familie geblieben. Sie ist in die Schrift gegangen." Da wird sie leben, solange gelesen wird.
ANDREAS PLATTHAUS
Michael Lentz: "Schattenfroh". Ein Requiem.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 1008 S., Abb., geb., 36,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Am Rande seiner Begegnung mit Michael Lentz bespricht Richard Kämmerlings auch dessen neuen 1008-Seiten-Brocken "Schattenfroh", den er allein schon für die opulente Aufmachung lobt. Hymnisch fährt der Kritiker fort: Wenn ihm Lentz im Roman von einem erzkatholischen Vater erzählt, der im Text als Figur aus "Satan und Richtergott, sadistischem Oberbürokraten und Haustyrannen" in einem "Benthamschen Panoptikum" wirkt, wähnt sich Kämmerlings nicht nur in einem "Horrorszenario vollkommener Überwachung", sondern bewundert insbesondere Lentz' stupendes Spiel mit Referenzen. Hier wird Gershom Sholem mit Tristram Shandy, Ai Wei Wei mit Paul Celan, Kryptografie mit Anagrammatik und die Kreuzigung Christi mit IS-Folter-Videos enggeführt, staunt der Kritiker, der in diesem, wie er findet, "großen" Werk, auch einiges über die Funktionsweise von Lektüre und die Arbeitsprozesse des Gehirns lernt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.09.2018Auf der Mauer, auf der Lauer
Ein Fall von trockener Raserei: Der tausendseitige Roman „Schattenfroh“ von Michael Lentz ist das Produkt einer gigantischen, aber fruchtlosen Obsession
„Schattenfroh“, das neue Buch von Michael Lentz, hat viel überschwängliches Lob bekommen. Sprache werde hier als Waffe gehandhabt, Schreiben und Lesen würden zur untrennbaren Tateinheit, es sei ein einziges Anschreiben und Anschreien gegen den Tod, eine Herausforderung, radikal suggestiv und doch überaus tröstlich, ein zutiefst rührendes Buch und zugleich ein wahrer Lavastrom; es schenke einem – Zeit. So naht man sich dem Werk voll Bangen und Erwartung.
Und findet sich alsbald enttäuscht. Es spendet weder Trost noch Rührung, es fordert nicht heraus und suggeriert nichts, es glüht nicht wie Lava: sondern es raschelt wie das Papier, aus dem es besteht. Von einer Einheit aus Lesen und Schreiben kann nicht die Rede sein, denn der unbezweifelbare Furor der Produktion findet keine Fortsetzung in die Lektüre, sondern lähmt sie; und wer sich dennoch darauf einlässt (wie ein Rezensent es doch muss), dem schenkt es die Zeit nicht, die er zum Lesen braucht, sondern raubt sie ihm. Der Autor, der mit diesem Einwand rechnet, hat ihn vorab zu entkräften versucht, indem er das „Nichtverstehen“, offenbar also das Nichtverstehenwollen, zum eigentlichen Phänomen des Literaturbetriebs erklärt.
Davon lasse man sich nicht einschüchtern. An diesem Buch gibt es nichts zu verstehen, denn es behandelt Sprache vor allem als Material. Material als solches jedoch hat keine Bedeutung. „Es gibt kein Jenseits der Sprache“, heißt es an einer Stelle bei Lentz. Aber Sprache konstituiert sich ausschließlich durch dieses Jenseits, denn wiese sie nicht über sich hinaus auf etwas, das sie sagen will, so wäre sie eben nicht Sprache, sondern Geräusch. Lentz schreibt in kompletten, manchmal überkomplexen Sätzen: Sie verdecken den Umstand, dass es in diesem Buch zuletzt um nichts geht; dass alle seine vielen Motive im Leeren kreisen.
