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Anfangen, wieder. Ein Kind wird geboren. Richtet die Wahrnehmung neu aus. Euphorie wechselt sich ab mit Erschöpfung. Zugleich ist da der Schmerz des Verlustes. Ein geliebter Mensch ist kurz zuvor gestorben. Der Schock hallt nach, schneidet ein in den Körper und in die Laute. Wie lassen sich Gefühle und Gedanken ineinander übersetzen? Wie hängen Wörter und Ich zusammen? Erfüllende Momente und Leid? Nico Bleutge holt diese Fragen in das Sprechen und gewinnt aus ihnen seinen ganz eigenen Rhythmus. Darin reflektiert er die elementaren Widersprüche und Veränderungen unserer Gegenwart, wie sie der…mehr

Produktbeschreibung
Anfangen, wieder. Ein Kind wird geboren. Richtet die Wahrnehmung neu aus. Euphorie wechselt sich ab mit Erschöpfung. Zugleich ist da der Schmerz des Verlustes. Ein geliebter Mensch ist kurz zuvor gestorben. Der Schock hallt nach, schneidet ein in den Körper und in die Laute. Wie lassen sich Gefühle und Gedanken ineinander übersetzen? Wie hängen Wörter und Ich zusammen? Erfüllende Momente und Leid? Nico Bleutge holt diese Fragen in das Sprechen und gewinnt aus ihnen seinen ganz eigenen Rhythmus. Darin reflektiert er die elementaren Widersprüche und Veränderungen unserer Gegenwart, wie sie der flimmernde Titelzyklus spürbar macht. Wir folgen Falken und Staren an den Tiber, sehen Risse in den Bildern, die den Rissen in der Landschaft ähneln. Und die Erinnerung speist scheinbar Nebensächliches ein. Verse über das Beginnen, über Sprache vor der Sprache und über das Verhältnis von Erinnerung und Präsenz. Die Zeit dehnt sich oder schießt im Spiel der Laute zusammen: «dies nagen, ineinanderdrehen / von wolken, beginn: nicht eine / silbe zum stehen, stauchen / alles drin». Mit großem sprachlichen Gespür geht Nico Bleutge den Lücken in der Wahrnehmung nach und zeigt uns die Kraft der Wörter, klangstark, lustvoll, ebenso konkret wie imaginär.
Autorenporträt
Nico Bleutge lebt in Berlin. Bei C.H.Beck erschienen die Gedichtbände "klare konturen" (2006), "fallstreifen" (2008), "verdecktes gelände" (2013), "nachts leuchten die schiffe" (2017) und der Band "Drei Fliegen. Über Gedichte" (2020). Für sein Schreiben wurde er vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Alfred-Kerr-Preis (2016), dem Kranichsteiner Literaturpreis (2017) und dem Stipendium der Villa Massimo Rom (2018/ 19).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Christian Metz lernt das lyrische Ich von Nico Bleutge in der Vaterrolle kennen. Doch nicht nur. Bleutge gelingt es in seinem neuen Gedichtband wie keinem zweiten laut Metz, Akustisches sichtbar zu machen. Zum Beispiel die römischen Stare in ihren "Schlafbäumen". Das ist anspruchsvoll und nuanciert, freut sich Metz, der auch die "sinnesimpressionistische Feintüpfelung" bei Bleutge betüpfelt, äh bemerkt und ausgiebig lobt. Sie öffnet neue Diskursräume, versichert der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.04.2023

