Schiffbruch mit Tiger? Diese Geschichte würden Sie nicht glauben? Kein Wunder. Fantastisch. Verwegen. Atemberaubend. Wahnsinnig komisch. Eine Geschichte, die Sie an Gott glauben lässt. Pi Patel, der Sohn eines indischen Zoobesitzers und praktizierender Hindu, Christ und Muslim erleidet mit einer Hyäne, einem Orang-Utan, einem verletzten Zebra und einem 450 Pfund schweren bengalischen Tiger namens Richard Parker Schiffbruch. Bald hat der Tiger alle erledigt - alle, außer Pi. Alleine treiben sie in einem Rettungsboot auf dem Ozean. Eine wundersame, abenteuerliche Odyssee beginnt. >>Martel schreibt wie ein leidenschaftlicher Paul Auster.<< Times Literary Supplement >>Eine Reminiszenz an Italo Calvino.<< Independent on Sunday
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2003Der seekranke Tiger
Lebensform Schiffbruch: Yann Martel sucht Gott auf dem Meer
Acht Briefe schreibt Harry Parlington an Mrs. Barlow, achtmal spricht ihr der Gefängnisdirektor sein Beileid zum Tod ihres Sohnes Kevin aus, acht widersprüchliche Fassungen gibt er seiner Erzählung von den letzten Stunden des Häftlings. Mal ist der junge Mann gefaßt, mal verzweifelt, mal bricht er in einen hysterischen Lachkrampf aus, der erst im Moment des Todes abreißt, dann wieder kann es ihm mit dem Sterben nicht schnell genug gehen, oder er versucht zu fliehen, und einmal setzt die rasende Angst vor dem Galgen seinem Leben schon vorher ein Ende. Kevins Henkersmahlzeiten wechseln ebenso wie seine Empfänglichkeit für den Trost des Pfarrers; in einer Geschichte rührt er nichts an und will niemanden sehen, weil er hastig Berge von Papier mit seinen Notizen bedeckt.
In der Fülle dieser Varianten ist ein authentischer Bericht nicht zu haben. Statt dessen entsteht in Yann Martels früher Erzählung "Sterbearten" ein Panorama der Möglichkeiten, dem Tod zu begegnen und von ihm zu erzählen. Und es ist diese literarische Technik zur Verweigerung von inhaltlicher Gewißheit, die auch Martels jüngsten, mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Roman "Schiffbruch mit Tiger" prägt: Da wird ein Indien-Reisender von einem Fremden angesprochen und hört die Geschichte eines unglaublichen Schiffbruchs im Pazifik. Später besucht er in Kanada den einzigen Überlebenden, der 227 Tage nach der Havarie in einem Rettungsboot an der mexikanischen Küste gefunden wurde, und befragt ihn intensiv. Die Geschichte dieses Pi Patel gibt der Erzähler nun wieder, "mit seiner eigenen Stimme, durch seine eigenen Augen gesehen. Alle Fehler oder Unstimmigkeiten gehen jedoch zu meinen Lasten." Doch für die größte Irritation sorgt Pi Patel selbst, indem er zu seinem Bericht auch eine Variante liefert, die diesem komplett zuwiderläuft.
Patels Geschichte, wie sie der Erzähler notiert, zerfällt in zwei Teile. Der Junge wächst im südindischen Pondicherry als Sohn eines Zoobesitzers auf. An ihm ist nichts Ungewöhnliches, außer seiner Leidenschaft für das Schwimmen und sein Interesse für die Religion, die so ausgeprägt ist, daß ihm ein einziger Glaube nicht genügt: Nacheinander wird er Hindu, Moslem und Christ, praktiziert fleißig die dazugehörigen Riten und stiftet Unfrieden unter seinen religiösen Führern, die sich, als sie einmal zufällig gemeinsam auf Pi treffen, heftig um die Seele des Jungen zanken.
Als er sechzehn ist, beschließen seine Eltern, mit den beiden Söhnen nach Kanada auszuwandern. Die Tiere nehmen sie mit. Doch das große Frachtschiff sinkt, und Pi findet sich nach dem Sturm in einem Rettungsboot wieder, gemeinsam mit einer Hyäne, einem Zebra, einem Orang-Utan und einem bengalischen Tiger. Im Lauf der ersten Tage dezimiert der Tiger die Gesellschaft der Schiffbrüchigen, bis er mit Pi allein an Bord ist. Der richtet sich, so gut es geht, auf ein Leben von Augenblick zu Augenblick ein, das von zwei Aufgaben beherrscht wird: den Tiger auf Abstand zu halten und Nahrung zu beschaffen.
