Unter dem blühenden Lindenbaum eines patagonischen Landguts, der die Kulisse von Clementines neunzigstem Geburtstag bildet, treffen zur Jahrtausendwende zwölf Personen aus drei Generationen aufeinander - Sommergäste, von denen jeder seinen Teil der gemeinsamen Geschichte der Auswanderung und Emigration aus einem aus den Fugen geratenen Europa mit sich trägt: die Wiener Jubilarin, ihr Sohn Martin, die Enkel Katha und Gabriel und all die anderen. Sie finden sich nicht bloß mit ungelösten Familienproblemen, sondern auch mit den Geistern der jüngsten Vergangenheit konfrontiert. Das schicksalhafte Gartenfest steigert sich zu einer tragikomischen Klimax trifft unausweichlich ein, unerwartet und wie nebenher. Unverblümt und schwarzhumorig entführt der Austroargentinier Germán Kratochwil in eine gleichermaßen exotische wie allzu vertraute Welt, er bohrt tief in die Vergangenheit und in die Seelen seiner Protagonisten. Eingebettet in die kulinarische und landschaftliche Üppigkeit des scheinbar so bukolischen Andentals entsteht so ein großer europäischer Roman.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Jan Koneffke hat viel zu erzählen von diesem Roman, der so viel zu erzählen hat. Über drei Generationen europäischer Auswanderer in Patagonien dehnt sich die Geschichte, die German Kratochwil in seinem Debüt aufschreibt. Das geht nicht ohne Überfrachtungen ab, typische Anfängerfehler, nennt Koneffke das leicht überheblich. Was das Buch dem Leser an symbolischer Pastosität zumutet, tritt für den Rezensenten jedoch zurück hinter "menschenklugen", witzigen und hintersinnigen Schilderungen und Figurenbeschreibungen, etwa von der Großmutter Clementine, die "zwischen Grantigkeit und Operettenträllerei" angesiedelt ist. Ebenso überzeugend seien die verschiedenen Perspektiven und der souveräne Gang durch Räume und Zeiten umgesetzt. Koneffke zeigt sich gefesselt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.06.2012Unschuldslämmer gibt es nicht
In seinem Roman „Scherbengericht“ macht der Austro-Argentinier Germán Kratochwil Patagonien zum Schauplatz europäischer Geschichte
Hedwig Holzapfel ist eine Nebenfigur. Sie kommt auf wenigen Romanseiten vor, obwohl ihre Geschichte das Buch füllen könnte. Ihr Mann, ein aus Österreich eingewanderter Chemiker, muss wegen Herzschwäche in Pension. Bald darauf wird Hedwig hinterbracht, dass er häufig Strichjungen im Bahnhofsviertel von Buenos Aires aufsucht. Auch den Kindern Eva und Haroldo, damals sechzehn und achtzehn, bleibt dieser Umstand nicht verborgen. In dem „stumm und bleischwer gewordenen Haushalt“ dauert es nur Wochen, bis der Vater sich das Leben nimmt.
Unter der Militärdiktatur schließt Haroldo sich dem bewaffneten Untergrund an – und muss bald, wie viele Tausende, zu Argentiniens „Verschwundenen“ gerechnet werden. Die junge Eva wirft sich darauf vor einen fahrenden Zug. Aus dem Tagebuch der Tochter erfährt Frau Holzapfel, dass ihre Kinder, erschüttert nach dem Selbstmord des Vaters, einander umarmend ins Bett gesunken waren. Haroldo blieb der einzige Mann in Evas kurzem Leben. Am Ende der Diktatur bekämpft Hedwig Holzapfel ihren Lymphdrüsenkrebs nur noch in der Hoffnung, Gewissheit über das Schicksal des Sohnes zu erhalten, was ihr aber nicht mehr gelingt.
Eine Episode in einem Roman. Als solcher bezeichnet sich dieses reiche, weit ausgreifende Buch mit vollem Recht, auch wenn es mit der Kategorie „Fiktion“ falsch etikettiert wäre. Nichts ist hier fiktiv, nicht einmal das Surreale. Wenn die schöne Katha Holberg beim Whale watching vor der patagonischen Steilküste von den belauschten Walen nichts als gemeine Beschimpfungen vernimmt, taumelt sie bereits in ihre Wahnwelt. Auch das südamerikanische Sanktuarium der Lady Di mag wie erfunden wirken: der Altar mit dem überlebensgroßen Fotoporträt der verunglückten Prinzessin, davor die Blumenarrangements, die mit Postkarten und Verehrerbriefen bespickt sind. Und, in einer beleuchteten Vitrine: das lavendelblaue Teegeschirr, das die Lippen und Fingerspitzen Diana Spencers berührt haben.
Das ist aber nicht erfunden, sondern Realsatire: Diese Teestube der vor über hundert Jahren eingewanderten Siedler aus Wales, in der Lady Di am 25. November 1995 an einem Himbeertörtchen geknabbert hat, gehört zu den Attraktionen des patagonischen Fremdenverkehrs. Obwohl sie sich mit Her Royal Highness identifiziert, packt Katha in der verkitschten Gedenkstätte die Panik: Sie glaubt, wieder in einer psychiatrischen Klinik gelandet zu sein. Martin Holberg beruhigt seine Tochter: „Wir fahren sofort weiter, wir fahren zur Oma; die freut sich schon so auf dich.“ Die Oma macht Urlaub auf einem Bauernhof hoch in den Kordilleren.
