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Julia Schneidawind forscht den Bibliotheken von fünf deutsch-jüdischen Autoren nach
Karl Wolfskehl war eingeschworenes Mitglied von Stefan Georges hochpathetischer Dichtersekte, doch er konnte auch anders: "Bücher, Bücher, Bücher, Bücher / Meines Lebens Brot und Wein! / Hüllt einst nicht in Leichentücher - / Schlagt mich in van Geldern ein!" Trotzdem, seine Obsession, die ihn bis zur Zweckentfremdung von feinstem Büttenpapier trieb, betrachtete er keinesfalls als pathologischen Einzelfall: "Einen Juden ohne Bücher kann man sich gar nicht vorstellen." Um Juden und ihre Bücher geht es in Julia Schneidawinds höchst lesenswertem Buch. Schriftsteller sind bekanntlich oft auch große Leser, und aus einem großen Leser wird leicht ein noch größerer Sammler. Was aber wurde aus den Büchern derjenigen, die als deutsch-jüdische Autoren in den Jahren des nationalsozialistischen Unheils um erheblich mehr zu kämpfen hatten als um ihre Bibliothek? Die Frage könnte wie ein bibliophiles Spezialthema wirken, erweist sich jedoch als das weite kulturgeschichtliche, politische und biographische Panorama einer Epoche jüdischen Lebens in Deutschland, die von Zerstörung geprägt ist, aber auch von Versuchen zur Rekonstruktion, zumindest der Erinnerung an das Verlorene.
Der Schwabinger Bibliophile und bekennende Büchernarr ist einer von fünf deutsch-jüdischen Autoren, deren Lebensgeschichte Julia Schneidawind erzählend nachgeht; neben Wolfskehl sind das Franz Rosenzweig, Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig und Jakob Wassermann. Eine sinnvolle Auswahl, denn es ist damit fünf sehr unterschiedlichen Wegen zu folgen. Welcher von diesen tief in deutscher Kultur verwurzelten Autoren hätte je für denkbar gehalten, dass seine Bibliothek sich eines Tages in Jerusalem, Los Angeles, Petrópolis oder Tunis wiederfinden werde?
Julia Schneidawinds Porträts erzählen nicht nur von Verlust und Wiederfinden, sie beginnen jeweils mit der Vorgeschichte der Sammlungen, also mit den frühen Jahrzehnten von fünf Schriftstellern, die Deutsche waren und Deutsche bleiben wollten, hätte das nationalsozialistische Deutschland sie nicht für vogelfrei erklärt. Der Philosoph Franz Rosenzweig macht durch seinen frühen Tod 1929 hier die Ausnahme. Seine Witwe Edith Rosenzweig blieb zuerst in Frankfurt und ergriff dann die letzte Möglichkeit zur Emigration nach Palästina. Die Bücherkisten sollten auf dem Frachtschiff folgen, doch nach langwierigen Prozeduren wurde der Dampfer schließlich im Mai 1940 von der französischen Marine abgefangen und nach Tunis umgeleitet. Die Sammlung des großen jüdischen Religionsphilosophen hat die arabische Metropole nie mehr verlassen und ist bis auf den heutigen Tag in der dortigen Bibliothek zugänglich.
Alle fünf Geschichten zeigen ein jeweils anderes Extrem. Lion Feuchtwangers Weg von Berlin-Grunewald über Sanary-sur-Mer nach Pacific Palisades bedeutete jedes Mal den Verlust und den Neuaufbau einer beeindruckenden Privatbibliothek, und zuweilen gelang es dem Emigranten sogar, das eigene verlorene Exemplar antiquarisch neu zu erwerben; seine Villa Aurora in Kalifornien ist heute Gedenk- und Studienort. Der Österreicher Stefan Zweig ging von Salzburg nach London, Bath und dann ins brasilianische Petrópolis, wo er sich 1942 das Leben nahm. Dass er seine bedeutende Sammlung von Büchern und Autographen schon selbst durch Teilverkäufe aufgab, lag sicher nicht nur an den praktischen Problemen des Umzugs nach Übersee, sondern vor allem an seinem hoffnungslosen Blick in die vom Weltkrieg ganz verdunkelte Zukunft. Jakob Wassermann starb bereits in der Silvesternacht 1933; der unerhört erfolgreiche Autor war gebrochen, seit sein Werk auf den Scheiterhaufen der Nazis verbrannt und dann verboten worden war, doch seine Bibliothek wurde versteigert, gerade dadurch gerettet und ist heute geschlossen in Nürnberg archiviert, in seiner fränkischen Heimat; der Romancier allerdings ist aus der Vergessenheit kaum wieder aufgetaucht.