Ziemlich am Anfang liefert das Buch eine Liste der Dinge, die in es eingegangen sind: „Ein großes Gebäude ist zu erkennen, ein Büro, ein Vater, eine Zelle, ein mittelalterliches Essen, ein Verhör, eine schwarze Seite, eine Hölle, eine Kröte, eine Chimäre, ein aufgeschlagenes Buch, Ruprecht, Rilke, eine Himmelsreise, die Damen der sieben Vorzimmer, ein Thron Gottes, ein Wandteppich, ein Stadtplan, ein Muttergotteshäuschen, eine Stadtmauer, eine Holzpuppe, ein Fratzenstuhl“ etc., es folgen noch ungefähr fünfzig weitere Stichworte. Jedes Motiv nimmt ausgeführt viele Seiten in Anspruch, ohne dass im Nacheinander so etwas wie eine Komposition fühlbar würde; und die Gleichform ermüdet.
Wer Objekte vorrangig als Motiv benutzt, braucht Präzision und Ökonomie. An diesen Qualitäten fehlt es Lentz durchgängig. Lentz will nicht erzählen, muss es dann aber natürlich doch (er nennt das Buch, obschon mit ersichtlichem Widerwillen, einen Roman) und tut es entsprechend schlecht. Dass die Person Michael Lentz, der 1964 in Düren im Rheinland geboren wurde, am autoritären und nunmehr verstorbenen Vater, dem Oberstadtdirektor seiner Heimatstadt, gelitten hat, mag sein. Das Buch verleiht diesem Leiden indes keine Gestalt, weil es den Übervater einerseits zum Gottvater, andererseits zum mittelalterlichen Feudalherrn macht und darüber hinaus noch zu diesem und jenem, was sich gegenseitig auf die Füße tritt.
Der Feudalherr gibt ein Festmahl, sämtliche altfränkischen Hofämter werden eingehend geschildert – wozu, da sich hierin doch weder persönliche noch gesellschaftliche Erfahrung spiegelt und der Aspekt des Tyrannischen sich ins Wohlgefallen des Zeremoniells auflöst? Das spielt keine Rolle, der Text lässt sich stattdessen mitreißen vom Anblick einer „Manipel“, der sauber über den Arm geschlungenen Serviette eines Würdenträgers. Über die Koketterie, dass der gestresste Sohn sich als gekreuzigter Christus aufbaut und aufbauscht oder dass immer und überall die Fanfaren der Apokalypse schmettern, braucht man sich nicht weiter aufzuhalten. Es ist sowieso schon egal.
Dabei ist das Ganze durchaus anspruchsvoll und anstrengend. Längere Passagen erscheinen in Hebräisch und Latein, spiegelverkehrt, auf dem Kopf stehend (zuweilen beides), als reine Fantasieschrift, verblassend, kleiner werdend ... Und man sollte bitte schön als Leser dieses Buches schon wissen, was ein Bottelerius, ein Quaternio, ein Gonfanon oder ein Psychopompos sind. Zahlreiche Geistesgrößen finden Erwähnung, Sigmund Freud, Augustinus, Michel Foucault und hundert andere (auf halbem Weg ist eine lange Bibliografie eingeschoben). Die Bezüge zu Kafka gleiten von der Hommage ins schlechte Plagiat hinüber.
Das Ich, das hier spricht, erweist sich als schwankend in Zeit und Raum, aber insgesamt doch von großer Zähigkeit. Mehrfach wird es umgebracht, erstochen oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt, ohne dass dies seine Fortdauer beeinträchtigte. Für ein langes Intervall taucht es in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges ein, es nähert sich seiner Heimatstadt Düren, wird als Spion verhaftet, strafweise dazu verdonnert, an der Ausbesserung der Stadtmauer mitzuwirken, streift aber nächtlich umher und findet dabei einen Teppich, einen Stuhl mit als Fratzengesicht geschnitzter Lehne sowie eine vergammelte Puppe, drei Gegenstände, die nun in ungeheurer Breite ausgewalzt werden.
Das liest sich so: „Die Puppe musste der Fratze immer zu Diensten sein, die im Wesentlichen daraus bestanden, ihr von hinten durch den Mund zu kriechen. Ihr Gesicht sei ein Briefkasten ohne Haus, meinte die Fratze immer, und genauso nutzlos sei sie, die Puppe, nämlich Post, die beidseitig durch ihren Mundschlitz falle und nie gelesen werde. Die Inschrift wurde merklich größer mit jedem Tag, die Puppe selbst blieb bis auf die Stirn unverändert. Zunächst machte sich das Wachstum dadurch bemerkbar, dass sie eines Tages nicht mehr durch den Fratzenmund passte. Als sie darin stecken blieb, hustete die Fratze sie mit größter Anstrengung wieder aus und verbot ihr fortan, durch ihren Mund zu kriechen, sie hatte Angst, an ihr zu ersticken.“
Das Wesentliche solcher Art zu schreiben aber bringt selbst dieses verhältnismäßig lange Zitat noch nicht zum Vorschein: dass es einfach nicht aufhört, dass es immer so weitergeht. Das Groteske, das grund- und bodenlos Absurde des Verhältnisses von Stuhl und Puppe füllt Seite um Seite, mit einer geistesabwesenden Hartnäckigkeit, die den Leser von der bloßen Langeweile allmählich in die Verzweiflung treibt.
Warum macht Michael Lentz so etwas? Der obsessive Charakter des Projekts lässt sich nicht verkennen. Aber wovon ist es so sehr besessen? Lentz, wie gesagt, schätzt Sprache zuerst und vor allem als Material, ihrem Klang nach. Darin zeigt sich seine Herkunft aus der Slam Poetry. In ihr gibt es ja durchaus Wirkungen, die sich allein der Lauthaftigkeit der Sprache verdanken. Und man kann sich vorstellen, welche Erfolge Lentz mit seinem ausdrucksvollen Nosferatu-Haupt dabei erzielt hat. Beim Wechsel in die Schriftlichkeit bleibt einiges davon auf der Strecke.
Als den Kern von Lentz’ Schaffen darf man das Anagramm betrachten: Die Buchstaben eines Namens oder Begriffs werden immer neu kaleidoskopisch durcheinandergeworfen und erwecken den Anschein, als müsste dieses per Zufallsgenerator erzeugte Klangbild dann doch auch was heißen – was ausgeschlossen ist. So individualisieren sich Stimmen, die aus der Suppe aufsteigen (so etwas gibt es öfters in diesem Buch) zu „Lache mit Lentz“, „Macht in Zelle“, „Alle Chemnitz“, „Mein Elchlatz“, „Am Elch Litzen“, „Zelle am Nicht“, „Tanz mich Elle“ und „Allich Zement“, und haben nacheinander ihren Einzelauftritt.
Lentz wendet sich dem Kohlhaas von Kleist zu, und der schuftige Junker Wenzel von Tronka wandelt sich zu „Worte von Kanzeln“, „Rotz wenn Alkoven“, „Konzert von Walen“ und so weiter und so fort. Auch der titelgebende Schattenfroh permutiert vielfach; ihm wird zum Schluss des Buchs immer je ein weiterer Buchstabe subtrahiert, und der verbliebene Rest wird sodann durch die anagrammatische Mühle gedreht, wie eine besonders langwierige Variation des Kinderliedes von der Wanze, die auf der Mauer auf der Lauer liegt. Ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode – oder eher umgekehrt: Hat es auch Methode, Wahnsinn bleibt es doch, und zwar eine sehr trockene Art von Raserei. So etwas zu schreiben, ist das eine. Aber wer, bitte, soll das lesen? Und ob nicht der ein oder andere Lobredner dieses Buchs insgeheim doch gegähnt hat?
An einer Stelle hat Michael Lentz es anders gemacht. Die Frage, ob und inwiefern physischer Schmerz nachvollziehbar bzw. darstellbar ist, ob es eine Kunst des Schmerzes geben kann oder ob das alles nur „Painporn“ wäre, beschäftigt ihn wirklich. Da lässt er dann endlich doch einmal den öden Schnickschnack beiseite und nimmt sich mit großer Intensität Rilkes spätes Gedicht vor, das mit den Versen beginnt: „Komm du, du letzter, den ich anerkenne, / Heilloser Schmerz im leiblichen Geweb“. Im Horizont des tausendseitigen Buchs kommt solch punktueller Ernst in der Sache freilich nur als konzeptioneller Ausrutscher in Betracht.