Der Austro-Argentinier Germán Kratochwil, 1938 in Korneuburg geboren, ist kurz nach Kriegsende in Buenos Aires und im patagonischen Chubut aufgewachsen. Er wurde in Hamburg zum Sozialwissenschaftler promoviert, arbeitete vierzig Jahre als Migrationsexperte in Lateinamerika und publizierte Fachliches meist auf Spanisch. In seinem altersreifen Debütroman kehrt er zur deutschen Muttersprache zurück, die er einst als Übersetzer von Borges-Gedichten für sich wiederbelebt hat. Seine Erzählkunst zeugt vom absoluten Gehör, das den Sprachduktus von Menschen verschiedenster Herkunft, Mentalität und Generation zu treffen oder zu paraphrasieren vermag.
Das ist für sein „Scherbengericht“ unentbehrlich, denn die Handlung wird aus der Perspektive von acht höchst unterschiedlichen Charakteren ausgebreitet. Sie kulminiert am 1. Januar 2000 an einer Festtafel unter der blühenden Linde eines Bergbauernhofes. Den hat der Lagler-Wastl aus dem Grödnertal, der die Prügel der Schwarzhemden Mussolinis nicht mehr ertrug, siebzig Jahre zuvor in den Anden aufgebaut und seinem tüchtigen Sohn Treugott vererbt.
Bei Anbruch des neuen Jahrtausends feiert hier die Oma, die matriarchalische „Ur-Wienerin“ und unheilbare Austrofaschistin Clementine Kohlgruber de Holberg ihren Neunzigsten. Manche der Gäste begegnen einander zum ersten Mal. Ein Drittel etwa – Clementines Enkelkinder inbegriffen – sind „jüdisch versippt“. Und die engsten Freunden der Jubilarin sind der „volljüdische“ Psychotherapeut Elias Königsberg, ursprünglich aus Fürth, und Siegmund Rohr, ein etwas debiler alter Nazi, der einen telepathisch begabten Dackel besitzt. Siegmund stammt aus der „Umgebung von Linz“, auch Mauthausen genannt.
In „Scherbengericht“ kommen an die dreißig Personen vor, ohne dass Konfusion entstünde. Schnell ist man in der Handlung drin. Der ferne, vielfältige Planet Patagonien und die dort verstreute Auswanderermischung werden von Kratochwil nahezu beiläufig vorgestellt. Doch selbst seine Randfiguren gewinnen schnell Kontur und Einprägsamkeit, wie sie nur ein genauer Milieu- und Menschenkenner herstellen kann.
Das Personal seines humorig durchwachsenen Dramas könnte nicht problematischer sein: Schiffbrüchige der europäischen Katastrophe und der Ostrazismen des gerade abgelaufenen Jahrhunderts, rassisch Verfolgte, der Nachkriegsjustiz Entkommene, Heimatvertriebene, Abgetauchte, aber auch harmlose Sexualsektierer und Kohlrabiapostel. Die wilde Schönheit Patagoniens wird aus ungewöhnlicher Sicht geboten: Clementines rebellierender Enkel Gabriel landet vor der Festtafel mit dem Paragleiter.
Die Herkunft seiner Hauptfiguren macht Kratochwil durch leichthändig eingestreute Rückblenden erfahrbar. Diese greifen bis in das Wien der Zwischenkriegszeit, haben stets den Geruch und Geschmack des Authentischen. Denn die Spannung der Geschichte entsteht aus den Schatten der Vergangenheit, aus der Nachbarschaft, sogar Verwandtschaft der Opfer und der Täter – samt ihrer beschädigten Nachkommen. Sie sind nun einmal alle Gäste auf dem Bauernhof des Treugott Lagler, unter einem Dach und unter einer Linde, sie essen gemeinsam an einer üppig beladenen Festtafel das patagonische Lamm – oder stehen erschüttert an der Bahre eines guten Menschen, der beim Feiern verzweifelt ist.
Was bleibt ihnen anderes übrig als das Gemenge aus Distanz und Akzeptanz, Misstrauen und Manieren, Zynismus und menschlicher Restwärme, das sich nach allen Kriegen, Revolutionen, Gewaltregimen und Horrorherrschaften zur Überlebensformel wird? Ganz ohne „Verdrängen“ und „Ausblenden“ ist das Weiterwursteln in Richtung Normalität ja kaum zu schaffen.
Die krebskranke Witwe Hedwig Holzapfel, der ein terroristisches Militärregime nach dem Selbstmord ihres Mannes den Sohn geraubt und die Tochter in den Tod getrieben hat – diese zutiefst bedauernswerte Opfergestalt findet Trost und Beistand ausgerechnet bei der alten Nazisse Clementine. Diese begleitet die im Damenkränzchen gemiedene Leidensfigur zu den Gerichten, zur Polizei, zu den Menschenrechtlern, zur österreichischen Botschaft, um ihr bei der Suche nach dem (gewiss für immer) „verschwundenen“ Sohn zu helfen.
Es gehört zu den witzig-erschreckenden Passagen des Romans, den primitiven Vorurteilen im Redestrom der Vorstadt-Wienerin zu lauschen, die sich so rührend um die arme Hedwig kümmert. Die Faschistin fühlt sich der Leidenden, wie sie meint, „landsmännisch“ verbunden.
