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Realität und Literatur gehen ein unschlagbares Bündnis ein: Steffen Menschings Roman "Schermanns Augen"
Jemand muste ihn verpfiffen haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens deportiert. So ergeht es Rafael Schermann, und dieses Schicksal kommt uns bekannt vor: aus der Literatur-, mehr aber leider noch aus der Zeitgeschichte. Was Franz Kafka 1914 seinem Josef K. im Roman "Der Process" angedeihen ließ, ist im "Dritten Reich" ebenso normal geworden wie im sowjetischen Herrschaftsgebiet. Man musste dazu nicht einmal verleumdet werden, als Jude war man beiden Regimen grundsätzlich suspekt. Schermann ist Jude und dazu noch mit einer besonderen Begabung gesegnet: Er besitzt die Gabe der Hellsicht. Aus der Handschrift ihm unbekannter Menschen sagt er deren Zukunft voraus. Ein Wiener Mediziner hat seine Fähigkeiten jahrelang untersucht und kennzeichnete sie als "Fernsehen und psychischen Transfert". Wer dergleichen beherrscht, kommt in einem totalitären System nicht so einfach davon. Nach dem Einmarsch der Sowjets in Ostpolen festgenommen, dauert es denn auch nicht lange, bis Schermann gegen seinen Willen in Diensten mächtiger Interessenten steht: "Der Zug stand schon bereit, und ehe er sich versah oder jemandem ein Wort zurufen konnte, war er dem Transportführer übergeben und in den Waggon gestoßen worden. Eine regelrechte Entführung. Ihn hatte der Erdboden verschluckt. Ein Verschwundener."
Der reale Rafael Schermann, 1874 in Krakau geboren, blieb das danach auch, als Todesjahr vermutet man 1943. In dem Roman, der seinen Namen im Titel trägt, "Schermanns Augen", taucht er dagegen noch einmal auf: im Norden Russlands, in einem Arbeitslager namens Artek II, etwa gleich weit von Sankt Petersburg und Moskau entfernt - nämlich sehr weit. Hier schuften Strafgefangene im Wald, und die Winter sind noch höllischer als die Sommer. Als der Roman einsetzt, ist es Dezember 1940.
Im Lazarett des Lagers befindet sich ein Mann, der schon seit mehr als zwei Jahren russischen Strafvollzug erleidet: Otto Haferkorn, ein junger deutscher Setzer, der als Kommunist vor den Nazis über die Tschechoslowakei nach Moskau floh, wo er 1937 eingebürgert wurde, um nur ein Jahr danach im Zuge der stalinschen Säuberungen verhaftet zu werden. Der Vorwurf, eher Vorwand, lautete dabei immer gleich: "konterrevolutionäre Aktivitäten" gemäß Paragraph 58 des Strafgesetzbuches. Aus deswegen Verurteilten rekrutiert sich der Großteil der Häftlinge in Artek II. "Alle 58er waren, wenn man ihnen eine Antwort über ihr Urteil entlockte, unschuldig. Otto hatte keinen einzigen Politischen getroffen, der sich zu der Tat bekannte, für die er bestraft worden war. Wie viele Häftlinge mit dem Paria-Paragraphen gab es? Zwanzig- oder einhunderttausend? Mochte es eine halbe Million sein. Davon waren vielleicht fünf Prozent unschuldig, höchstens zehn. Unmöglich alle." Die Perversion, dass der einzelne Häftling weiß, dass er selbst aufgrund falscher Beschuldigungen im GULag steckt, aber dennoch die meisten seiner Mithäftlinge just des ihm zur Last gelegten Vergehens für schuldig hält, war eine oft dokumentierte Besonderheit überzeugter Kommunisten, die in die Mühlen des von ihnen propagierten Systems gerieten.
Steffen Mensching hat zwölf Jahre an "Schermanns Augen" gearbeitet, und das heißt vor allem: in Archiven und Bibliotheken recherchiert. Der 1958 geborene Intendant des Theaters im thüringischen Rudolstadt trat zu DDR-Zeiten als Clown in satirischen Bühnenshows auf und hat nach der Wende mehrere Romane veröffentlicht, von denen indes keiner hätte vermuten lassen, was nun aus seiner Feder erschienen ist: eine mehr als achthundert Seiten starke Zeitgeschichts-Geschichte von einer Sprach- und Beschreibungsdichte, die man seit der "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss in der deutschsprachigen Belletristik nicht mehr gesehen hat. Beide Romane sind eng verwandt: in den Herausforderungen einer Lektüre, die auf Absätze oder die Kennzeichnung wörtlicher Rede verzichten muss, in der Handlungszeit sowieso und im Realismus des erzählerischen Rahmens, bei dem jeweils nichts fiktiv ist. Wie bei Weiss agieren auch in Menschings Buch neben dem idealtypisch angelegten Otto Haferkorn etliche aus der Zeitgeschichte bekannte Persönlichkeiten, deren authentische Erlebnisse das Romangeschehen durchsetzen. Es ist bezeichnend, dass im Epilog von nahezu allen Protagonisten erzählt wird, wie sie zu Tode gekommen sind, Haferkorn dabei aber ausgespart bleibt. Er, der Schermann als Übersetzer (und Aushorcher) zugeteilt wird, ist dessen letztes Projekt: Noch einmal bestimmt der angebliche Hellseher das Schicksal eines Menschen.