Karl Wolfskehl war sicher der am stärksten vom Bücherwahn Befallene der fünf, seine Sammlung in der Schwabinger Römerstraße, wo unterm Dach Stefan George sein "Kugelzimmer" bewohnte, war legendär - und sie rettete ihm das Leben: Er verkaufte sie gegen eine Fixsumme und die lebenslange Rente von monatlich 20 englischen Pfund an den jüdischen Geschäftsmann, Sammler und Verleger Salman Schocken und finanzierte damit seine Emigration nach Neuseeland, auf die andere Seite des Globus, so weit wie irgend möglich von den Mördern. Seine Gefährtin Margot Ruben ging später zurück nach Europa und folgte seinem Nachlass bis nach Marbach am Neckar, wo sie begraben liegt. Doch der Versuch, auch seine in Jerusalem liegende Sammlung zurück nach Deutschland zu bringen, eröffnet ein weiteres, beschämendes Kapitel dieser düsteren Epoche. Denn die Frage nach dem Umgang mit Büchern, Sammlungen, Archiven rückt noch einmal den zähen Widerstand in den Blick, den viele Institutionen - von München bis Salzburg - der wenigstens geistigen Rückkehr der jüdischen Exilierten entgegensetzten.
Das kurze Resümee kann die durchweg spannenden Geschichten nur andeuten, die Julia Schneidawind überzeugend darstellt (selbst wenn ein letzter Korrekturgang nicht geschadet hätte). Ein Gewinn nicht nur für die Biographien der fünf Autoren, denn verbunden damit ist auch ein neues Kapitel der Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte. Gleich nach Ende des Weltkriegs begann die systematische Suche nach geraubtem Kulturgut aus Bibliotheken und Archiven, und so berühmte Wissenschaftler wie Hannah Arendt und Gershom Scholem recherchierten in Deutschland selbst nach dem Verbleib der ungeheuer reichen Schätze. Damals und in den folgenden Jahrzehnten ging es allerdings fast ausschließlich um die Bestände öffentlicher Institutionen, und erst heute beschäftigt die Wissenschaft sich auch mit privaten Sammlungen. Dadurch eröffnet sich noch eine weitere Perspektive, denn der detaillierte Blick in Berliner, Frankfurter, Salzburger Bücherschränke zeigt anschaulich, wie tief die Bindung derjenigen an die deutsche Kultur war, die von den Totengräbern Deutschlands als "Juden" gebrandmarkt wurden.
Rosenzweig blieb die Verfolgung erspart; Zweig verließ im Exil jede Hoffnung; Wolfskehl, der einst in seinen kostbaren Bücherschätzen, in Antiquariats- und Auktionskatalogen geschwelgt hatte, lebte mit ein paar Bänden verarmt in Neuseeland, wo er 1948 starb, doch erst im Exil hatte er mit "Die Stimme spricht" jenen jüdischen Zyklus geschaffen, mit dem er den Platz in der Literaturgeschichte bekam, den er sonst wohl kaum erlangt hätte. Es ist ein Verdienst, diese unerhörten Schicksale hinter den Büchern sichtbar zu machen. WOLFGANG MATZ
Julia Schneidawind: "Schicksale und
ihre Bücher".
Deutsch-jüdische Privatbibliotheken
zwischen Jerusalem,
Tunis und Los Angeles.
Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2023. 308 S., Abb. geb., 49,- Euro-
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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