In ihrer Dankesrede für den Österreichischen Kunstpreis hat die Berliner Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff die Literaten des Nachbarlandes nicht mit Freundlichkeiten überschüttet, sondern ihren Überdruss am „Pornographischen“, am „Hass-Sex“, am „ewigen Österreich-Bashing“ erkennen lassen. „Sie sagen uns, wie es um die Finsternis des Menschen, respektive des Österreichers wirklich stünde. Papperlappapp, sage ich, das ist eine dreiste Lüge. Um ins Herz der Finsternis vorzudringen, muss man die verirrte Güte des Menschen beschreiben können. Menschen sind komplex, das ist das Teuflische an ihnen; das Erhabene, das Widerliche, das Großzügige, das Grausame, das Schöne hausen Herzkammer an Herzkammer. Nur wer imstande ist, etwas von solcher Komplexität zu erfassen, hat unsere Aufmerksamkeit und Zuneigung verdient.“
Ob der gebürtige Korneuburger Germán Kratochwil in Patagonien ins Herz der Finsternis geblickt hat, können wir nicht wissen. Aber der niemals humorlose Einblick in seine Charaktere lässt Menschen entstehen, die man wiedererkennt. Aufmerksamkeit, und wohl noch mehr, hat er verdient.
CARLOS WIDMANN
GERMÁN KRATOCHWIL: Scherbengericht. Roman. Picus Verlag, Wien 2012. 312 Seiten, 22,90 Euro.
Nichts ist in diesem
Roman fiktiv,
nicht einmal das Surreale
Siegmund stammt aus
der „Umgebung von Linz“,
auch Mauthausen genannt
Der äußerste Süden Südamerikas ist ein europäischer Sehnsuchts- und Fluchtort: Germán Kratochwil erzählt in seinem Roman von Exilanten, Abgetauchten und Sektierern, die es nach Patagonien verschlagen hat. Wenn dort an der Festtafel Lamm serviert wird, bleibt manchem der Bissen im Halse stecken. Foto: plainpicture
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem Roman „Scherbengericht“ macht der Austro-Argentinier Germán Kratochwil Patagonien zum Schauplatz europäischer Geschichte
Hedwig Holzapfel ist eine Nebenfigur. Sie kommt auf wenigen Romanseiten vor, obwohl ihre Geschichte das Buch füllen könnte. Ihr Mann, ein aus Österreich eingewanderter Chemiker, muss wegen Herzschwäche in Pension. Bald darauf wird Hedwig hinterbracht, dass er häufig Strichjungen im Bahnhofsviertel von Buenos Aires aufsucht. Auch den Kindern Eva und Haroldo, damals sechzehn und achtzehn, bleibt dieser Umstand nicht verborgen. In dem „stumm und bleischwer gewordenen Haushalt“ dauert es nur Wochen, bis der Vater sich das Leben nimmt.
Unter der Militärdiktatur schließt Haroldo sich dem bewaffneten Untergrund an – und muss bald, wie viele Tausende, zu Argentiniens „Verschwundenen“ gerechnet werden. Die junge Eva wirft sich darauf vor einen fahrenden Zug. Aus dem Tagebuch der Tochter erfährt Frau Holzapfel, dass ihre Kinder, erschüttert nach dem Selbstmord des Vaters, einander umarmend ins Bett gesunken waren. Haroldo blieb der einzige Mann in Evas kurzem Leben. Am Ende der Diktatur bekämpft Hedwig Holzapfel ihren Lymphdrüsenkrebs nur noch in der Hoffnung, Gewissheit über das Schicksal des Sohnes zu erhalten, was ihr aber nicht mehr gelingt.
Eine Episode in einem Roman. Als solcher bezeichnet sich dieses reiche, weit ausgreifende Buch mit vollem Recht, auch wenn es mit der Kategorie „Fiktion“ falsch etikettiert wäre. Nichts ist hier fiktiv, nicht einmal das Surreale. Wenn die schöne Katha Holberg beim Whale watching vor der patagonischen Steilküste von den belauschten Walen nichts als gemeine Beschimpfungen vernimmt, taumelt sie bereits in ihre Wahnwelt. Auch das südamerikanische Sanktuarium der Lady Di mag wie erfunden wirken: der Altar mit dem überlebensgroßen Fotoporträt der verunglückten Prinzessin, davor die Blumenarrangements, die mit Postkarten und Verehrerbriefen bespickt sind. Und, in einer beleuchteten Vitrine: das lavendelblaue Teegeschirr, das die Lippen und Fingerspitzen Diana Spencers berührt haben.
Das ist aber nicht erfunden, sondern Realsatire: Diese Teestube der vor über hundert Jahren eingewanderten Siedler aus Wales, in der Lady Di am 25. November 1995 an einem Himbeertörtchen geknabbert hat, gehört zu den Attraktionen des patagonischen Fremdenverkehrs. Obwohl sie sich mit Her Royal Highness identifiziert, packt Katha in der verkitschten Gedenkstätte die Panik: Sie glaubt, wieder in einer psychiatrischen Klinik gelandet zu sein. Martin Holberg beruhigt seine Tochter: „Wir fahren sofort weiter, wir fahren zur Oma; die freut sich schon so auf dich.“ Die Oma macht Urlaub auf einem Bauernhof hoch in den Kordilleren.