Heben, blubbern, lauschen, deuten
Was bedeutet es, Vater zu sein? Und was, den Vater zu verlieren? Nico Bleutges Gedichtband „schlafbaum-variationen“
Ob es der Schlaf ist, in den sich jemand morgens noch einmal einrollt, oder das auf dem Arm sich windende Kind: eine spezielle Form von Leiblichkeit prägt die neuen Gedichte von Nico Bleutge. Sie transformiert die Wahrnehmungsmuster dieses Lyrikers, der lange eher das Sehen privilegierte, also jenen Sinn, der die Dinge auf Distanz hält, um sie in Ruhe betrachten zu können. Es gibt immer noch viele optische Phänomene in diesen Gedichten – Wolken, Himmel, Vogelflug, die lyrischen Klassiker eben – und den damit verbundenen Drang, den Blick in die Ferne schweifen zu lassen. Zugleich aber gibt es ein Rückbiegen auf das Selbst, das nicht einfach nur ein Selbst ist, sondern der durch ein Kind erweiterte körperliche Nahraum.
Die einzelnen Gedichte sind von hohem Abstraktionsgrad. Doch beim mehrfachen Durchlaufen des Bandes bildet sich eine biografische Topografie aus. Deren Markierungspunkte könnte man Kind, Vater, Tiere, Schlaf, Trauer nennen. Was bedeutet es, Vater zu sein? Und was bedeutet es, den Vater zu verlieren? Die beiden Fragen sind miteinander verschränkt, sowohl biografisch als auch in der Art, wie die Gedichte damit umgehen.
Denn natürlich stellt der Lyriker diese Frage nicht so, wie er sie als Kritiker (der er auch ist) stellen würde, oder wie sie in Sachbüchern oder erzählender Prosa formuliert wird, etwa in Paul Brodowskys soeben erschienenem Debütroman „Väter“, der transgenerationale Traumata heranzieht, um das eigene Aggressionspotenzial als Vater zu hinterfragen.
Wie könnte ein Vater in der Gegenwart aussehen? Ein Vater, der sich partnerschaftlich verhält, dem Kind zugeneigt ist, dessen Alltag teilt und seine körperliche Überlegenheit nicht in Zornanfällen und Wutausbrüchen ausagiert, sondern in andere Bahnen lenkt? Die Lektüre von Nico Bleutges „schlafbaum-variationen“ legt die Idee nahe, sich diesen Mann als Tragewesen vorzustellen. Ein Mensch, der, einem geduldigen Maulesel sympathisch verwandt, seine Fähigkeiten dafür einsetzt, die Arbeit des Tragens zu übernehmen – als fürsorgliches Pendant zur Schwangerschaft.
Wie Nico Bleutge das väterlich-kindliche Dual eines ständig hebenden, umschlingenden, absetzenden, blubbernden, lauschenden, deutenden Wesens beschreibt, in dem sich das Wollen oder Nicht-Wollen des Kindes über den Körper des Erwachsenen artikuliert, lässt eine verblüffende Morphologie entstehen. Zum Beispiel in einem Gedicht des ersten von insgesamt acht Zyklen des in drei Großkapitel aufgeteilten Bandes, „anfangen, wieder“: „nicht am kopf berührt / werden, vom arm nicht wollen, nicht / gepuckt sein wollen. beflügelt der anfang // wenn, aus der ferne, so viel nicht mögen / heißen kann.“
Die Kleinschreibung, die der 1972 in München geborene Lyriker schon immer verwendet, auch wenn dieses Stilmittel nach etwas angestrengter Modernität aussieht, verstärkt den Effekt, dass Handelnde und Beobachtende in diesen Fügungen kaum zu unterscheiden sind. Alles mischt und windet sich. Und manchmal erscheint in diesem glückselig erschöpften, präzise gesetzten Sprach- und Laut-Gewirr die wie zum Schutz verpixelte Gestalt der Tochter: „was ist diese wärme, / ärmelig hell, die an der schläfe, braue / die an den haaren spürbar wird (kochende // welle, solarfeld aus puckernden stellen / oder ausbreitung des lichts im vakuum). war // so in ihrer welt, ein zappeln, lehnen, und bald / die müdigkeit in ihren zaum gedreht.“
Ein Gedicht des zweiten Zyklus, der nicht wie der erste dem atmenden Rhythmus paariger Strophen folgt, sondern in einem dichten, gelegentlich surreal erzählenden Ton gehalten ist, erkundet eine Staphylokokken-Infektion, die im Kürzel des medizinischen Fachterminus, „staph. aureus“, zu einer poetischen Chiffre für die folgenreiche Verletzung wird, die das „tochternägelchen“ dem väterlichen Daumen zugefügt hat. Im letzten Gedicht des Zyklus nimmt eine märchenhafte Schnee- und Unterwasserwelt die Tochter wie ein mythisches Wesen in sich auf, „dich tragen, damit keiner dich sieht“.
Die Geborgenheit, die in diesen Gedichten variantenreich aufscheint, hat etwas von der Plastizität des Figürlichen in Rilkes „Ball“-Gedicht, die auch Abwesenheit, Leere und Umschlagpunkte sicht- und spürbar machen kann, auch wenn Bleutges Formensprache eine andere ist. Sein mittlerweile fünfter Gedichtband macht ein weiteres Mal deutlich, dass er von Ovid über Hölderlin, bis Friederike Mayröcker, Inger Christensen und Elke Erb im ständigen Dialog mit anderen Gedichten arbeitet. Manchmal ist es nur ein Rhythmus, eine Lautreihe oder eine typische Zusammenfügung von Eigenheiten, etwa wenn die Formulierung „denkt nämlich einer“ sofort an Hölderlins Elegien denken lässt.
Eines der Gedichte aus dem Zyklus „besuche im klinikum“, „das ist die klinik, Regensburg“, verwendet Elizabeth Bishops „Besuche im St. Elizabeths“ so detailreich wie ein Gerüst, das unbedingt halten soll. Es verarbeitet die plötzliche Erkrankung und schließlich den Tod des Vaters Rolf Bleutge, der mit Namen und Lebensdaten in den Anmerkungen genannt wird. Er war offenbar Jurist und ein leidenschaftlicher Zeichner. Die Tier-Zeichnungen des Vaters bilden eine Art imaginäres Bindeglied für alle Welten, die dieser Band vereint: die Kinder- und Bilderbuchwelt der Tochter, die Hinterlassenschaft des Vaters, die Trauer um ihn und die gefährdete Natur – „die trauertiere schnüffeln, schleichen um die betten“, heißt es etwa in einer gelungenen Zusammenführung.
„schlafbaum-variationen“, der Zyklus, der diesem mit allerfeinstem Gespür und schlafwandelnder Vorsicht gebauten Gedichtband den Titel gibt, enthält die in gewisser Hinsicht konventionellsten Gedichte. Der „Schlafbaum“, ein Mimosengewächs, ist eine Pflanzenart, die nachts oder bei Trockenheit ihre Blätter zusammenrollt; außerdem werden so auch Bäume genannt, auf denen sich Zugvögel ausruhen. Dieser Zyklus liefert, was man heute von der deutschen Gegenwartslyrik erwartet: eine mittlerweile vielleicht etwas zu geschmeidig ablaufende, avancierte Verschränkung von Fachsprachen, distanzierter Beobachtung und Nature Writing.
Umso aufregender ist, was Nico Bleutge darüber hinaus gelingt. Mit der Tochter als einem Lebewesen, das den eigenen Wahrnehmungsapparat komplett transformiert, glückt ihm ein Bild des Vaterseins, wie es sich nur mit der Lyrik heraufbeschwören lässt – eine geduldige Komposition von lauter Unvereinbarkeiten.
MEIKE FESSMANN
„nicht am kopf berührt / werden,
vom arm nicht wollen,
nicht / gepuckt sein wollen“
Nico Bleutge: schlafbaum-variationen. Gedichte.
C.H. Beck, München 2023.
115 Seiten, 22 Euro.
„die trauertiere schnüffeln, schleichen um die betten“: Nico Bleutge, geboren 1972 in München, erhielt 2023 den Jean-Paul-Literaturpreis.
Foto: Ekko von Schwichow
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.08.2023