Das Alltagsleben und -leiden im Lager hat Mensching den zahlreichen Zeugnissen überlebender Opfer entnehmen können, das Unglück deutscher Kommunisten im Russland der dreißiger Jahre den vielen Memoiren und historiographischen Untersuchungen zum Thema, die Karriere Rafael Schermanns zeitgenössischen Berichten aus Österreich, wo der "Fernseher" seit der Jahrhundertwende seine größten Erfolge feierte. Die feine Wiener Gesellschaft konsultierte ihn, aber auch ein Vernunftmensch wie Karl Kraus geriet in seinen Bann; um die Person Schermanns gruppierte sich ein ganzes Panoptikum aus Künstlern, Ärzten, Mördern - ein gefundenes Fressen für einen Romancier.
Wenn es aber einen Einwand gegen Menschings Buch gibt, dann den, dass er zu reichlich davon genascht hat. Schermanns Offenbarungen gegenüber Haferkorn über sein Leben, mit denen er wie die Akteure in Boccaccios "Dekameron" gegen den ihn umgebenden Tod anerzählt, ufern in der zweiten Hälfte des Romans derart aus, dass die eigentliche literarische Leistung des Buchs zeitweise außer Acht gerät: Worte gefunden zu haben, die das Dasein im GULag so beschreiben, dass die eigentlich unfassbare perfide Logik dieses Systems doch nachvollziehbar wird. Den Zeugnissen aus den Lagern fehlt diese Komponente, weil sie notwendig subjektiv sind. Und obwohl wir alles in "Schermanns Augen" auch nur aus einer einzigen Perspektive sehen, der von Otto Haferkorn, hören wir durch seine Begegnungen mit anderen Häftlingen einen veritablen Gefangenenchor.
Neben Schermanns eskapistischen Erinnerungen, die eine untergegangene Welt außerhalb des Lagers beschwören, gibt es da etwa Haferkorns Gespräche mit den ehedem hohen Staatsfunktionären Nikulin und Zederbaum, ein bei allen divergierenden Ansichten derart untrennbares Duo, wie wir es von Naphta und Settembrini aus dem "Zauberberg" kennen. Es ist nicht die geringste Stärke von "Schermanns Augen", dass der Roman so viele literarische Assoziationen weckt; Mensching bediente sich zur Inspiration nur beim Besten. Seine Banditen jedoch, die in der häftlingsinternen Lagerhierarchie weit über den "Politischen" stehen und von den Aufsehern bewusst zur Erzeugung von zusätzlichem Terror benutzt werden, sind eine Versammlung von brutalen, aber unvergesslich individuellen Figuren, die ganz originär ist. Wie es auch die beiden sowohl dämonischen als auch mitleiderregenden Lagerkommandanten während der achtmonatigen Handlungszeit sind.
Die reicht bis zum August 1941, kurz nach dem Einfall von Hitlers Truppen in der Sowjetunion. Zuvor waren beide Diktaturen verbündet, und diese bizarre politische Phase als zeitlicher Hintergrund macht "Schermanns Augen" besonders interessant: Haferkorn droht als deutschem Flüchtling die Abschiebung in die Heimat. Seine Abwägungen zwischen den ihm nur vom Hörensagen bekannten dortigen Konzentrationslagern und dem erlebten Lagerleben in Nordrussland sind beklemmend. Es sind solche Details, die in der achthundertseitigen erzählerischen Fülle für Schreckmomente des Lesens sorgen, die eine Abstumpfung angesichts all der Exzesse an Gemeinheit verhindern.
Den Höhepunkt seines Erzählens erreicht Mensching kurz vor Schluss, als das ungleiche Paar Schermann-Haferkorn jeweils zu zehn Tagen Einzelhaft im "Isolator" verurteilt wird, einer Dunkelzelle, vor der das ganze Lager bibbert. Vorbereitet ist diese Passage, in der sich dann auch Haferkorn nurmehr noch in die eigene Erinnerung retten kann, durch vielfache Erwähnungen auf den 750 Seiten zuvor, die aber nicht auffällig sind, weil das ganze Buch vom konsequenten Gebrauch der Lager-Terminologie und steter Beschwörung der Schrecken geprägt ist. Umso eindrücklicher dann die Szene: Auf den 25 Seiten, die wir mit Haferkorn in der Zelle liegen, wird durch die Verbindung von Beschreibungspräzision und verzweifelter Abschweifung eine Ambivalenz erzeugt, die den durch die Isolation einsickernden Wahnsinn geradezu spürbar macht. Plötzlich versteht man, dass Artek II als Ganzes nicht anders funktioniert.
"Schermanns Augen" ist deshalb mehr noch als ein erzählerisches ein psychologisches Ereignis. Die Paranoia der Angst und des Misstrauens würde einem Horrorroman gut anstehen. Zugleich gibt es die Reminiszenzen von Schermann und Haferkorn an frühere, bessere Zeiten, die aber doch nichts anderes gewesen sind als die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenwart. Wenn Mensching seinen Rafael Schermann irgendwann sagen lässt, dessen Metier der Schriftdeutung sei eine Beobachtungskunst: "zunächst gelte es, die Abweichungen zu entdecken, jeder Mensch verberge etwas, keiner sei ein Engel", dann beschreibt das exakt das Verfahren dieses Romans: Für "Schermanns Augen" brauchte es Menschings Blick auf die Geschichte. Einen, der Kühle und Mitgefühl zu vermitteln weiß.
ANDREAS PLATTHAUS
Steffen Mensching:
"Schermanns Augen".
Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 820 S., geb., 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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