Der Austro-Argentinier Germán Kratochwil, 1938 in Korneuburg geboren, ist kurz nach Kriegsende in Buenos Aires und im patagonischen Chubut aufgewachsen. Er wurde in Hamburg zum Sozialwissenschaftler promoviert, arbeitete vierzig Jahre als Migrationsexperte in Lateinamerika und publizierte Fachliches meist auf Spanisch. In seinem altersreifen Debütroman kehrt er zur deutschen Muttersprache zurück, die er einst als Übersetzer von Borges-Gedichten für sich wiederbelebt hat. Seine Erzählkunst zeugt vom absoluten Gehör, das den Sprachduktus von Menschen verschiedenster Herkunft, Mentalität und Generation zu treffen oder zu paraphrasieren vermag.
Das ist für sein „Scherbengericht“ unentbehrlich, denn die Handlung wird aus der Perspektive von acht höchst unterschiedlichen Charakteren ausgebreitet. Sie kulminiert am 1. Januar 2000 an einer Festtafel unter der blühenden Linde eines Bergbauernhofes. Den hat der Lagler-Wastl aus dem Grödnertal, der die Prügel der Schwarzhemden Mussolinis nicht mehr ertrug, siebzig Jahre zuvor in den Anden aufgebaut und seinem tüchtigen Sohn Treugott vererbt.
Bei Anbruch des neuen Jahrtausends feiert hier die Oma, die matriarchalische „Ur-Wienerin“ und unheilbare Austrofaschistin Clementine Kohlgruber de Holberg ihren Neunzigsten. Manche der Gäste begegnen einander zum ersten Mal. Ein Drittel etwa – Clementines Enkelkinder inbegriffen – sind „jüdisch versippt“. Und die engsten Freunden der Jubilarin sind der „volljüdische“ Psychotherapeut Elias Königsberg, ursprünglich aus Fürth, und Siegmund Rohr, ein etwas debiler alter Nazi, der einen telepathisch begabten Dackel besitzt. Siegmund stammt aus der „Umgebung von Linz“, auch Mauthausen genannt.
In „Scherbengericht“ kommen an die dreißig Personen vor, ohne dass Konfusion entstünde. Schnell ist man in der Handlung drin. Der ferne, vielfältige Planet Patagonien und die dort verstreute Auswanderermischung werden von Kratochwil nahezu beiläufig vorgestellt. Doch selbst seine Randfiguren gewinnen schnell Kontur und Einprägsamkeit, wie sie nur ein genauer Milieu- und Menschenkenner herstellen kann.
Das Personal seines humorig durchwachsenen Dramas könnte nicht problematischer sein: Schiffbrüchige der europäischen Katastrophe und der Ostrazismen des gerade abgelaufenen Jahrhunderts, rassisch Verfolgte, der Nachkriegsjustiz Entkommene, Heimatvertriebene, Abgetauchte, aber auch harmlose Sexualsektierer und Kohlrabiapostel. Die wilde Schönheit Patagoniens wird aus ungewöhnlicher Sicht geboten: Clementines rebellierender Enkel Gabriel landet vor der Festtafel mit dem Paragleiter.
Die Herkunft seiner Hauptfiguren macht Kratochwil durch leichthändig eingestreute Rückblenden erfahrbar. Diese greifen bis in das Wien der Zwischenkriegszeit, haben stets den Geruch und Geschmack des Authentischen. Denn die Spannung der Geschichte entsteht aus den Schatten der Vergangenheit, aus der Nachbarschaft, sogar Verwandtschaft der Opfer und der Täter – samt ihrer beschädigten Nachkommen. Sie sind nun einmal alle Gäste auf dem Bauernhof des Treugott Lagler, unter einem Dach und unter einer Linde, sie essen gemeinsam an einer üppig beladenen Festtafel das patagonische Lamm – oder stehen erschüttert an der Bahre eines guten Menschen, der beim Feiern verzweifelt ist.
Was bleibt ihnen anderes übrig als das Gemenge aus Distanz und Akzeptanz, Misstrauen und Manieren, Zynismus und menschlicher Restwärme, das sich nach allen Kriegen, Revolutionen, Gewaltregimen und Horrorherrschaften zur Überlebensformel wird? Ganz ohne „Verdrängen“ und „Ausblenden“ ist das Weiterwursteln in Richtung Normalität ja kaum zu schaffen.
Die krebskranke Witwe Hedwig Holzapfel, der ein terroristisches Militärregime nach dem Selbstmord ihres Mannes den Sohn geraubt und die Tochter in den Tod getrieben hat – diese zutiefst bedauernswerte Opfergestalt findet Trost und Beistand ausgerechnet bei der alten Nazisse Clementine. Diese begleitet die im Damenkränzchen gemiedene Leidensfigur zu den Gerichten, zur Polizei, zu den Menschenrechtlern, zur österreichischen Botschaft, um ihr bei der Suche nach dem (gewiss für immer) „verschwundenen“ Sohn zu helfen.
Es gehört zu den witzig-erschreckenden Passagen des Romans, den primitiven Vorurteilen im Redestrom der Vorstadt-Wienerin zu lauschen, die sich so rührend um die arme Hedwig kümmert. Die Faschistin fühlt sich der Leidenden, wie sie meint, „landsmännisch“ verbunden.