Besorgter Sohn, sorgender Vater
Wie setzt man äußere Eindrücke in innere Resonanz um? Nico Bleutges Gedichte folgen Herders Programm und werden zum "unmittelbaren Instrument auf die Seele"

In Christoph Brechs Videoarbeit "La Sosta" formieren sich Schwärme tausender Stare am Abendhimmel über Rom zu immer neuen Flugornamenten. Eine atemraubend anmutige Erscheinung, deren Wandelfähigkeit und Vergänglichkeit einen harten Kontrast zum Mythos der ewigen Stadt erzeugt. Doch was geschieht vor und nach den Flügen?

Den Dichter Nico Bleutge, der die Jahre 2018 und 2019 in der römischen Villa Massimo verbracht hat, treibt die Frage nach den Zwischenflugzeiten in seinen titelgebenden "Schlafbaum-Variationen" um, in denen er gleichsam die akustische Facette des Schwarmdaseins vor Augen stellt. Oder sollte man, obwohl die Buchlektüre ein optisches Phänomen bleibt, besser sagen, er stellt sie vor Ohren? "Die nacht davor / hatte ich das rauschen wieder gehört, ein pfeifen, sirren, pfeifen (trifft es nicht), in einem schlafbaum, tausende / stare, umgeben von dämmerlicht / das alles mit flocken von schwarz und grün zum simmern brachte." Im Schlafbaum herrscht statt der Ruhe vor dem Sturm die Unruhe nach dem Flug. Jederzeit kann sie wieder in ein neues Abheben münden.

Längst sind die Stare, die in Rom ganze Pinienreihen als Nist- und Schlafstätten in Beschlag genommen haben, zum städtischen Problem geworden: Krankheitserreger-Ängste, nächtliche Ruhestörung, Kot. Falken sollen helfen, die Tiere zu vertreiben. Star und Vertreibung - dieses Wechselspiel hat Bleutge im Blick. "Plötzlich waren schreie in der luft (von vögeln, unnachgiebig laut)", heißt es knapp, bevor sich das Gehörte optisch bestätigt: "als ich die beiden falken sah, der eine in der luft / der andere mit leicht geduckten kopf auf einem säulenstumpf." Sieben Artgenossen benötigen Stare als Orientierung, um im Schwarm zu harmonieren. In drei Mal sieben Gedichte fächert Bleutge seine "Schlafbaum-Variationen" aus.

