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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Betriebsanleitung für die Kleinfamilie samt Monster: Sarah Moss erzählt vom Frauendasein zwischen Schreibtisch und Wickelkommode
Bekanntlich sollte man sich vorsehen, einfach irgendwas daherzureden oder aus der Not Geborenes immer weiter zu verbreiten, denn selbst Ausgedachtes kann es wirklich geben und uns irgendwann auch begegnen. Der Grüffelo ist so ein Fall. Erst denkt die Maus, sie hat sich dieses Ungeheuer mit seinen fürchterlichen Klauen und Zähnen lediglich einfallen lassen, um damit ihre Fressfeinde zu verschrecken, und dann steht sie dem Monster mit einem Mal selbst gegenüber und muss sich, so verzweifelt wie verwegen, schon wieder etwas ausdenken, um seiner Gier lebendig zu entkommen. Aus dem ungemein erfolgreichen Kinderbuchklassiker der englischen Autorin Julie Donaldson erfährt man also einiges von der Macht unserer Wunschvorstellungen und lernt, auch eigene Erfindungen mit Vorsicht zu gebrauchen. Längst ist der Grüffelo uns daher unentbehrlich. Jetzt spielt er die geheime Hauptrolle in Sarah Moss' Roman über die Mühsal und verwegenen Hoffnungen moderner Mutterschaft.
Ständig verlangt Moth, ein Quengelbengel von zwei Jahren, dass man ihm das Grüffelolied vorsingt; manchmal lässt sich dies mit Keksen oder Schokolade abwenden, aber meistens muss die Mutter einlenken, schon um des schnelleren Hausfriedens willen, auch wenn sie eigentlich gerade am Laptop sitzt oder die Küche macht oder die Wäsche oder am nächsten Kapitel schreibt oder mit der Polizei verhandelt oder ihren frühreifen Siebenjährigen davon zu überzeugen sucht, dass der Untergang der Welt trotz Umweltkatastrophe noch nicht gleich bevorsteht. Mit Mann und Familie verbringt Dr. Anna Bennett - Historikerin, thirty-something, Forschungsstipendiatin für Oxford - den ganzen Sommer auf einer kargen Insel der Äußeren Hebriden, in einem abgelegenen Naturparadies, wo ihr Mann seinen ornithologischen Forschungen nachgehen und sie in Ruhe das Manuskript des aktuellen Buches, das den Fortgang ihrer Unilaufbahn sichern soll, fertigstellen kann. So der Plan. Ihr Work in Progress untersucht die kulturelle Konstruktion von Kindheit im achtzehnten Jahrhundert. Doch je weiter die Geschichte, die sie uns erzählt, voranschreitet und je stärker sie sich hier beständig zwischen den widerstreitenden Anforderungen des Alltags als Akademikerin und Mutter, als Berufstätige und Familientätige aufreibt, desto mehr gewinnen wir den Eindruck, dass Kindheit und Elternschaft auch so ein Grüffelo sind: eine Selbsterfindung, der man eines Tages fassungslos begegnet und sich wundert, dass es sie tatsächlich gibt.
Ganz offenkundig kennt die Autorin Sarah Moss - Jahrgang 1975, Literaturwissenschaftlerin aus Oxford, Mutter zweier Kinder, neuerdings in guter Position an der University of Warwick - die Verhältnisse, von denen sie erzählt, aus eigener Erfahrung ziemlich gut, und gewiss ist ihr Roman ziemlich zielgruppenspezifisch ausgerichtet und setzt darauf, dass Leserinnen sich in gleicher Lage zwischen Kindern und Karriere darin wiederfinden mögen. Doch auch wer nicht zu der Primärverwertungsgruppe zählt, kann an diesem unterhaltsamen wie intelligent gemachten Buch Gefallen finden. Das liegt vor allem an der Figur der Erzählerin und dem einnehmenden Tonfall ihres Selbstberichts: trocken, pointiert, nüchtern beobachtend und gnadenlos scharfzüngig, oft komisch verzweifelt, immer aber eine Art der Komik kultivierend, von der man ahnt, dass sie nur dem Selbstschutz vor herandrängenden Zumutungen dient. So folgen wir auch über solche Strecken, da uns die Handlung eher langweilt, ihrem Alltagsmonolog sehr gern und lassen uns auf die diversen Wendungen, mit denen Moss ihre Geschichte reichlich versieht, willig ein.
Der Plot wartet mit allerhand Spektakulärem auf: Im Garten entdeckt Anna das Skelett einer Kinderleiche, was die Polizei auf den Plan ruft; auf dem Dachboden regen sich seltsame Geräusche, was den Ehemann, ansonsten eher mit der Vogelwelt befasst, zu Nachforschungen nötigt; im Kamin finden sich bündelweise geheimnisvolle alte Briefe - und was dergleichen Fundstücke aus der Klamottenkiste des viktorianischen Romans mehr sind. Hinzu kommen Recherchen über die düstere Geschichte der Hebrideninsel, die vor uns ausgebreitet werden, und Begegnungen mit einer Ferienfamilie in der Nachbarschaft samt essgestörter Teenie-Tochter. Vieles davon erscheint absehbar und zieht sich in die Länge, und manche Fäden bleiben auch am Ende lose hängen. Hier dürfte dann der Fortsetzungsroman, vermutlich schon in Arbeit, anknüpfen. Doch ohnehin braucht es von solchen Zutaten nur wenig. Die Alltagssorgen, Nöte, kleinen Freuden, täglichen Verhandlungen, nächtlichen Schlafsehnsüchte, fortgesetzten Hoffnungen und kleinen Geheimnisse der stressgeplagten Mutter, die sich hier so nachdenklich wie witzig mitteilt, sind ohnehin viel spannender.
Der wunde Punkt nämlich des Grüffelo ist seine Leichtgläubigkeit, das heißt, die Tendenz, sich etwas einreden zu lassen. Sie zeigt, dass sich die selbsterfundenen Monster letztlich nur mit weiteren Geschichten bannen lassen. Sarah Moss und ihrem leichtfüßigen Roman über die Erfindung des modernen Mutterdaseins gelingt dies mühelos.
TOBIAS DÖRING
Sarah Moss: "Schlaflos". Roman.
Aus dem Englischen von Nicole Seifert. Mare Verlag, Hamburg 2013. 490 S., geb., 22,- [Euro].
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