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Orhan Pamuks neuer Roman: Panik in Anatolien
Als 1998 bei dem Internationalen Kongreß in Istanbul zu Ehren des Philosophen Ibn Ruschd (Averroes, gestorben 1198) eine Gruppe von Studentinnen trotz des Kopftuch-Verbotes innerhalb der Universität den Hörsaal mit Kopftüchern betrat, war man etwas peinlich berührt. Denn es war doch gerade Averroes, ein Aufklärer unter den islamischen Philosophen, der für die Gleichberechtigung der Frau und für den Primat der Vernunft eingetreten war. Als diese Studentinnen, während man die türkische Nationalhymne sang, dann auch noch demonstrativ schwiegen und sich nicht von ihren Stühlen erhoben, wurde im Saal gemurrt, denn jetzt war deutlich geworden, daß sie nicht nur fromme Musliminnen waren, sondern auch einen politischen Islam demonstrierten, der die Republik ablehnte.
Von Mädchen in Kopftüchern und dem sogenannten "politischen Islam" handelt auch das jüngste Buch des in Istanbul lebenden türkischen Schriftstellers Orhan Pamuk. Der Titel der vor zwei Jahren in Istanbul erschienenen Ausgabe lautet "Kar", was im Türkischen "Schnee" bedeutet, und es schneit in diesem Buch ununterbrochen. Der Ort der Handlung ist, in Anspielung auf den Titel, die Stadt Kars. Man erreicht sie nur durch schier endlose Busfahrten, wie sie Pamuk schon in seinem Roman "Das neue Leben" (1998; türkisch: "Yeni Hayat", 1994) beschrieben hatte. Kars hat etwa neunzigtausend Einwohner und liegt 1750 Meter über dem Meeresspiegel, 250 Kilometer östlich von Erzurum in Ostanatolien, an einem der Enden der Welt also.
Im achtzehnten Jahrhundert gehörte diese Stadt zu Persien. Dreimal - 1828, 1855 und 1878 - wurde sie von den Russen besetzt. Die Bevölkerung war immer eine Mischung aus Armeniern, Türken, Griechen und Russen. Erst seit 1921 gehört Kars zur Türkei. Die Stadt ist trist. Eric Ambler hätte sie als Staffage für einen seiner Romane erfinden können. Aber sie ist keine Erfindung, es gibt sie wirklich, und Pamuks Beschreibung kommt der Wirklichkeit sehr nahe. In Kars glauben die jungen Muslime, daß alle Europäer Atheisten sind. Acht Mädchen nehmen sich dort ganz unspektakulär das Leben, weil sie von ihren Eltern oder Lehrern nicht gezwungen werden wollen, in der Schule oder auf der Universität ihre Kopftücher abzulegen. Ohne weitere Worte, ohne Abschiedsbriefe erdrosseln sie sich mit ihren Kopftüchern, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Selbstmord ist im Islam verboten. Darum sind diese Selbsttötungen etwas anderes als eine fromme, im Namen der Religion verübte Tat: Sie sind politisch motiviert.
Orhan Pamuk schreibt also über den politischen Islam. Dieser wird als eine Ideologie dargestellt, die den "Westen" haßt und die Republik Atatürks ablehnt. Es kommt zu Konfrontationen zwischen den Islamisten und dem Militär, das in Studentenheime eindringt, dort völlig willkürlich um sich schießt und tötet, also Märtyrer erzeugt. Ausgangssperren werden verhängt, Verdächtige gefoltert, alle Bewohner der Stadt bespitzelt und in Angst versetzt. Die Islamisten rufen öffentlich "Gott ist groß" und zerstören dabei die Fenster von Bierhallen. Die Säkularen entgegnen "Lang lebe Atatürk" und trinken zur Aufwärmung Raki. Der allgegenwärtige Geheimdienst notiert alles, auch die Aktivitäten der Kommunisten und der Kurden, denn auch diese sind gegen den bestehenden Staat.