In ihrer Dankesrede für den Österreichischen Kunstpreis hat die Berliner Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff die Literaten des Nachbarlandes nicht mit Freundlichkeiten überschüttet, sondern ihren Überdruss am „Pornographischen“, am „Hass-Sex“, am „ewigen Österreich-Bashing“ erkennen lassen. „Sie sagen uns, wie es um die Finsternis des Menschen, respektive des Österreichers wirklich stünde. Papperlappapp, sage ich, das ist eine dreiste Lüge. Um ins Herz der Finsternis vorzudringen, muss man die verirrte Güte des Menschen beschreiben können. Menschen sind komplex, das ist das Teuflische an ihnen; das Erhabene, das Widerliche, das Großzügige, das Grausame, das Schöne hausen Herzkammer an Herzkammer. Nur wer imstande ist, etwas von solcher Komplexität zu erfassen, hat unsere Aufmerksamkeit und Zuneigung verdient.“
Ob der gebürtige Korneuburger Germán Kratochwil in Patagonien ins Herz der Finsternis geblickt hat, können wir nicht wissen. Aber der niemals humorlose Einblick in seine Charaktere lässt Menschen entstehen, die man wiedererkennt. Aufmerksamkeit, und wohl noch mehr, hat er verdient.
CARLOS WIDMANN
GERMÁN KRATOCHWIL: Scherbengericht. Roman. Picus Verlag, Wien 2012. 312 Seiten, 22,90 Euro.
Nichts ist in diesem
Roman fiktiv,
nicht einmal das Surreale
Siegmund stammt aus
der „Umgebung von Linz“,
auch Mauthausen genannt
Der äußerste Süden Südamerikas ist ein europäischer Sehnsuchts- und Fluchtort: Germán Kratochwil erzählt in seinem Roman von Exilanten, Abgetauchten und Sektierern, die es nach Patagonien verschlagen hat. Wenn dort an der Festtafel Lamm serviert wird, bleibt manchem der Bissen im Halse stecken. Foto: plainpicture
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.09.2012Plemplem in Quemquemtréu
Der argentinische Österreicher Germán Kratochwil erzählt in seinem späten Debütroman "Scherbengericht" vom Verfall einer Familie in Patagonien - als Gesellschaftskomödie voller psychischer und politischer Abgründe.
Dieser neunzigste Geburtstag sei "wahrscheinlich" ihr letzter - so der eher drohende Unterton Clementine Holbergs. Bestellt und gerufen: So kommt am 1. Januar des Jahres 2000 ein weitverzweigter Familien- und Freundeskreis von allen Enden der Welt zusammen zur Geburtstagsfeier auf einem idyllischen Landgut in Quemquemtréu, einer kleinen Ortschaft in den südlichen Kordilleren. Unterm dezemberlich blühenden Lindenbaum gibt es köstlichen argentinischen Lammbraten und traditionellen kakanischen Kartoffelsalat. Patagonien erscheint als Land, in dem sich die Rezepte und die Schicksale kreuzen - etwa die von jüdischen Emigranten und entwichenen Nationalsozialisten. Die mitteleuropäische Auswanderergesellschaft hat viel Geschichte und viele Geschichten im Gepäck.
Deutschsprachige Familienromane, die in Patagonien spielen, gab es bisher eher nicht. Auch vierundsiebzig Jahre alte Debütanten gehören noch nicht zum Alltag des mitsamt der Gesellschaft alternden Literaturbetriebs. Germán Kratochwil, 1938 geboren in Korneuburg, ist nach dem Krieg mit seinen Eltern nach Argentinien ausgewandert. Beruflich war er als Soziologe für internationale Organisationen tätig. Diesen Hintergrund teilt er mit der Hauptfigur seines ersten Romans, Clementines Sohn Dr. Martin Holberg, der vor der Geburtstagsfeier noch ein bisschen Vermittlerarbeit zu leisten hat. Der Beauftragte für Minderheitenschutz absolviert im Auftrag der Stiftung "Boden und Frieden" einen Termin bei einer Mapuche-Gemeinde - die Indianer sollen Land für ein Stauseeprojekt abtreten, wollen aber nicht. Beziehungsweise: wollen mehr. Schließlich präsentieren sie einen ausgefeilten Forderungskatalog (unter anderem: "ein Leichtmotorrad für jedes Familienoberhaupt"). Hier geht es um "nachhaltige Entwicklungen" und hochgesonnene Phrasen. Vierzig Jahre hat Martin Holberg an die "Möglichkeit einer besseren Gesellschaft" geglaubt. Um nun, an der Schwelle zur Pensionierung, ein neues Credo zu entwickeln: "Ich scheiß drauf!" Dabei war er schon lange "ein inwendiger Zweifelbruder" und damit ein "potentieller Saboteur des eigenen Gewerbes".
Holberg ist zur Feier unterwegs mit seiner labilen, naturschwärmerischen Tochter, die er gerade aus der Psychiatrie abgeholt hat. Katha fühlt mit allen Kreaturen - und erleidet paranoide Schübe. In den Müsli löffelnden, Eier köpfenden Gästen im Frühstücksraum eines Hotels sieht sie Teilnehmer eines "Internationalen Gehörfolterkongresses". Und was bekommt sie zu hören, als sie beim Whale Watching die Spezial-Kopfhörer aufsetzt? Die Tiere beschimpfen sie ganz unflätig. Martin erlebt fürsorglich erschüttert das Abdriften eines geliebten Menschen in eine andere Welt.