BURKHARD MÜLLER
Das Ich, das hier spricht, erweist
sich als schwankend in Zeit und
Raum, aber von großer Zähigkeit
Die Frage, ob und inwiefern
physischer Schmerz darstellbar
ist, interessiert Lentz wirklich
Michael Lentz: Schattenfroh. Roman. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2018, 1008 Seiten, 36 Euro.
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Ein Fall von trockener Raserei: Der tausendseitige Roman „Schattenfroh“ von Michael Lentz ist das Produkt einer gigantischen, aber fruchtlosen Obsession
„Schattenfroh“, das neue Buch von Michael Lentz, hat viel überschwängliches Lob bekommen. Sprache werde hier als Waffe gehandhabt, Schreiben und Lesen würden zur untrennbaren Tateinheit, es sei ein einziges Anschreiben und Anschreien gegen den Tod, eine Herausforderung, radikal suggestiv und doch überaus tröstlich, ein zutiefst rührendes Buch und zugleich ein wahrer Lavastrom; es schenke einem – Zeit. So naht man sich dem Werk voll Bangen und Erwartung.
Und findet sich alsbald enttäuscht. Es spendet weder Trost noch Rührung, es fordert nicht heraus und suggeriert nichts, es glüht nicht wie Lava: sondern es raschelt wie das Papier, aus dem es besteht. Von einer Einheit aus Lesen und Schreiben kann nicht die Rede sein, denn der unbezweifelbare Furor der Produktion findet keine Fortsetzung in die Lektüre, sondern lähmt sie; und wer sich dennoch darauf einlässt (wie ein Rezensent es doch muss), dem schenkt es die Zeit nicht, die er zum Lesen braucht, sondern raubt sie ihm. Der Autor, der mit diesem Einwand rechnet, hat ihn vorab zu entkräften versucht, indem er das „Nichtverstehen“, offenbar also das Nichtverstehenwollen, zum eigentlichen Phänomen des Literaturbetriebs erklärt.
Davon lasse man sich nicht einschüchtern. An diesem Buch gibt es nichts zu verstehen, denn es behandelt Sprache vor allem als Material. Material als solches jedoch hat keine Bedeutung. „Es gibt kein Jenseits der Sprache“, heißt es an einer Stelle bei Lentz. Aber Sprache konstituiert sich ausschließlich durch dieses Jenseits, denn wiese sie nicht über sich hinaus auf etwas, das sie sagen will, so wäre sie eben nicht Sprache, sondern Geräusch. Lentz schreibt in kompletten, manchmal überkomplexen Sätzen: Sie verdecken den Umstand, dass es in diesem Buch zuletzt um nichts geht; dass alle seine vielen Motive im Leeren kreisen.
Ziemlich am Anfang liefert das Buch eine Liste der Dinge, die in es eingegangen sind: „Ein großes Gebäude ist zu erkennen, ein Büro, ein Vater, eine Zelle, ein mittelalterliches Essen, ein Verhör, eine schwarze Seite, eine Hölle, eine Kröte, eine Chimäre, ein aufgeschlagenes Buch, Ruprecht, Rilke, eine Himmelsreise, die Damen der sieben Vorzimmer, ein Thron Gottes, ein Wandteppich, ein Stadtplan, ein Muttergotteshäuschen, eine Stadtmauer, eine Holzpuppe, ein Fratzenstuhl“ etc., es folgen noch ungefähr fünfzig weitere Stichworte. Jedes Motiv nimmt ausgeführt viele Seiten in Anspruch, ohne dass im Nacheinander so etwas wie eine Komposition fühlbar würde; und die Gleichform ermüdet.
