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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wie setzt man äußere Eindrücke in innere Resonanz um? Nico Bleutges Gedichte folgen Herders Programm und werden zum "unmittelbaren Instrument auf die Seele"
In Christoph Brechs Videoarbeit "La Sosta" formieren sich Schwärme tausender Stare am Abendhimmel über Rom zu immer neuen Flugornamenten. Eine atemraubend anmutige Erscheinung, deren Wandelfähigkeit und Vergänglichkeit einen harten Kontrast zum Mythos der ewigen Stadt erzeugt. Doch was geschieht vor und nach den Flügen?
Den Dichter Nico Bleutge, der die Jahre 2018 und 2019 in der römischen Villa Massimo verbracht hat, treibt die Frage nach den Zwischenflugzeiten in seinen titelgebenden "Schlafbaum-Variationen" um, in denen er gleichsam die akustische Facette des Schwarmdaseins vor Augen stellt. Oder sollte man, obwohl die Buchlektüre ein optisches Phänomen bleibt, besser sagen, er stellt sie vor Ohren? "Die nacht davor / hatte ich das rauschen wieder gehört, ein pfeifen, sirren, pfeifen (trifft es nicht), in einem schlafbaum, tausende / stare, umgeben von dämmerlicht / das alles mit flocken von schwarz und grün zum simmern brachte." Im Schlafbaum herrscht statt der Ruhe vor dem Sturm die Unruhe nach dem Flug. Jederzeit kann sie wieder in ein neues Abheben münden.
Längst sind die Stare, die in Rom ganze Pinienreihen als Nist- und Schlafstätten in Beschlag genommen haben, zum städtischen Problem geworden: Krankheitserreger-Ängste, nächtliche Ruhestörung, Kot. Falken sollen helfen, die Tiere zu vertreiben. Star und Vertreibung - dieses Wechselspiel hat Bleutge im Blick. "Plötzlich waren schreie in der luft (von vögeln, unnachgiebig laut)", heißt es knapp, bevor sich das Gehörte optisch bestätigt: "als ich die beiden falken sah, der eine in der luft / der andere mit leicht geduckten kopf auf einem säulenstumpf." Sieben Artgenossen benötigen Stare als Orientierung, um im Schwarm zu harmonieren. In drei Mal sieben Gedichte fächert Bleutge seine "Schlafbaum-Variationen" aus.
Nicht nur im titelgebenden Zyklus, sondern vielmehr vom ersten Vers des Bandes an entspringen die Wahrnehmungstexturen aus kleinstmöglichen akustischen, optischen und sprachlichen Einheiten: "dies nagen, ineinanderdrehen / von wolken, beginn: nicht eine / silbe zum stehen, stauchen / alles drin." Virtuose Bild- und Wortcollagen bestimmen Bleutges Lyrik, seit sein Debüt "Klare Konturen" mit der Beobachtungssequenz "über dem strich der mole, einzelne punkte, das wasser / glimmt gelb, wenn die sonne durch die wolken / flüstert" einsetzte. Rhythmisch anspruchsvoller, dramaturgisch nuancierter kann das in der Gegenwartslyrik keiner, obgleich auch Autoren wie Steffen Popp, Marion Poschmann oder Marcel Beyer Anflüge solcher Impressionsfolgen zeigen.
Eindrücklich, wie konsequent Bleutge erstmals die Sehelemente um das Akustische ergänzt. Aus dem freirhythmischen Bildklang erschließt sich, warum sich hierfür als literarisches Medium nur die Poesie eignet. Eine einzelne Sequenz solcher sinnesimpressionistischer Feintüpfelung würden sicher auch experimentelle Prosa oder Dramen vertragen. Aber als durchgehendes Kompositionsprinzip eines Bandes kann das nur die Dichtung leisten.
Dem Hören ist im Gegensatz zum Sehen eine vagere oder nur verzögerte Verortung zu eigen. "Was, was ist es, das / du hörst", lautet eine Leitfrage des Bandes. Noch bevor ein "glucksen im bauch" in den Chor einstimmt, das seinerseits ein "blubbern nachzieht". Richtete Hölderlin seine Aufmerksamkeit ehedem auf den Moment, in dem das städtische Treiben in Stille umschlug ("ringsum ruhet die Stadt, still wird die erleuchtete Straße"), setzt Bleutge programmatisch ein: "erwachen die laute rings". Bis in die letzten Verse dieses wunderbar komponierten Bandes bleibt diese akustische Ummäntelung präsent: "inmitten von keckern, sich überlagernden tönen, etwas / laden, magnetisch, es warm machen, eines für andere, stapfen im sinn."
Die Aufwertung des Akustischen eröffnet zudem für Bleutges Lyrik einen neuen Diskursraum. Schon die deutschsprachige Poesie und anthropologische Philosophie loteten vor 1800 die Frage, wie Sinneswahrnehmung, Körper und Seele interagieren (oder eben gerade nicht), anhand von Modellen akustischer Schwingung aus. Herder hielt 1769 in "Kritische Wälder oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen" fest: Die Töne selbst werden zum "unmittelbaren Instrument auf die Seele. Alle unsere Empfindungen werden hier ein Saitenspiel, dessen sich das, was Ton heißt, in aller Stärke einzelner Momente und schöner Abwechslungen und wiederkommender Empfindsamkeiten bemächtigt." Erst wenn man sich den Menschen (und seine Nerven) als gespannte Saiten vorstellt, die von den Resonanzen angestimmt werden, ergeben Bleutges Fragen wie die nach der Fülle und dem Gewicht der Luft Sinn: "Was wiegt luft? wenn sie leer / ist vom singen (gesang), vom summen loser folgen, bis der schlaf einfällt."
