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Ein Fremder kommt nach Kars, eine türkische Provinzstadt, um eine merkwürdige Serie von Selbstmorden zu untersuchen: Junge Mädchen haben sich umgebracht, weil man sie zwang, das Kopftuch abzulegen. Plötzlich kommt es zu einem Putsch, inszeniert von einem Schauspieler. Ein Theatercoup? Doch es fließt echtes Blut, es intervenieren echte Soldaten, keiner kann die Stadt verlassen, weil es unaufhörlich schneit ... Ein aktueller Roman, in dessen Zentrum die Frage nach der Identität der Türkei zwischen "Verwestlichung" und Islamismus steht.

Produktbeschreibung
Ein Fremder kommt nach Kars, eine türkische Provinzstadt, um eine merkwürdige Serie von Selbstmorden zu untersuchen: Junge Mädchen haben sich umgebracht, weil man sie zwang, das Kopftuch abzulegen. Plötzlich kommt es zu einem Putsch, inszeniert von einem Schauspieler. Ein Theatercoup? Doch es fließt echtes Blut, es intervenieren echte Soldaten, keiner kann die Stadt verlassen, weil es unaufhörlich schneit ... Ein aktueller Roman, in dessen Zentrum die Frage nach der Identität der Türkei zwischen "Verwestlichung" und Islamismus steht.

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Autorenporträt
Orhan Pamuk, 1952 in Istanbul geboren, studierte Architektur und Journalismus. Für seine Werke erhielt er u.a. 2003 den Impac-Preis, 2005 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2006 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen zuletzt Der Koffer meines Vaters (2010), Cevdet und seine Söhne (Roman, 2011), Der naive und der sentimentalische Romancier (2012), der Katalog Die Unschuld der Dinge. Das Museum der Unschuld in Istanbul (2012), Diese Fremdheit in mir (Roman, 2016), Die rothaarige Frau (Roman, 2017), Istanbul (Erinnerungen und Bilder aus einer Stadt, 2018) und Die Nächte der Pest (Roman, 2022).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2004

Warnung vor der Türkei
Orhan Pamuks neuer Roman: Panik in Anatolien

Als 1998 bei dem Internationalen Kongreß in Istanbul zu Ehren des Philosophen Ibn Ruschd (Averroes, gestorben 1198) eine Gruppe von Studentinnen trotz des Kopftuch-Verbotes innerhalb der Universität den Hörsaal mit Kopftüchern betrat, war man etwas peinlich berührt. Denn es war doch gerade Averroes, ein Aufklärer unter den islamischen Philosophen, der für die Gleichberechtigung der Frau und für den Primat der Vernunft eingetreten war. Als diese Studentinnen, während man die türkische Nationalhymne sang, dann auch noch demonstrativ schwiegen und sich nicht von ihren Stühlen erhoben, wurde im Saal gemurrt, denn jetzt war deutlich geworden, daß sie nicht nur fromme Musliminnen waren, sondern auch einen politischen Islam demonstrierten, der die Republik ablehnte.

Von Mädchen in Kopftüchern und dem sogenannten "politischen Islam" handelt auch das jüngste Buch des in Istanbul lebenden türkischen Schriftstellers Orhan Pamuk. Der Titel der vor zwei Jahren in Istanbul erschienenen Ausgabe lautet "Kar", was im Türkischen "Schnee" bedeutet, und es schneit in diesem Buch ununterbrochen. Der Ort der Handlung ist, in Anspielung auf den Titel, die Stadt Kars. Man erreicht sie nur durch schier endlose Busfahrten, wie sie Pamuk schon in seinem Roman "Das neue Leben" (1998; türkisch: "Yeni Hayat", 1994) beschrieben hatte. Kars hat etwa neunzigtausend Einwohner und liegt 1750 Meter über dem Meeresspiegel, 250 Kilometer östlich von Erzurum in Ostanatolien, an einem der Enden der Welt also.

Im achtzehnten Jahrhundert gehörte diese Stadt zu Persien. Dreimal - 1828, 1855 und 1878 - wurde sie von den Russen besetzt. Die Bevölkerung war immer eine Mischung aus Armeniern, Türken, Griechen und Russen. Erst seit 1921 gehört Kars zur Türkei. Die Stadt ist trist. Eric Ambler hätte sie als Staffage für einen seiner Romane erfinden können. Aber sie ist keine Erfindung, es gibt sie wirklich, und Pamuks Beschreibung kommt der Wirklichkeit sehr nahe. In Kars glauben die jungen Muslime, daß alle Europäer Atheisten sind. Acht Mädchen nehmen sich dort ganz unspektakulär das Leben, weil sie von ihren Eltern oder Lehrern nicht gezwungen werden wollen, in der Schule oder auf der Universität ihre Kopftücher abzulegen. Ohne weitere Worte, ohne Abschiedsbriefe erdrosseln sie sich mit ihren Kopftüchern, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Selbstmord ist im Islam verboten. Darum sind diese Selbsttötungen etwas anderes als eine fromme, im Namen der Religion verübte Tat: Sie sind politisch motiviert.

Orhan Pamuk schreibt also über den politischen Islam. Dieser wird als eine Ideologie dargestellt, die den "Westen" haßt und die Republik Atatürks ablehnt. Es kommt zu Konfrontationen zwischen den Islamisten und dem Militär, das in Studentenheime eindringt, dort völlig willkürlich um sich schießt und tötet, also Märtyrer erzeugt. Ausgangssperren werden verhängt, Verdächtige gefoltert, alle Bewohner der Stadt bespitzelt und in Angst versetzt. Die Islamisten rufen öffentlich "Gott ist groß" und zerstören dabei die Fenster von Bierhallen. Die Säkularen entgegnen "Lang lebe Atatürk" und trinken zur Aufwärmung Raki. Der allgegenwärtige Geheimdienst notiert alles, auch die Aktivitäten der Kommunisten und der Kurden, denn auch diese sind gegen den bestehenden Staat.

Der Journalist Ka, der dies alles angewidert beobachtet, ist ein Exil-Türke aus Frankfurt am Main. In den Augen der Bewohner von Kars ist er inzwischen ein "Westler". Das ganze gespenstische Treiben erinnert stark an das Geschehen in einer anderen Provinzstadt im Mittleren Osten, an Schiras während der iranischen Revolution im Winter 1978/79. Diese Assoziation wird von Pamuk selbst nahegelegt, denn in der Mitte des Buches läßt er einen Republikaner fragen, ob die Türkei jetzt nicht "den Weg Irans" gehe?

In Schiras damals rief man nicht "Lang lebe Atatürk", sondern "Lang lebe der Schah". Die Revolutionäre entgegneten "Gott ist groß" (Allahu akbar), und dann zerstörten sie Alkoholgeschäfte und Banken. Die Revolutionäre - die Frauen im Schleier oder Kopftuch, die Männer mit Bart - stürmten die Universität, um den Unterricht lahmzulegen, die Armee folgte und schoß blindlings. Damals lernte man wegzulaufen. Auch der Geheimdienst war ebenso eifrig wie in Kars, und Kommunisten wurden ebenso gefoltert wie Islamisten. Als diese schließlich gewonnen hatten, schnitten sie den lebenden Sawak-Mitgliedern die Zunge aus dem Mund. Auch in Schiras waren Kopftuch und Schleier die Zeichen des politischen Islam. Wer von den Männern einen Schlips trug, gab sich als Westler zu erkenen und lebte gefährlich. In Pamuks Kars ist es, genauso wie in Schiras, lebenswichtig, Radio- und Fernsehsender zu besetzen, um durch ganz bestimmte Musik das politische Klima zu beeinflussen. In Kars tut dies ein Sänger, der türkische Volkslieder singt, in Schiras wurde im Radio eine Platte mit deutschen Märschen abgespielt. Auch damals herrschten Unsicherheit und Angst, einerseits vor dem Militär, andererseits vor denen, die es bekämpften.

Was bei der Lektüre von Pamuks Buch nachdenklich stimmt, ist nicht so sehr die Tatsache, daß Kars Schiras so ähnlich ist, sondern die Erinnerung daran, daß in Iran die Islamisten gewonnen haben. Wie wird es in Kars ausgehen? Selbst wenn die Islamisten in der Türkei nicht gewinnen sollten, die von Ka beobachteten Republikaner mit ihren militärischen Methoden will man doch wohl auch nicht in der Europäischen Union willkommen heißen. Das politische Klima in Kars ist schmutzig - spiegelt es die wirklichen Zustände in der Türkei wider oder nur im abgelegenen Anatolien? Und will Pamuk uns davon überzeugen, daß muslimische Frauen mit Kopftuch politische Aktivistinnen sind, die die Demokratie ablehnen, daß das schlaffe Europa gegenüber diesen politisch-islamischen und militärisch-despotischen Kräften keine Chance hat?

Der Islamistenführer "Blau" bemerkt: "Europa ist nicht meine Zukunft. Solange ich lebe, werde ich die Europäer nicht nachahmen und mich auch nicht dafür hassen, daß ich anders bin als sie." Turgut Bey, ein alter Kommunist, sagt daraufhin: "Es sind nicht nur die Islamisten, die stolz auf dieses Land sind. Republikaner fühlen dasselbe." Ein demokratisches Europa wollen beide Parteien nicht. Will Europa sie denn? Kein europäischer Politiker war schon einmal in Kars, dort, wo er ungehemmt und unkontrolliert von der Zentralgewalt - die Stadt ist wegen des Schnees von der Außenwelt abgeschlossen -, die das türkische Leben bewegenden politischen Kräfte sichtbar werden. Diese Stadt ist nicht das Ankara der Diplomaten und nicht das Istanbul der Touristen. Aber Kars ist für Orhan Pamuk die Türkei. Und in Pamuks Türkei, so formuliert es "Blau", brüsten sich die Leute nur dann mit ihrem Atheismus, der Signatur ihrer "Westlichkeit", wenn sie sicher sind, daß das Militär hinter ihnen steht.

FRIEDRICH NIEWÖHNER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.02.2005

Im kalten Licht des Halbmonds
Von Putschisten, Attentätern und einem deutschen Mantel: Heute erscheint Orhan Pamuks Roman „Schnee”, eine Reise in den türkischen Osten
Zu den Kindheitserinnerungen des 1950 in Istanbul geborenen türkischen Dichters Kerim Alakusoglu, der seinen Namen nicht mag und es vorzieht, nach seinem ersten Buchstaben schlicht „Ka” genannt zu werden, gehören die Filme aus Hollywood. Darin ist manchmal am Ende des Vorspanns eine sich langsam drehende Erdkugel zu sehen, der sich die Kamera nähert, bis sie schließlich auf einem Land ruht. In dem Film, den Ka seit seiner Kindheit in seiner Phantasie dreht, ist dieses Land die Türkei: Das Marmara-Meer, das Schwarze Meer und der Bosporus werden sichtbar, dann das bürgerliche Stadtviertel Istanbuls, in dem er aufgewachsen ist, mit den Wäscheleinen und Werbeplakaten für Tamek-Konserven, ehe die Kamera durch das Fenster in das Zimmer voller Bücher und Teppiche eindringt und den jungen Dichter erfasst, der am Schreibtisch sitzt. Längst hat Ka das Haus in Istanbul verlassen, nach dem Militärputsch von 1980 ist er ins Exil gegangen, nach Deutschland, wo er in einer kleinen Wohnung nahe dem Frankfurter Bahnhofsviertel in dürftigen Verhältnissen lebt.
Der Dichter Ka ist eine der Hauptfiguren in „Schnee”, dem neuen Roman des 1952 in Istanbul geborenen türkischen Schriftstellers Orhan Pamuk (Schnee. Roman. Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann. Carl Hanser Verlag, München 2005. 512 Seiten). Es ist sein siebter Roman, und er ist Teil eines großen Projekts, das dem Kopfkino Kas ähnelt: mit der Form des Romans wie mit einem magischen Auge die Türkei der Gegenwart zugleich aus der Weltperspektive und aus der Nahsicht zu erfassen. In dem historischen Roman „Rot ist mein Name” (1998, deutsch 2001) hat Pamuk, im Spiel mit alten Orient-Okzident-Mythologien, Istanbul zwischen Venedig und Persien lokalisiert. Im tödlichen Bilderstreit des Jahres 1591 um die westliche Kunst der Perspektive und die Gebote der traditionellen Buchmalerei spiegelten sich aktuelle Bruchlinien zwischen einer islamischen Religiosität, die ihrem Anspruch auf Weltgestaltung nicht entsagen mag, und der universellen Dynamik der europäischen Moderne. In diesem neuen Buch, das zwischen April 1999 und Dezember 2001 entstanden ist, richtet Pamuk die Romansonde aufs Jüngstvergangene: die Türkei der frühen und mittleren 1990er Jahre. Sie erfasst einen melancholischen Helden und ein tief zerrissenes Land, eine Welt der Attentate und Selbstmorde, des Putsches und des Verrats, der tiefen Verzweiflung und des unbändigen Glücksverlangens, an der die plane Opposition von Islamismus und säkularer Moderne zerbricht.
Im Jahre 1992 kehrt der Dichter Ka aus seinem Frankfurter Exil zum ersten Mal nach Istanbul zurück, zur Beerdigung seiner Mutter. Er folgt dem Vorschlag ehemaliger Freunde aus der längst zerstreuten radikalen Linken, die ihren Frieden mit dem Staat gemacht haben, für die Zeitung Republik eine Reportage aus der ostanatolischen Provinzstadt Kars zu schreiben. Dort stehen Kommunalwahlen an, bei denen sich ein Sieg des islamistischen Kandidaten abzeichnet. Und es gibt eine Selbstmordwelle unter den Mädchen der Stadt. Es heißt, sie bringen sich um, weil sie es nicht ertragen, dass sie an Schulen und Hochschulen ihre Kopftücher abnehmen müssen. Ka fährt mit einem alten Magirus-Bus über Erzurum nach Nordosten, durch Schnee und Sturm. Kaum ist er in Kars eingetroffen, ist die Stadt durch den Schneesturm von der Außenwelt abgeschlossen. Dieses Buch wird keine Reportage sein, sondern ein romantischer Roman, der seine Wirklichkeit ebenso sehr halluziniert wie mitstenografiert.
Ins dunkle Hinterland
In Orhan Pamuks Romanen spielen die Schiffe nur eine Nebenrolle. Die Hauptrolle spielen die Überlandbusse. Meist lassen sie die mediterrane Türkei mit ihren Stränden, Yachthäfen und ihrem internationalen Urlaubspublikum hinter sich. Sie fahren ins Dunkle, ins Kalte, ins abgelegene Hinterland. Denn auf der eurasischen Landkarte gehört Pamuks Türkei mindestens so sehr zum Osten wie zum Süden. Auch sein Istanbul versinkt häufig in Schnee und Kälte. In diesem Roman nun ist der Schnee im Titel angekommen, in Kars erreicht die Ost/Nordost-Zentrierung in Pamuks literarischem Kosmos ihren äußersten Vorposten. Im Namen der Stadt steckt das türkische Wort für Schnee: Kar. Und in diesem Wort der Name des Helden.
Es gibt die Stadt Kars wirklich, im Grenzgebiet weit im Osten, wo es nicht weit ist nach Georgien, Aserbeidschan, zum Iran. Ebenso unaufdringlich wie unübersehbar hat Pamuk die Geschichte dieser Stadt, die erst seit 1921 zur Türkei gehört, in seinen Roman eingezeichnet. Die Ruinen der armenischen Kirchen, die Paläste der Paschas aus dem Osmanischen Reich, die Häuser aus der Zeit der russischen Herrschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Der Dichter Ka wird so im doppelten Sinn zu einem Mann aus dem Westen. Seinen aschgrauen Mantel hat er im Kaufhof an der Frankfurter Hauptwache gekauft, und das sieht man ihm an. Aber nicht erst Westeuropa, sondern schon das bürgerliche Istanbul, aus dem er stammt, liegt von Kars aus im fernen Westen.
Die Schneewelt, in die er gerät, schimmert zweideutig. Zum einen sind Schnee und Kälte, Vereisung und Erstarrung seit je ein Symbol für die Strenge, Härte und Mitleidlosigkeit der politischen Welt, in den Winterreisen der westeuropäischen Romantik ebenso wie in den russischen Romanen des 19. Jahrhunderts. Zum anderen ist der Schnee eine alltägliche Form des Wunders, ein stilles Tuch, gewebt aus unendlich vielen Flocken mit einer kristallinen Struktur, die zum Sinnbild der Poesie taugt. Pamuks Roman nimmt beide Traditionen in sich auf. Er erzählt sowohl eine politische Parabel wie die Geschichte der Entstehung des Gedichtzyklus „Schnee”, zu dem den Dichter Ka sein Besuch in Kars inspiriert. Aber beide Geschichten laufen nicht nebeneinander her, sie durchdringen sich. Der Dichter wird in Kars zwischen die Fronten und unter den Verdacht geraten, dem Militär das Versteck eines Islamisten verraten zu haben. Er wird den Roman nicht überleben und im Frankfurter Bahnhofsviertel erschossen werden. Aus seinen Hinterlassenschaften und Notizen wird der Erzähler, der die Züge des Autors Orhan Pamuk trägt, den Stoff für seinen Roman gewinnen.
Mehrere Zitate stehen ihm als Motto voran. Eines davon stammt von Robert Browning: „Unsere Aufmerksamkeit gilt den gefährlichen Rändern der Dinge. Dem ehrlichen Dieb, dem zärtlichen Mörder, dem abergläubischen Atheisten.” Aus der Konsequenz, mit der Pamuk diesem Programm der Paradoxie und Ambivalenz die Treue hält, gewinnt er seine innere Spannung. In einer grandiosen Szene hält ein Tonband am Körper des Direktors der Pädagogischen Hochschule dessen Gespräch mit dem jungen Mann fest, der ihn am Ende als Repräsentanten und Befürworter des staatlichen Kopftuchverbotes ermordet. Seine Tat spricht gegen den Mörder. Nicht aber jeder der Sätze, mit denen er das Kopftuch verteidigte. Und nicht jedes der „Selbstmord-Mädchen” eignet sich als Symbolfigur der Selbstknechtung durch den politischen Islamismus. Manche gehen an einer unpolitischen Mischung aus Gottessehnsucht und Liebeskummer zugrunde.
Weder sind die Islamisten in diesem Roman vormoderne Gestalten noch die Anwälte des Säkularen Demokraten. Der islamistische Bürgermeisterkandidat ist ein konvertierter Marxist, im jungen Mann aus der Vorbeterschule spukt der Dämon des Atheismus, und im „verwestlichten” Dichter Ka spuken in der Melancholie des modernen Poeten sehr vitale Rückbesinnungen auf die verlorene Gottesnähe. Die Ordnungskräfte repräsentieren gegenüber den Attentätern durchaus nicht die legitime Gewalt. Bei der Aufführung eines volkspädagogischen Melodrams aus der Atatürk-Ära, in dem das Ablegen der Schleier propagiert wird, werden aus den republikanischen Bühnenfiguren reale Putschisten, die vorgeben, den Staat vor den Islamisten retten zu müssen. In diese Verklammerung von Attentat und Putsch, säkularer und islamistischer Gewalt gerät durchgängig auch die Kunst, die sich der Aufklärung verschrieben hat. Ihr zwielichtiger Statthalter ist der Schauspieler, Atatürk-Darsteller, Brecht- und Shakespeare-Bearbeiter Sunay.
Auf der Spur einer Jugendliebe
Nicht nur der Mantel des Dichters Ka ist ein russisches Motiv. Auch das Personal erinnert an die Westler, die Slawophilen und die Sozialrevolutionäre im russischen Roman des 19. Jahrhunderts. Orhan Pamuk zitiert zwar in seinen Motti Dostojewski, aber sein eigentlicher Ahnherr ist Iwan Turgenjew. Dies nicht nur wegen des Grundmusters der Rückkehr eines in den Westen Gegangenen in seine alte Heimat, sondern vor allem wegen der Verknüpfung von Gesellschaftsporträt und melodramatischer Liebesgeschichte. Fast alle in Kars, Islamisten wie Säkulare, sehen im Fernsehen die daily soap „Marianne”. Die oft abrupten Seitenwechsel und Umschwünge treibt die Liebe nicht weniger stark voran als irgendeine Gesinnung. In Wahrheit ist der Dichter Ka im schäbigen Hotel „Schneepalast” gelandet, weil es seine Jugendliebe Ipek dorthin verschlagen hat. Deren Schwester Kadife gilt als Anführerin der Kopftuch-Mädchen.
Doppelfiguren, die Turgenjews kontrastiven Charakteren nachgebildet sind, bevölkern Pamuks Roman und helfen ihm dabei, aus berechenbaren Konstellationen unberechenbare Funken zu schlagen. Virtuos und auf der Höhe der Satellitenschüsseln handhabt er ein Formmodell des 19. Jahrhunderts, um den Blick der Leser auf seine Erdkugel zu heften: auf die Türkei an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Eher als der Staat ist die türkische Literatur in Europa angekommen.
LOTHAR MÜLLER
„Der Schnee war dichter und großflockiger als der Schnee auf dem Weg von Istanbul nach Erzurum”: Straßenszene in der ostanatolischen Stadt Kars.
Foto: Manuel Çitak
Neuigkeiten aus der Türkei: Der Schriftsteller Orhan Pamuk verwandelt Zeitungsstoffe in große Romane.
Foto: Çitak
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Lothar Müller würdigt Orhan Pamuks neuen Roman als ein Stück großer - und europäischer - Literatur. Und als Teil eines weiter reichenden Projekts des Autors: "mit der Form des Romans wie mit einem magischen Auge die Türkei der Gegenwart zugleich aus der Weltperspektive und aus der Nahsicht zu erfassen". Sein Gewährsmann ist hier der Schriftsteller Ka, der 1992 aus seinem Frankfurter Exil erstmals wieder in die Türkei reist - nach Kars, einem Ort so weit im Osten des Landes, dass der Besucher gleich doppelt als jemand aus dem Westen erscheint. Und das ist nur der Beginn der Ambivalenzen: Pamuk erfasst die Türkei "an der Schwelle zum 21. Jahrhundert" als ein Land, dem mit eindeutigen Zuordnungen nicht beizukommen ist. Eingeschneit in Kars, wird der Besucher zu einem Teil von Ereignissen, in denen es um Politik und Religion geht, doch: "Weder sind die Islamisten in diesem Roman vormoderne Gestalten noch die Anwälte des Säkularen Demokraten." Und der Schnee des Titels ist nicht nur ein "Symbol für die Strenge, Härte und Mitleidlosigkeit der politischen Welt", sondern auch "eine alltägliche Form des Wunders, ein stilles Tuch, gewebt aus unendlich vielen Flocken mit einer kristallinen Struktur" - politische Parabel und Inspiration zur Poesie. Darüber hinaus trifft Ka in Kars nicht nur auf ein manchmal täuschend schillerndes politisches Mosaik, sondern auch auf seine Jugendliebe - wie Turgenjew, meint Müller, verschränkt Pamuk "Gesellschaftsporträt und melodramatische Liebesgeschichte", um ein Land "der tiefen Verzweiflung und des unbändigen Glücksverlangens" zu porträtieren.

© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein märchenhafter, politisch ahnungsvoller Blick in das verschneite 'Ende der Welt'." Volker Weidermann, Der Spiegel, 15.10.16

"Orhan Pamuks Roman ist nicht einfach das fast prophetische Epos über den Aufstieg des politischen Islams. Er ist zugleich ein poetologisches Jahrhundertwerk, das davon erzählt, wie die Kunst aus dem gewaltsamen Irrlichern der Gewalt, der Armut und der Leidenschaften entsteht und wie sie dem Chaos ihrer Ordnung entgegensetzt: als Kraft der Verwandlung." Eisabeth von Thadden, Die Zeit, 08.10.15

"Von Putschisten und Attentätern: Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk verwandelt Zeitungsstoffe in große Romane." Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung, 04.02.05

"Pamuk schreibt mit dem bitteren Humor eines Moralisten, der Absurdes entlarvt." Monika Carbe, Neue Zürcher Zeitung, 22.02.05

"Sarkastisch und mitfühlend, von scharfer Intelligenz und erzählerischer Fantasie." Eberhard Falcke, Tages-Anzeiger, 24.03.05

"... eine märchenhafte Liebesgeschichte..." Klaus Nüchtern, Falter, 24.06.05

"Der Schriftsteller Orhan Pamuk entwirft in seinem neuen Roman ein fantastisches und realistisches Bild der Türkei." Ulrich Greiner, Die Zeit, 12.05.05

"Pamuk bringt es fertig, Märchen im Reportageton zu erzählen und Zeitungsberichte in Märchen zu verwandeln ... 'Schnee' ist ein groteskes, grausames und infernalisch komisches Buch, eine politische Farce, in der man nie auf der sicheren Seite ist und stets zwischen Lachen und Weinen schwankt." Bruno Preisendörfer, Der Tagesspiegel, 03.03.05

"Reisen in das Herz der türkischen Finsternis lässt der Schriftsteller Orhan Pamuk unternehmen ... 500 Seiten lang schlägt Pamuk hochdiszipliniert Kapriolen, die jedem anderen Autor das Genick brechen würden." Jörg Plath, Frankfurter Rundschau, 16.03.05

"Die vermessene Behauptung, mit der Pamuk antritt, lautet: Es kann euch nicht egal sein, was in dem anatolischen Kaff, dessen Namen ihr nie zuvor gehört habt,vor mehr als zehn Jahren im Laufe einiger verschneiter Wintertage so oder so ähnlich geschehen sein könnte. Nach der Lektüre des Buches ist es uns tatsächlich nicht mehr egal. Das ist kein Wunder, sondern Literatur." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.05.05
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