Wer Objekte vorrangig als Motiv benutzt, braucht Präzision und Ökonomie. An diesen Qualitäten fehlt es Lentz durchgängig. Lentz will nicht erzählen, muss es dann aber natürlich doch (er nennt das Buch, obschon mit ersichtlichem Widerwillen, einen Roman) und tut es entsprechend schlecht. Dass die Person Michael Lentz, der 1964 in Düren im Rheinland geboren wurde, am autoritären und nunmehr verstorbenen Vater, dem Oberstadtdirektor seiner Heimatstadt, gelitten hat, mag sein. Das Buch verleiht diesem Leiden indes keine Gestalt, weil es den Übervater einerseits zum Gottvater, andererseits zum mittelalterlichen Feudalherrn macht und darüber hinaus noch zu diesem und jenem, was sich gegenseitig auf die Füße tritt.
Der Feudalherr gibt ein Festmahl, sämtliche altfränkischen Hofämter werden eingehend geschildert – wozu, da sich hierin doch weder persönliche noch gesellschaftliche Erfahrung spiegelt und der Aspekt des Tyrannischen sich ins Wohlgefallen des Zeremoniells auflöst? Das spielt keine Rolle, der Text lässt sich stattdessen mitreißen vom Anblick einer „Manipel“, der sauber über den Arm geschlungenen Serviette eines Würdenträgers. Über die Koketterie, dass der gestresste Sohn sich als gekreuzigter Christus aufbaut und aufbauscht oder dass immer und überall die Fanfaren der Apokalypse schmettern, braucht man sich nicht weiter aufzuhalten. Es ist sowieso schon egal.
Dabei ist das Ganze durchaus anspruchsvoll und anstrengend. Längere Passagen erscheinen in Hebräisch und Latein, spiegelverkehrt, auf dem Kopf stehend (zuweilen beides), als reine Fantasieschrift, verblassend, kleiner werdend ... Und man sollte bitte schön als Leser dieses Buches schon wissen, was ein Bottelerius, ein Quaternio, ein Gonfanon oder ein Psychopompos sind. Zahlreiche Geistesgrößen finden Erwähnung, Sigmund Freud, Augustinus, Michel Foucault und hundert andere (auf halbem Weg ist eine lange Bibliografie eingeschoben). Die Bezüge zu Kafka gleiten von der Hommage ins schlechte Plagiat hinüber.
Das Ich, das hier spricht, erweist sich als schwankend in Zeit und Raum, aber insgesamt doch von großer Zähigkeit. Mehrfach wird es umgebracht, erstochen oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt, ohne dass dies seine Fortdauer beeinträchtigte. Für ein langes Intervall taucht es in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges ein, es nähert sich seiner Heimatstadt Düren, wird als Spion verhaftet, strafweise dazu verdonnert, an der Ausbesserung der Stadtmauer mitzuwirken, streift aber nächtlich umher und findet dabei einen Teppich, einen Stuhl mit als Fratzengesicht geschnitzter Lehne sowie eine vergammelte Puppe, drei Gegenstände, die nun in ungeheurer Breite ausgewalzt werden.
Das liest sich so: „Die Puppe musste der Fratze immer zu Diensten sein, die im Wesentlichen daraus bestanden, ihr von hinten durch den Mund zu kriechen. Ihr Gesicht sei ein Briefkasten ohne Haus, meinte die Fratze immer, und genauso nutzlos sei sie, die Puppe, nämlich Post, die beidseitig durch ihren Mundschlitz falle und nie gelesen werde. Die Inschrift wurde merklich größer mit jedem Tag, die Puppe selbst blieb bis auf die Stirn unverändert. Zunächst machte sich das Wachstum dadurch bemerkbar, dass sie eines Tages nicht mehr durch den Fratzenmund passte. Als sie darin stecken blieb, hustete die Fratze sie mit größter Anstrengung wieder aus und verbot ihr fortan, durch ihren Mund zu kriechen, sie hatte Angst, an ihr zu ersticken.“
Das Wesentliche solcher Art zu schreiben aber bringt selbst dieses verhältnismäßig lange Zitat noch nicht zum Vorschein: dass es einfach nicht aufhört, dass es immer so weitergeht. Das Groteske, das grund- und bodenlos Absurde des Verhältnisses von Stuhl und Puppe füllt Seite um Seite, mit einer geistesabwesenden Hartnäckigkeit, die den Leser von der bloßen Langeweile allmählich in die Verzweiflung treibt.