Naturgemäß nimmt die Schilderung dieser Schiffahrt zwischen Todesangst und listigen Überlebensstrategien den wesentlichen Teil des Romans ein, und alle literarisch tradierten Elemente einer solchen Reise werden zitiert, anschaulich und souverän erzählt, ohne in allzu drastischen Schilderungen zu schwelgen - der Heißhunger, der Patel einmal beim Anblick frischen Tigerkots überkommt, ist schon das Äußerste, das Martel sich in dieser Hinsicht erlaubt. Dem Zusammenleben der beiden Schiffbrüchigen kommt eine ganze Reihe von Glücksfällen zugute: Da ist Patels Vertrautheit mit den Zootieren, die es ihm erleichtert, den Tiger einigermaßen zu zähmen; da ist des Tigers überaus friedliches Gemüt (er sei kein Alpha-, eher ein Omega-Tier, stellt Patel fest) und schließlich dessen Neigung zur Seekrankheit, die von seinem Reisegefährten skrupellos zur Disziplinierung eingesetzt wird: Wenn der Tiger nicht spurt, bringt Patel das Schiff so heftig ins Schlingern, daß das Tier alle Kampfeslust verliert. Außerdem ist das Rettungsboot bestens mit allem ausgestattet, was Havarierte benötigen, und da Patel auch seine Schwimmkünste einsetzen kann, um sich in schwierigen Situationen vor dem Tiger auf ein selbstgebautes Floß zu retten, erscheint sein Leben vor der Katastrophe insgesamt als perfekte Vorbereitung auf diese spezielle Form des Schiffbruchs.
All dies schildert Martel ohne allzu großen literarischen Anspruch, aber ihm gelingen einige bezaubernde Natur- und Tierschilderungen (das Faultier ist "nicht wirklich taub, es interessiert sich nur nicht für Geräusche"), und die letzte Gefahr der Schiffbrüchigen, die Begegnung mit einer schwimmenden Insel, verleiht dem zuvor eher sachlichen Erzählton unversehens eine unheimliche Schattierung, die den Text entschieden bereichert.
"Eine Geschichte, die einem den Glauben an Gott geben kann", hatte der indische Zufallsbekannte, Pi Patels Onkel Adirubasamy, dem Erzähler bei der ersten Begegnung versprochen, und wer mag, kann in der wundersamen Errettung des Jungen aus See-, Hungers- und Tigernot die waltende Hand Gottes sehen, der den dreifach Gläubigen auch in größter Gefahr nicht verläßt. Oder man kann die Verheißung des Inders auf das Zusammenleben zwischen Mensch und Tiger anwenden und trotz der Umstände, die eigentlich eher auf einen gewaltsamen Zusammenstoß hindeuten, das Rettungsboot als eine Art wiedergefundenes Paradies ansehen, in dem keine Kreatur der anderen ans Leben will. Aber Martel will mehr: Deshalb hat er viele Zeichen aufgestellt, um zu einer anderen Lesart einzuladen, die aller Esoterik fernsteht.
In seiner Einleitung gibt der Erzähler den ersten Hinweis: Daß diese Geschichte ihre Zuhörer zum Glauben führen könne, habe er in dem Moment gemerkt, als er sich die Tonbänder von der Befragung Patels im mexikanischen Krankenhaus angehört habe. Dort nämlich präsentiert der Gerettete zum einzigen Mal eine andere, wesentlich kürzere Version der Geschichte. Ein Tiger kommt dort nicht vor, kein Orang-Utan oder eine Hyäne, statt dessen ein sadistischer Schiffskoch, ein verwundeter Matrose und Patels Mutter. Auch hier überlebt Patel als einziger, nachdem er allerdings zum Mörder geworden ist und sich am Blut seines Opfers gelabt hat. Beide Versionen der Geschichte haben den gleichen Ursprung - den Schiffbruch - und das gleiche Ergebnis - das gestrandete Rettungsboot -, beide lassen sich nicht überprüfen, weil Patel der einzige Zeuge ist. "Welche von beiden", fragt er seine Besucher, "gefällt Ihnen besser, die mit den Tieren oder die ohne Tiere?" Als die Befragten sich für die Tiere entscheiden, erwidert Patel, genauso sei es mit Gott.
Den leeren Himmel, so kann man diesen Hinweis verstehen, läßt der eine leer, der andere stattet ihn mit höheren Mächten aus, beweisen läßt sich die jeweilige Vorstellung sowenig wie Patels Geschichte in der einen oder anderen Fassung. In dieser Lesart aber wäre Religion keinem metaphysischen Bedürfnis geschuldet, sondern der Entscheidung für die bessere Geschichte: die mit den Tieren.
Yann Martel: "Schiffbruch mit Tiger". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 384 S., geb., 19,90 [Euro].
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Lebensform Schiffbruch: Yann Martel sucht Gott auf dem Meer
Acht Briefe schreibt Harry Parlington an Mrs. Barlow, achtmal spricht ihr der Gefängnisdirektor sein Beileid zum Tod ihres Sohnes Kevin aus, acht widersprüchliche Fassungen gibt er seiner Erzählung von den letzten Stunden des Häftlings. Mal ist der junge Mann gefaßt, mal verzweifelt, mal bricht er in einen hysterischen Lachkrampf aus, der erst im Moment des Todes abreißt, dann wieder kann es ihm mit dem Sterben nicht schnell genug gehen, oder er versucht zu fliehen, und einmal setzt die rasende Angst vor dem Galgen seinem Leben schon vorher ein Ende. Kevins Henkersmahlzeiten wechseln ebenso wie seine Empfänglichkeit für den Trost des Pfarrers; in einer Geschichte rührt er nichts an und will niemanden sehen, weil er hastig Berge von Papier mit seinen Notizen bedeckt.
In der Fülle dieser Varianten ist ein authentischer Bericht nicht zu haben. Statt dessen entsteht in Yann Martels früher Erzählung "Sterbearten" ein Panorama der Möglichkeiten, dem Tod zu begegnen und von ihm zu erzählen. Und es ist diese literarische Technik zur Verweigerung von inhaltlicher Gewißheit, die auch Martels jüngsten, mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Roman "Schiffbruch mit Tiger" prägt: Da wird ein Indien-Reisender von einem Fremden angesprochen und hört die Geschichte eines unglaublichen Schiffbruchs im Pazifik. Später besucht er in Kanada den einzigen Überlebenden, der 227 Tage nach der Havarie in einem Rettungsboot an der mexikanischen Küste gefunden wurde, und befragt ihn intensiv. Die Geschichte dieses Pi Patel gibt der Erzähler nun wieder, "mit seiner eigenen Stimme, durch seine eigenen Augen gesehen. Alle Fehler oder Unstimmigkeiten gehen jedoch zu meinen Lasten." Doch für die größte Irritation sorgt Pi Patel selbst, indem er zu seinem Bericht auch eine Variante liefert, die diesem komplett zuwiderläuft.
Patels Geschichte, wie sie der Erzähler notiert, zerfällt in zwei Teile. Der Junge wächst im südindischen Pondicherry als Sohn eines Zoobesitzers auf. An ihm ist nichts Ungewöhnliches, außer seiner Leidenschaft für das Schwimmen und sein Interesse für die Religion, die so ausgeprägt ist, daß ihm ein einziger Glaube nicht genügt: Nacheinander wird er Hindu, Moslem und Christ, praktiziert fleißig die dazugehörigen Riten und stiftet Unfrieden unter seinen religiösen Führern, die sich, als sie einmal zufällig gemeinsam auf Pi treffen, heftig um die Seele des Jungen zanken.
Als er sechzehn ist, beschließen seine Eltern, mit den beiden Söhnen nach Kanada auszuwandern. Die Tiere nehmen sie mit. Doch das große Frachtschiff sinkt, und Pi findet sich nach dem Sturm in einem Rettungsboot wieder, gemeinsam mit einer Hyäne, einem Zebra, einem Orang-Utan und einem bengalischen Tiger. Im Lauf der ersten Tage dezimiert der Tiger die Gesellschaft der Schiffbrüchigen, bis er mit Pi allein an Bord ist. Der richtet sich, so gut es geht, auf ein Leben von Augenblick zu Augenblick ein, das von zwei Aufgaben beherrscht wird: den Tiger auf Abstand zu halten und Nahrung zu beschaffen.
Naturgemäß nimmt die Schilderung dieser Schiffahrt zwischen Todesangst und listigen Überlebensstrategien den wesentlichen Teil des Romans ein, und alle literarisch tradierten Elemente einer solchen Reise werden zitiert, anschaulich und souverän erzählt, ohne in allzu drastischen Schilderungen zu schwelgen - der Heißhunger, der Patel einmal beim Anblick frischen Tigerkots überkommt, ist schon das Äußerste, das Martel sich in dieser Hinsicht erlaubt. Dem Zusammenleben der beiden Schiffbrüchigen kommt eine ganze Reihe von Glücksfällen zugute: Da ist Patels Vertrautheit mit den Zootieren, die es ihm erleichtert, den Tiger einigermaßen zu zähmen; da ist des Tigers überaus friedliches Gemüt (er sei kein Alpha-, eher ein Omega-Tier, stellt Patel fest) und schließlich dessen Neigung zur Seekrankheit, die von seinem Reisegefährten skrupellos zur Disziplinierung eingesetzt wird: Wenn der Tiger nicht spurt, bringt Patel das Schiff so heftig ins Schlingern, daß das Tier alle Kampfeslust verliert. Außerdem ist das Rettungsboot bestens mit allem ausgestattet, was Havarierte benötigen, und da Patel auch seine Schwimmkünste einsetzen kann, um sich in schwierigen Situationen vor dem Tiger auf ein selbstgebautes Floß zu retten, erscheint sein Leben vor der Katastrophe insgesamt als perfekte Vorbereitung auf diese spezielle Form des Schiffbruchs.
All dies schildert Martel ohne allzu großen literarischen Anspruch, aber ihm gelingen einige bezaubernde Natur- und Tierschilderungen (das Faultier ist "nicht wirklich taub, es interessiert sich nur nicht für Geräusche"), und die letzte Gefahr der Schiffbrüchigen, die Begegnung mit einer schwimmenden Insel, verleiht dem zuvor eher sachlichen Erzählton unversehens eine unheimliche Schattierung, die den Text entschieden bereichert.
"Eine Geschichte, die einem den Glauben an Gott geben kann", hatte der indische Zufallsbekannte, Pi Patels Onkel Adirubasamy, dem Erzähler bei der ersten Begegnung versprochen, und wer mag, kann in der wundersamen Errettung des Jungen aus See-, Hungers- und Tigernot die waltende Hand Gottes sehen, der den dreifach Gläubigen auch in größter Gefahr nicht verläßt. Oder man kann die Verheißung des Inders auf das Zusammenleben zwischen Mensch und Tiger anwenden und trotz der Umstände, die eigentlich eher auf einen gewaltsamen Zusammenstoß hindeuten, das Rettungsboot als eine Art wiedergefundenes Paradies ansehen, in dem keine Kreatur der anderen ans Leben will. Aber Martel will mehr: Deshalb hat er viele Zeichen aufgestellt, um zu einer anderen Lesart einzuladen, die aller Esoterik fernsteht.
In seiner Einleitung gibt der Erzähler den ersten Hinweis: Daß diese Geschichte ihre Zuhörer zum Glauben führen könne, habe er in dem Moment gemerkt, als er sich die Tonbänder von der Befragung Patels im mexikanischen Krankenhaus angehört habe. Dort nämlich präsentiert der Gerettete zum einzigen Mal eine andere, wesentlich kürzere Version der Geschichte. Ein Tiger kommt dort nicht vor, kein Orang-Utan oder eine Hyäne, statt dessen ein sadistischer Schiffskoch, ein verwundeter Matrose und Patels Mutter. Auch hier überlebt Patel als einziger, nachdem er allerdings zum Mörder geworden ist und sich am Blut seines Opfers gelabt hat. Beide Versionen der Geschichte haben den gleichen Ursprung - den Schiffbruch - und das gleiche Ergebnis - das gestrandete Rettungsboot -, beide lassen sich nicht überprüfen, weil Patel der einzige Zeuge ist. "Welche von beiden", fragt er seine Besucher, "gefällt Ihnen besser, die mit den Tieren oder die ohne Tiere?" Als die Befragten sich für die Tiere entscheiden, erwidert Patel, genauso sei es mit Gott.
Den leeren Himmel, so kann man diesen Hinweis verstehen, läßt der eine leer, der andere stattet ihn mit höheren Mächten aus, beweisen läßt sich die jeweilige Vorstellung sowenig wie Patels Geschichte in der einen oder anderen Fassung. In dieser Lesart aber wäre Religion keinem metaphysischen Bedürfnis geschuldet, sondern der Entscheidung für die bessere Geschichte: die mit den Tieren.
Yann Martel: "Schiffbruch mit Tiger". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 384 S., geb., 19,90 [Euro].
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