Sohn Gabriel kommt als Paraglide an den Geburtstagstisch geflogen. Ansonsten ist auch er nicht gerade ein Überflieger: Nach allerlei Studien (Philosophie, Politologie) ist er zum drogenkundigen Sinnsucher geworden, bis er schließlich in einer kuriosen schweizerisch-patagonischen Sekte landete, der Bruderschaft der "Schaler" unter Leitung des Meisters Hans-Heinz Futterer, Leitspruch: "Fülle die Schale mit deinem Eigenen, komm zu uns und bleibe!" Oma Clementines Blick auf die Enkel hat die Buddenbrook-Optik: letzte verdorrende Äste im Stammbaum einer "Patrizierfamilie". Ansonsten fühlt sich die Alte aber durchaus wohl in ihrem "Kreis überlebensfroher, kartenspielender und tortenverzehrender Witwen". Neunzig Jahre und kein bisschen leise mit der Lästerzunge, wenn sie etwa über eine Freundin des Sohnes grübelt, die Malerin Norah Borges und ihren "sehbehinderten Schriftstellerbruder, den Georgie - einen armen Schlucker, bis er zuletzt etwas bekannter geworden war". Man stutzt - ist wirklich der berühmte Jorge Luis gemeint?
Bei der Feier treffen die jüdischen Gäste aus Jerusalem auf Clementines Nachbarn und Verehrer, den einundneunzig Jahre alten unverbesserlichen Siegmund Rohr. Aufgrund seiner ungeklärten Herkunft hat er es in der Nazizeit zwar nur zum Obergefreiten an der Gulaschkanone gebracht. Trotzdem fühlte er sich zum "tragischen Nachkriegsschicksal berechtigt" und schloss sich auf Schleichweg über die Alpen dem rechten Exodus nach Südamerika an. Wenn ein freundlicher Autofahrer auf den gebirgigen Wegen Patagoniens anbietet, ihn ein Stück mitzunehmen, denkt Siegmund Rohr zunächst an eine Entführung durch den Mossad. Nicht weit entfernt liegt das Hotel "Berghof". Da hat jemand den Obersalzberg im Kleinen nachzubauen versucht - "an nostalgischen Gästen mangelte es zu keiner Saison. Sie kamen schon des Hofnamens wegen, und die Gespräche mit dem Hofherrn enttäuschten keinen." Eine feine Ironie ist das.
Heiter und vital ist der Ton und kann darüber hinwegtäuschen, dass wir es mit einer grotesken Versammlung angeschlagener Gestalten zu tun haben, vom manifest Geisteskranken bis zum liebenswürdigen Spinner, vom wankenden Greis bis zum schmerzgeplagten Krüppel. Der Wirt des Tilo-Hofes, Treugott Lagler, musste sich zeitlebens mit dem Handicap eines verkürzten Beines arrangieren. Früher hat er das mit Laufsport überkompensiert. Nun versucht seine Frau ihm den - bereits in einer Ecke des Hauses lauernden - Rollstuhl schmackhaft zu machen. Der Südtiroler Bauernsohn, dessen Vater einst von italienischen Faschisten verprügelt wurde und daraufhin beschloss, nach Argentinien auszuwandern, hat eine Neigung zu Fidel Castro und parodiert zwanghaft dessen Radio-Ansprachen. Sein ungeliebter Sohn, Enrique mit dem "Mostschädel", ist ein Technik-Tüftler mit feinnervigen Händen: "Er hätte Mohnkörner sortieren können." Aber wie ein Dämon wirkt er, wenn er seiner wahren Leidenschaft nachgeht: der Tierquälerei. Stundenlang schließt er sich in der Werkstatt ein, und dann passiert es: "Herzzerreißend schrie eine Kreatur." Und dann gibt es noch den Dorfdeppen Nicko, der den ganzen Tag wie getrieben durch die schöne Landschaft läuft und mit seinen Zuckungen von weitem eine Silhouette wie ein pickender Vogel abgibt. Er hat immer einen verkrusteten Schwamm an einem Stock dabei, mit dem er sich nach vergnüglichen Freiluft-Entleerungen den Hintern abwischt.
Kurz, dies ist eine Gesellschaftskomödie mit lauter politischen und psychischen Abgründen: Plemplem in Quemquemtréu. Es scheint jedenfalls dringend nötig, dass dem Freundeskreis dauerhaft beigestanden wird von einem anderen Sommergast, dem Psychoanalytiker und "Seelen-Bulldozer" Elias Königsberg, der allerdings mit der freudianischen Schulweisheit hadert und selbst mit einem weiteren Emigrantenschicksal aufwarten kann.
Erzählt wird der Roman aus wechselnden Perspektiven. Die Kapitel schmiegen sich der Sichtweise jeweils einer Figur an, bis zu inneren Monologen, wenn etwa Clementine von einer verstorbenen Freundin heimgesucht wird, der fülligen Opernsängerin Olga Rebikoff. Sie entstammte einer alten russischen Musiker-Familie, die einst vor den Bolschewiken fliehen musste. An Herzversagen ist sie vor einigen Jahren hingeschieden, nun schwebt sie am Geburtstagsmorgen über dem Lindenbaum, immer noch gekleidet in ihr unvorteilhaftes Chanel-Kostüm, und will Clementine hinüber ins Jenseits locken.