Nicht nur im titelgebenden Zyklus, sondern vielmehr vom ersten Vers des Bandes an entspringen die Wahrnehmungstexturen aus kleinstmöglichen akustischen, optischen und sprachlichen Einheiten: "dies nagen, ineinanderdrehen / von wolken, beginn: nicht eine / silbe zum stehen, stauchen / alles drin." Virtuose Bild- und Wortcollagen bestimmen Bleutges Lyrik, seit sein Debüt "Klare Konturen" mit der Beobachtungssequenz "über dem strich der mole, einzelne punkte, das wasser / glimmt gelb, wenn die sonne durch die wolken / flüstert" einsetzte. Rhythmisch anspruchsvoller, dramaturgisch nuancierter kann das in der Gegenwartslyrik keiner, obgleich auch Autoren wie Steffen Popp, Marion Poschmann oder Marcel Beyer Anflüge solcher Impressionsfolgen zeigen.

Eindrücklich, wie konsequent Bleutge erstmals die Sehelemente um das Akustische ergänzt. Aus dem freirhythmischen Bildklang erschließt sich, warum sich hierfür als literarisches Medium nur die Poesie eignet. Eine einzelne Sequenz solcher sinnesimpressionistischer Feintüpfelung würden sicher auch experimentelle Prosa oder Dramen vertragen. Aber als durchgehendes Kompositionsprinzip eines Bandes kann das nur die Dichtung leisten.

Dem Hören ist im Gegensatz zum Sehen eine vagere oder nur verzögerte Verortung zu eigen. "Was, was ist es, das / du hörst", lautet eine Leitfrage des Bandes. Noch bevor ein "glucksen im bauch" in den Chor einstimmt, das seinerseits ein "blubbern nachzieht". Richtete Hölderlin seine Aufmerksamkeit ehedem auf den Moment, in dem das städtische Treiben in Stille umschlug ("ringsum ruhet die Stadt, still wird die erleuchtete Straße"), setzt Bleutge programmatisch ein: "erwachen die laute rings". Bis in die letzten Verse dieses wunderbar komponierten Bandes bleibt diese akustische Ummäntelung präsent: "inmitten von keckern, sich überlagernden tönen, etwas / laden, magnetisch, es warm machen, eines für andere, stapfen im sinn."

Die Aufwertung des Akustischen eröffnet zudem für Bleutges Lyrik einen neuen Diskursraum. Schon die deutschsprachige Poesie und anthropologische Philosophie loteten vor 1800 die Frage, wie Sinneswahrnehmung, Körper und Seele interagieren (oder eben gerade nicht), anhand von Modellen akustischer Schwingung aus. Herder hielt 1769 in "Kritische Wälder oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen" fest: Die Töne selbst werden zum "unmittelbaren Instrument auf die Seele. Alle unsere Empfindungen werden hier ein Saitenspiel, dessen sich das, was Ton heißt, in aller Stärke einzelner Momente und schöner Abwechslungen und wiederkommender Empfindsamkeiten bemächtigt." Erst wenn man sich den Menschen (und seine Nerven) als gespannte Saiten vorstellt, die von den Resonanzen angestimmt werden, ergeben Bleutges Fragen wie die nach der Fülle und dem Gewicht der Luft Sinn: "Was wiegt luft? wenn sie leer / ist vom singen (gesang), vom summen loser folgen, bis der schlaf einfällt."

Bleutge nimmt diese Wahrnehmungen seinerseits zum Ausgangspunkt für die Frage, wie die äußerlichen Eindrücke in innere Resonanz umgesetzt werden. Wie sich das Gespür für sinnliche Eindrücke und für - so sein Ausdruck - "verplombte Wörter" durch die kognitive Verarbeitung in einen Gedanken wandelt. "Was siehst du, im hören", steht als Frage im Raum. Und direkt darauf sogar als Teil der Kopf- und Imaginationsarbeit poetischer Autorschaft: "Was riechst du, wenn du durch die seiten gehst im kopf." Eichendorffs "Im Walde" hatte mit dem Vers "Und eh' ichs gedacht, war alles verhallt", solcher Gedankenvergänglichkeit nachgespürt.