Warum macht Michael Lentz so etwas? Der obsessive Charakter des Projekts lässt sich nicht verkennen. Aber wovon ist es so sehr besessen? Lentz, wie gesagt, schätzt Sprache zuerst und vor allem als Material, ihrem Klang nach. Darin zeigt sich seine Herkunft aus der Slam Poetry. In ihr gibt es ja durchaus Wirkungen, die sich allein der Lauthaftigkeit der Sprache verdanken. Und man kann sich vorstellen, welche Erfolge Lentz mit seinem ausdrucksvollen Nosferatu-Haupt dabei erzielt hat. Beim Wechsel in die Schriftlichkeit bleibt einiges davon auf der Strecke.
Als den Kern von Lentz’ Schaffen darf man das Anagramm betrachten: Die Buchstaben eines Namens oder Begriffs werden immer neu kaleidoskopisch durcheinandergeworfen und erwecken den Anschein, als müsste dieses per Zufallsgenerator erzeugte Klangbild dann doch auch was heißen – was ausgeschlossen ist. So individualisieren sich Stimmen, die aus der Suppe aufsteigen (so etwas gibt es öfters in diesem Buch) zu „Lache mit Lentz“, „Macht in Zelle“, „Alle Chemnitz“, „Mein Elchlatz“, „Am Elch Litzen“, „Zelle am Nicht“, „Tanz mich Elle“ und „Allich Zement“, und haben nacheinander ihren Einzelauftritt.
Lentz wendet sich dem Kohlhaas von Kleist zu, und der schuftige Junker Wenzel von Tronka wandelt sich zu „Worte von Kanzeln“, „Rotz wenn Alkoven“, „Konzert von Walen“ und so weiter und so fort. Auch der titelgebende Schattenfroh permutiert vielfach; ihm wird zum Schluss des Buchs immer je ein weiterer Buchstabe subtrahiert, und der verbliebene Rest wird sodann durch die anagrammatische Mühle gedreht, wie eine besonders langwierige Variation des Kinderliedes von der Wanze, die auf der Mauer auf der Lauer liegt. Ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode – oder eher umgekehrt: Hat es auch Methode, Wahnsinn bleibt es doch, und zwar eine sehr trockene Art von Raserei. So etwas zu schreiben, ist das eine. Aber wer, bitte, soll das lesen? Und ob nicht der ein oder andere Lobredner dieses Buchs insgeheim doch gegähnt hat?
An einer Stelle hat Michael Lentz es anders gemacht. Die Frage, ob und inwiefern physischer Schmerz nachvollziehbar bzw. darstellbar ist, ob es eine Kunst des Schmerzes geben kann oder ob das alles nur „Painporn“ wäre, beschäftigt ihn wirklich. Da lässt er dann endlich doch einmal den öden Schnickschnack beiseite und nimmt sich mit großer Intensität Rilkes spätes Gedicht vor, das mit den Versen beginnt: „Komm du, du letzter, den ich anerkenne, / Heilloser Schmerz im leiblichen Geweb“. Im Horizont des tausendseitigen Buchs kommt solch punktueller Ernst in der Sache freilich nur als konzeptioneller Ausrutscher in Betracht.
BURKHARD MÜLLER
Das Ich, das hier spricht, erweist
sich als schwankend in Zeit und
Raum, aber von großer Zähigkeit
Die Frage, ob und inwiefern
physischer Schmerz darstellbar
ist, interessiert Lentz wirklich
Michael Lentz: Schattenfroh. Roman. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2018, 1008 Seiten, 36 Euro.
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'Schattenfroh' ist ohne Zweifel eines der interessantesten Experimente der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahre. [...] eine Prosa, die weit, sehr weit über das Tagesgeschehen des Literaturbetriebs hinausweist. Andreas Puff-Trojan Südwestrundfunk 20180902