Die Erzählweise ist eher auf Betrachtung und Reflexion ausgerichtet als auf das effiziente Vorantreiben der Handlung. Subtil wird das Kräftefeld der Konflikte, Abneigungen und Sympathien vermessen. Der Roman ist ein Lesevergnügen, mit seinem gepflegten Duktus, seiner Beschreibungskunst und seinen treffenden Formulierungen, wenn etwa vom "todvertrauten Blick" eines Angestellten im Leichenschauhaus die Rede ist. Völlig zu Recht stand "Scherbengericht" auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Natürlich hatte ein solcher argentinisch-austriakischer Literaturbetriebsaußenseiter und Spätdebütant keine Chance, im Finale mitzurennen. Aber ein Geheimtipp ist "Scherbengericht" nun nicht mehr.
WOLFGANG SCHNEIDER
Germán
Kratochwil: "Scherbengericht". Roman.
Picus Verlag, Wien 2012. 312 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der argentinische Österreicher Germán Kratochwil erzählt in seinem späten Debütroman "Scherbengericht" vom Verfall einer Familie in Patagonien - als Gesellschaftskomödie voller psychischer und politischer Abgründe.
Dieser neunzigste Geburtstag sei "wahrscheinlich" ihr letzter - so der eher drohende Unterton Clementine Holbergs. Bestellt und gerufen: So kommt am 1. Januar des Jahres 2000 ein weitverzweigter Familien- und Freundeskreis von allen Enden der Welt zusammen zur Geburtstagsfeier auf einem idyllischen Landgut in Quemquemtréu, einer kleinen Ortschaft in den südlichen Kordilleren. Unterm dezemberlich blühenden Lindenbaum gibt es köstlichen argentinischen Lammbraten und traditionellen kakanischen Kartoffelsalat. Patagonien erscheint als Land, in dem sich die Rezepte und die Schicksale kreuzen - etwa die von jüdischen Emigranten und entwichenen Nationalsozialisten. Die mitteleuropäische Auswanderergesellschaft hat viel Geschichte und viele Geschichten im Gepäck.
Deutschsprachige Familienromane, die in Patagonien spielen, gab es bisher eher nicht. Auch vierundsiebzig Jahre alte Debütanten gehören noch nicht zum Alltag des mitsamt der Gesellschaft alternden Literaturbetriebs. Germán Kratochwil, 1938 geboren in Korneuburg, ist nach dem Krieg mit seinen Eltern nach Argentinien ausgewandert. Beruflich war er als Soziologe für internationale Organisationen tätig. Diesen Hintergrund teilt er mit der Hauptfigur seines ersten Romans, Clementines Sohn Dr. Martin Holberg, der vor der Geburtstagsfeier noch ein bisschen Vermittlerarbeit zu leisten hat. Der Beauftragte für Minderheitenschutz absolviert im Auftrag der Stiftung "Boden und Frieden" einen Termin bei einer Mapuche-Gemeinde - die Indianer sollen Land für ein Stauseeprojekt abtreten, wollen aber nicht. Beziehungsweise: wollen mehr. Schließlich präsentieren sie einen ausgefeilten Forderungskatalog (unter anderem: "ein Leichtmotorrad für jedes Familienoberhaupt"). Hier geht es um "nachhaltige Entwicklungen" und hochgesonnene Phrasen. Vierzig Jahre hat Martin Holberg an die "Möglichkeit einer besseren Gesellschaft" geglaubt. Um nun, an der Schwelle zur Pensionierung, ein neues Credo zu entwickeln: "Ich scheiß drauf!" Dabei war er schon lange "ein inwendiger Zweifelbruder" und damit ein "potentieller Saboteur des eigenen Gewerbes".
Holberg ist zur Feier unterwegs mit seiner labilen, naturschwärmerischen Tochter, die er gerade aus der Psychiatrie abgeholt hat. Katha fühlt mit allen Kreaturen - und erleidet paranoide Schübe. In den Müsli löffelnden, Eier köpfenden Gästen im Frühstücksraum eines Hotels sieht sie Teilnehmer eines "Internationalen Gehörfolterkongresses". Und was bekommt sie zu hören, als sie beim Whale Watching die Spezial-Kopfhörer aufsetzt? Die Tiere beschimpfen sie ganz unflätig. Martin erlebt fürsorglich erschüttert das Abdriften eines geliebten Menschen in eine andere Welt.
Sohn Gabriel kommt als Paraglide an den Geburtstagstisch geflogen. Ansonsten ist auch er nicht gerade ein Überflieger: Nach allerlei Studien (Philosophie, Politologie) ist er zum drogenkundigen Sinnsucher geworden, bis er schließlich in einer kuriosen schweizerisch-patagonischen Sekte landete, der Bruderschaft der "Schaler" unter Leitung des Meisters Hans-Heinz Futterer, Leitspruch: "Fülle die Schale mit deinem Eigenen, komm zu uns und bleibe!" Oma Clementines Blick auf die Enkel hat die Buddenbrook-Optik: letzte verdorrende Äste im Stammbaum einer "Patrizierfamilie". Ansonsten fühlt sich die Alte aber durchaus wohl in ihrem "Kreis überlebensfroher, kartenspielender und tortenverzehrender Witwen". Neunzig Jahre und kein bisschen leise mit der Lästerzunge, wenn sie etwa über eine Freundin des Sohnes grübelt, die Malerin Norah Borges und ihren "sehbehinderten Schriftstellerbruder, den Georgie - einen armen Schlucker, bis er zuletzt etwas bekannter geworden war". Man stutzt - ist wirklich der berühmte Jorge Luis gemeint?
Bei der Feier treffen die jüdischen Gäste aus Jerusalem auf Clementines Nachbarn und Verehrer, den einundneunzig Jahre alten unverbesserlichen Siegmund Rohr. Aufgrund seiner ungeklärten Herkunft hat er es in der Nazizeit zwar nur zum Obergefreiten an der Gulaschkanone gebracht. Trotzdem fühlte er sich zum "tragischen Nachkriegsschicksal berechtigt" und schloss sich auf Schleichweg über die Alpen dem rechten Exodus nach Südamerika an. Wenn ein freundlicher Autofahrer auf den gebirgigen Wegen Patagoniens anbietet, ihn ein Stück mitzunehmen, denkt Siegmund Rohr zunächst an eine Entführung durch den Mossad. Nicht weit entfernt liegt das Hotel "Berghof". Da hat jemand den Obersalzberg im Kleinen nachzubauen versucht - "an nostalgischen Gästen mangelte es zu keiner Saison. Sie kamen schon des Hofnamens wegen, und die Gespräche mit dem Hofherrn enttäuschten keinen." Eine feine Ironie ist das.
Heiter und vital ist der Ton und kann darüber hinwegtäuschen, dass wir es mit einer grotesken Versammlung angeschlagener Gestalten zu tun haben, vom manifest Geisteskranken bis zum liebenswürdigen Spinner, vom wankenden Greis bis zum schmerzgeplagten Krüppel. Der Wirt des Tilo-Hofes, Treugott Lagler, musste sich zeitlebens mit dem Handicap eines verkürzten Beines arrangieren. Früher hat er das mit Laufsport überkompensiert. Nun versucht seine Frau ihm den - bereits in einer Ecke des Hauses lauernden - Rollstuhl schmackhaft zu machen. Der Südtiroler Bauernsohn, dessen Vater einst von italienischen Faschisten verprügelt wurde und daraufhin beschloss, nach Argentinien auszuwandern, hat eine Neigung zu Fidel Castro und parodiert zwanghaft dessen Radio-Ansprachen. Sein ungeliebter Sohn, Enrique mit dem "Mostschädel", ist ein Technik-Tüftler mit feinnervigen Händen: "Er hätte Mohnkörner sortieren können." Aber wie ein Dämon wirkt er, wenn er seiner wahren Leidenschaft nachgeht: der Tierquälerei. Stundenlang schließt er sich in der Werkstatt ein, und dann passiert es: "Herzzerreißend schrie eine Kreatur." Und dann gibt es noch den Dorfdeppen Nicko, der den ganzen Tag wie getrieben durch die schöne Landschaft läuft und mit seinen Zuckungen von weitem eine Silhouette wie ein pickender Vogel abgibt. Er hat immer einen verkrusteten Schwamm an einem Stock dabei, mit dem er sich nach vergnüglichen Freiluft-Entleerungen den Hintern abwischt.
Kurz, dies ist eine Gesellschaftskomödie mit lauter politischen und psychischen Abgründen: Plemplem in Quemquemtréu. Es scheint jedenfalls dringend nötig, dass dem Freundeskreis dauerhaft beigestanden wird von einem anderen Sommergast, dem Psychoanalytiker und "Seelen-Bulldozer" Elias Königsberg, der allerdings mit der freudianischen Schulweisheit hadert und selbst mit einem weiteren Emigrantenschicksal aufwarten kann.
Erzählt wird der Roman aus wechselnden Perspektiven. Die Kapitel schmiegen sich der Sichtweise jeweils einer Figur an, bis zu inneren Monologen, wenn etwa Clementine von einer verstorbenen Freundin heimgesucht wird, der fülligen Opernsängerin Olga Rebikoff. Sie entstammte einer alten russischen Musiker-Familie, die einst vor den Bolschewiken fliehen musste. An Herzversagen ist sie vor einigen Jahren hingeschieden, nun schwebt sie am Geburtstagsmorgen über dem Lindenbaum, immer noch gekleidet in ihr unvorteilhaftes Chanel-Kostüm, und will Clementine hinüber ins Jenseits locken.
Die Erzählweise ist eher auf Betrachtung und Reflexion ausgerichtet als auf das effiziente Vorantreiben der Handlung. Subtil wird das Kräftefeld der Konflikte, Abneigungen und Sympathien vermessen. Der Roman ist ein Lesevergnügen, mit seinem gepflegten Duktus, seiner Beschreibungskunst und seinen treffenden Formulierungen, wenn etwa vom "todvertrauten Blick" eines Angestellten im Leichenschauhaus die Rede ist. Völlig zu Recht stand "Scherbengericht" auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Natürlich hatte ein solcher argentinisch-austriakischer Literaturbetriebsaußenseiter und Spätdebütant keine Chance, im Finale mitzurennen. Aber ein Geheimtipp ist "Scherbengericht" nun nicht mehr.
WOLFGANG SCHNEIDER
Germán
Kratochwil: "Scherbengericht". Roman.
Picus Verlag, Wien 2012. 312 S., geb., 22,90 [Euro].
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