Bleutges Beobachtung geistiger Arbeit schließt an diese Muster an. Als es einmal mehr darum geht, akustische Reize spezifischen Quellen zuzuordnen, lautet die Mutmaßung: "es mußte sich um lautsprecher handeln (war mein gedanke und es war kein gedanke, eher ein gespür, dachte ich, ein häutchen dazwischen)." In diese Sensoriumsstudien schließen die Gedichte auch Tiere ein: "was macht gorilla, was der elefant / im schlaf. spüren sie laute zu farben, sehen zum ersten mal schnee?" Da schwingt die längst zum Klassiker aufgestiegene Frage der Kognitionstheorie von Ivan Nagel mit: "Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?"

Noch eine entscheidende Neuheit konstituiert diesen in drei titellose Kapitel eingeteilten Band: Von denen ersten Zyklen "anfangen, wieder", "schneebere" und "funken" an agiert die Wahrnehmungsinstanz nicht länger als Solitär, dessen Konturen hinter den Wahrnehmungen zu verschwimmen scheinen. Jetzt ist der über Wahrnehmung Schreibende vom ersten Gedicht an in Beziehungen verflochten. Als sorgender Vater mit der Tochter verbunden ("der Kleinen", wie sie genannt wird), eröffnet sich ihm - am eindrücklichsten im Triptychon "Funken" - eine neue Form des Welterfassens und -teilens. Bevor im zweiten Kapitel (und bis in die "Schlafbaum-Variationen" hinein) der Autor als besorgter Sohn gegenüber dem im Sterben liegenden Vater auftritt. In der genealogischen Zwischenposition, auf der einen Seite den Vater zu verlieren, um auf der anderen selbst Vater zu werden, gelingen Bleutge eindringliche Verse der Verzweiflung, Zuwendung, Vergänglichkeit und Hoffnung auf Dauer. CHRISTIAN METZ

Nico Bleutge:

"schlafbaum-variationen". Gedichte.

Verlag C. H. Beck,

München 2023. 117 S., geb., 22,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Rhythmisch anspruchsvoller, dramaturgisch nuancierter kann das in der Gegenwartslyrik keiner. ... Eindrücklich, wie konsequent Bleutge erstmals die Sehelemente um das Akustische ergänzt."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Christian Metz

"Nico Bleutge ist unlängst der Jean-Paul-Preis zugesprochen worden, und wie Jean Paul die Romanform zerfließen ließ, weiß auch Bleutge mit der Sprache umzugehen, nämlich empathisch und analytisch zugleich."
taz, Carsten Otte

"Mit der Tochter als einem Lebewesen, das den eigenen Wahrnehmungsapparat komplett transformiert, glückt ihm ein Bild des Vaterseins, wie es sich nur mit der Lyrik heraufbeschwören lässt."
Süddeutsche Zeitung, Meike Feßmann

"Sprachliche Gestalt von spannungsreicher, eindrücklicher Schönheit."
ZEIT ONLINE, Beate Tröger

"Seine Sprachgewalt bringt ein Funkeln und Leuchten in unsere Tage. Voller Pracht entfalten sich die Gedichte, die sich wie zarte Nebel um die Dinge legen und aus dem Ungefähren Neues schöpfen."
Frankfurter Rundschau, Björn Hayer

"Kindliche Freude an diesen Worten."
Deutschlandfunk, Insa Wilke

"Klanggebilde, die uns auffordern zu verstehen."
Deutschlandfunk, Beate Tröger

"Bleutges Gedichte heben Regeln auf, sie ziehen poetische Gegenstände 'rasch ins licht', lassen Tiere streunen, wie Kinder sie zeichnen, und schenken Wörtern und Phänomenen die Freiheit, sich unmittelbar aneinander zu reiben."
WELT am Sonntag, Herbert Wiesner

"Das Eintreten eines kindlichen Wesens in die Welt, das Hinaustreten eines Sterbenden in Sprache zu fassen, gehört zu den Unterfangen, die der Band unternimmt."
Der Freitag, Beate Tröger

"Nicht nur ein herausragender Lyriker seiner Generation, sondern auch profilierter Kritiker und Essayist"
Die Rheinpfalz, Alexandru Bulucz
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Rezensent Christian Metz lernt das lyrische Ich von Nico Bleutge in der Vaterrolle kennen. Doch nicht nur. Bleutge gelingt es in seinem neuen Gedichtband wie keinem zweiten laut Metz, Akustisches sichtbar zu machen. Zum Beispiel die römischen Stare in ihren "Schlafbäumen". Das ist anspruchsvoll und nuanciert, freut sich Metz, der auch die "sinnesimpressionistische Feintüpfelung" bei Bleutge betüpfelt, äh bemerkt und ausgiebig lobt. Sie öffnet neue Diskursräume, versichert der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH