Meeresrauschen, Urlaub, Sommer: Trotz der verlockenden Aussichten weigert sich der zehnjährige deutsche Waisenjunge Michael beharrlich, als seine amerikanische Adoptivmutter ihn in New York in den Zug Richtung Boston setzen will. Das traumatisierte Kind fürchtet sich vor den Tunneln und dem Fremden
im Allgemeinen. Wir schreiben das Jahr 1950 und der Zweite Weltkrieg, in dem Michael seine Eltern…mehrMeeresrauschen, Urlaub, Sommer: Trotz der verlockenden Aussichten weigert sich der zehnjährige deutsche Waisenjunge Michael beharrlich, als seine amerikanische Adoptivmutter ihn in New York in den Zug Richtung Boston setzen will. Das traumatisierte Kind fürchtet sich vor den Tunneln und dem Fremden im Allgemeinen. Wir schreiben das Jahr 1950 und der Zweite Weltkrieg, in dem Michael seine Eltern verlor, ist noch nicht lange vorbei. Als er in Cape Cod Bekanntschaft mit der exzentrischen Künstlerin Mrs. Aitch macht, scheinen zarte Sonnenstrahlen die dunklen Wolken vertreiben zu können. Doch die Freundschaft ist fragil, denn Mrs. Aitch hadert selbst mit ihrer Existenz und mit ihrem Ehemann, dem berühmten amerikanischen Maler Edward Hopper, dessen Gemälde "Sea Watchers" übrigens auch das Cover ziert.
"Schmales Land" ist der neue Roman der irischen Autorin Christine Dwyer Hickey, der 2020 unter anderem mit dem Walter Scott Prize ausgezeichnet wurde - und tatsächlich der erste, der als deutsche Übersetzung von Uda Strätling jüngst im Unionsverlag erschienen ist. Allein dafür gebührt dem Schweizer Verlag schon Dank, denn das Buch strahlt eine so bemerkenswerte Schönheit und Eleganz aus, dass dem deutschsprachigen Publikum hier ansonsten ein großes Werk entgangen wäre. "Schmales Land" wirkt dabei im positiven Sinne typisch amerikanisch und man muss schon zweimal die Vita der Autorin lesen, um nicht auf den Gedanken zu kommen, dass es sich eigentlich um einen Klassiker der amerikanischen Literatur handelt, der sich nahtlos in die Reihe der großen amerikanischen Erzähler:innen einreihen könnte.
Dwyer Hickey entpuppt sich nämlich nicht nur als begnadete Erzählerin, sondern schafft es auch, dass man als Leser:in eine fast unheimliche Allianz mit den Figuren eingeht. Selten zuvor fühlte ich mich Romanfiguren so eng verbunden wie in "Schmales Land". Ob Waisenjunge Michael, sein gleichaltriger Urlaubsbegleiter Richie oder das Künstlerehepaar Hopper, das namentlich übrigens nicht ein einziges Mal im gesamten Roman auftaucht - Dwyer Hickey gelingt es, dass man sich mit den Figuren freut, mit ihnen leidet und vor allem immer wieder um sie fürchtet. Sie alle strahlen eine große Ambivalenz aus, begehen einerseits zahlreiche Fehler, treffen aber mit ihrem Verhalten mitten ins Herz der Leserschaft. Denn durch die Empathie, die die Autorin ihren Charakteren entgegenbringt, werden diese Fehler nicht nur verzeihlich, sondern sogar verständlich. Letztlich gibt es im gesamten Werk kaum eine Situation, in der man sich in den häufig auftretenden Konflikten klar auf die Seite der einen oder der anderen Figur schlagen kann, weil sie alle bei jedem ihrer Fehltritte etwas eint: Menschlichkeit und Lebendigkeit.
Ein weiterer Vorzug des Buches ist die Multiperspektivität, die mit dem Verständnis und der Komplexität der Figuren unmittelbar zusammenhängt. In gewissen Momenten erlebt man dieselbe Situation hintereinander aus den Augen zweier Figuren und nimmt diese plötzlich ganz anders wahr. Genau wie Mrs. Aitch oder Michael zeigt sich Christine Dwyer Hickey nämlich als hervorragende Beobachterin. Jedes Wort, jede Geste, ja sogar jede Mimik wird von den Figuren unterschiedlich interpretiert. Dadurch entsteht ein einzigartiges Panorama der Kommunikation, das sogar über das Vier-Seiten-Modell von Friedemann Schulz von Thun noch hinausgeht. Die Dialoge sind pointiert und häufig tragikomisch.
Zudem beweist die Autorin mit diesem Buch, dass weder sprachlich noch inhaltlich ein großes Spektakel notwendig ist, um einen herausragend guten Roman zu schreiben. Die Sprache ist klar und elegant, warmherzig und melancholisch, glänzt aber nicht wegen besonderer literarischer Einfälle oder Stilmittel, sondern ist schnörkellos und trotzdem oder gerade deshalb einfach wunderbar. Die Handlung wird langsam und bedächtig erzählt, der Roman ist still und auf den ersten Blick passiert eigentlich gar nicht viel. Doch es sind vielmehr die inneren Dramen, die kleinen Verletzungen und Verfehlungen des Alltags, die den Figuren zusetzen und gerade durch dieses Unprätentiöse eine bemerkenswerte Intensität bei der Leserschaft bewirken sollten.
Insgesamt ist "Schmales Land" für mich der bislang stärkste Roman des Jahres, ein funkelndes Juwel, das sowohl Freund:innen von Künstlerromanen, als auch Leser:innen von Entwicklungsromanen begeistern dürfte. Hoffentlich gelingt Christine Dwyer Hickey damit auch auf dem deutschsprachigen Markt der verdiente Durchbruch.