Bleutge nimmt diese Wahrnehmungen seinerseits zum Ausgangspunkt für die Frage, wie die äußerlichen Eindrücke in innere Resonanz umgesetzt werden. Wie sich das Gespür für sinnliche Eindrücke und für - so sein Ausdruck - "verplombte Wörter" durch die kognitive Verarbeitung in einen Gedanken wandelt. "Was siehst du, im hören", steht als Frage im Raum. Und direkt darauf sogar als Teil der Kopf- und Imaginationsarbeit poetischer Autorschaft: "Was riechst du, wenn du durch die seiten gehst im kopf." Eichendorffs "Im Walde" hatte mit dem Vers "Und eh' ichs gedacht, war alles verhallt", solcher Gedankenvergänglichkeit nachgespürt.
Bleutges Beobachtung geistiger Arbeit schließt an diese Muster an. Als es einmal mehr darum geht, akustische Reize spezifischen Quellen zuzuordnen, lautet die Mutmaßung: "es mußte sich um lautsprecher handeln (war mein gedanke und es war kein gedanke, eher ein gespür, dachte ich, ein häutchen dazwischen)." In diese Sensoriumsstudien schließen die Gedichte auch Tiere ein: "was macht gorilla, was der elefant / im schlaf. spüren sie laute zu farben, sehen zum ersten mal schnee?" Da schwingt die längst zum Klassiker aufgestiegene Frage der Kognitionstheorie von Ivan Nagel mit: "Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?"
Noch eine entscheidende Neuheit konstituiert diesen in drei titellose Kapitel eingeteilten Band: Von denen ersten Zyklen "anfangen, wieder", "schneebere" und "funken" an agiert die Wahrnehmungsinstanz nicht länger als Solitär, dessen Konturen hinter den Wahrnehmungen zu verschwimmen scheinen. Jetzt ist der über Wahrnehmung Schreibende vom ersten Gedicht an in Beziehungen verflochten. Als sorgender Vater mit der Tochter verbunden ("der Kleinen", wie sie genannt wird), eröffnet sich ihm - am eindrücklichsten im Triptychon "Funken" - eine neue Form des Welterfassens und -teilens. Bevor im zweiten Kapitel (und bis in die "Schlafbaum-Variationen" hinein) der Autor als besorgter Sohn gegenüber dem im Sterben liegenden Vater auftritt. In der genealogischen Zwischenposition, auf der einen Seite den Vater zu verlieren, um auf der anderen selbst Vater zu werden, gelingen Bleutge eindringliche Verse der Verzweiflung, Zuwendung, Vergänglichkeit und Hoffnung auf Dauer. CHRISTIAN METZ
Nico Bleutge:
"schlafbaum-variationen". Gedichte.
Verlag C. H. Beck,
München 2023. 117 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Christian Metz
"Nico Bleutge ist unlängst der Jean-Paul-Preis zugesprochen worden, und wie Jean Paul die Romanform zerfließen ließ, weiß auch Bleutge mit der Sprache umzugehen, nämlich empathisch und analytisch zugleich."
taz, Carsten Otte
"Mit der Tochter als einem Lebewesen, das den eigenen Wahrnehmungsapparat komplett transformiert, glückt ihm ein Bild des Vaterseins, wie es sich nur mit der Lyrik heraufbeschwören lässt."
Süddeutsche Zeitung, Meike Feßmann
"Sprachliche Gestalt von spannungsreicher, eindrücklicher Schönheit."
ZEIT ONLINE, Beate Tröger
"Seine Sprachgewalt bringt ein Funkeln und Leuchten in unsere Tage. Voller Pracht entfalten sich die Gedichte, die sich wie zarte Nebel um die Dinge legen und aus dem Ungefähren Neues schöpfen."
Frankfurter Rundschau, Björn Hayer
"Kindliche Freude an diesen Worten."
Deutschlandfunk, Insa Wilke
"Klanggebilde, die uns auffordern zu verstehen."
Deutschlandfunk, Beate Tröger
"Bleutges Gedichte heben Regeln auf, sie ziehen poetische Gegenstände 'rasch ins licht', lassen Tiere streunen, wie Kinder sie zeichnen, und schenken Wörtern und Phänomenen die Freiheit, sich unmittelbar aneinander zu reiben."
WELT am Sonntag, Herbert Wiesner
"Das Eintreten eines kindlichen Wesens in die Welt, das Hinaustreten eines Sterbenden in Sprache zu fassen, gehört zu den Unterfangen, die der Band unternimmt."
Der Freitag, Beate Tröger
"Nicht nur ein herausragender Lyriker seiner Generation, sondern auch profilierter Kritiker und Essayist"
Die Rheinpfalz, Alexandru Bulucz