Der Journalist Ka, der dies alles angewidert beobachtet, ist ein Exil-Türke aus Frankfurt am Main. In den Augen der Bewohner von Kars ist er inzwischen ein "Westler". Das ganze gespenstische Treiben erinnert stark an das Geschehen in einer anderen Provinzstadt im Mittleren Osten, an Schiras während der iranischen Revolution im Winter 1978/79. Diese Assoziation wird von Pamuk selbst nahegelegt, denn in der Mitte des Buches läßt er einen Republikaner fragen, ob die Türkei jetzt nicht "den Weg Irans" gehe?
In Schiras damals rief man nicht "Lang lebe Atatürk", sondern "Lang lebe der Schah". Die Revolutionäre entgegneten "Gott ist groß" (Allahu akbar), und dann zerstörten sie Alkoholgeschäfte und Banken. Die Revolutionäre - die Frauen im Schleier oder Kopftuch, die Männer mit Bart - stürmten die Universität, um den Unterricht lahmzulegen, die Armee folgte und schoß blindlings. Damals lernte man wegzulaufen. Auch der Geheimdienst war ebenso eifrig wie in Kars, und Kommunisten wurden ebenso gefoltert wie Islamisten. Als diese schließlich gewonnen hatten, schnitten sie den lebenden Sawak-Mitgliedern die Zunge aus dem Mund. Auch in Schiras waren Kopftuch und Schleier die Zeichen des politischen Islam. Wer von den Männern einen Schlips trug, gab sich als Westler zu erkenen und lebte gefährlich. In Pamuks Kars ist es, genauso wie in Schiras, lebenswichtig, Radio- und Fernsehsender zu besetzen, um durch ganz bestimmte Musik das politische Klima zu beeinflussen. In Kars tut dies ein Sänger, der türkische Volkslieder singt, in Schiras wurde im Radio eine Platte mit deutschen Märschen abgespielt. Auch damals herrschten Unsicherheit und Angst, einerseits vor dem Militär, andererseits vor denen, die es bekämpften.
Was bei der Lektüre von Pamuks Buch nachdenklich stimmt, ist nicht so sehr die Tatsache, daß Kars Schiras so ähnlich ist, sondern die Erinnerung daran, daß in Iran die Islamisten gewonnen haben. Wie wird es in Kars ausgehen? Selbst wenn die Islamisten in der Türkei nicht gewinnen sollten, die von Ka beobachteten Republikaner mit ihren militärischen Methoden will man doch wohl auch nicht in der Europäischen Union willkommen heißen. Das politische Klima in Kars ist schmutzig - spiegelt es die wirklichen Zustände in der Türkei wider oder nur im abgelegenen Anatolien? Und will Pamuk uns davon überzeugen, daß muslimische Frauen mit Kopftuch politische Aktivistinnen sind, die die Demokratie ablehnen, daß das schlaffe Europa gegenüber diesen politisch-islamischen und militärisch-despotischen Kräften keine Chance hat?
Der Islamistenführer "Blau" bemerkt: "Europa ist nicht meine Zukunft. Solange ich lebe, werde ich die Europäer nicht nachahmen und mich auch nicht dafür hassen, daß ich anders bin als sie." Turgut Bey, ein alter Kommunist, sagt daraufhin: "Es sind nicht nur die Islamisten, die stolz auf dieses Land sind. Republikaner fühlen dasselbe." Ein demokratisches Europa wollen beide Parteien nicht. Will Europa sie denn? Kein europäischer Politiker war schon einmal in Kars, dort, wo er ungehemmt und unkontrolliert von der Zentralgewalt - die Stadt ist wegen des Schnees von der Außenwelt abgeschlossen -, die das türkische Leben bewegenden politischen Kräfte sichtbar werden. Diese Stadt ist nicht das Ankara der Diplomaten und nicht das Istanbul der Touristen. Aber Kars ist für Orhan Pamuk die Türkei. Und in Pamuks Türkei, so formuliert es "Blau", brüsten sich die Leute nur dann mit ihrem Atheismus, der Signatur ihrer "Westlichkeit", wenn sie sicher sind, daß das Militär hinter ihnen steht.
FRIEDRICH NIEWÖHNER
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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"Orhan Pamuks Roman ist nicht einfach das fast prophetische Epos über den Aufstieg des politischen Islams. Er ist zugleich ein poetologisches Jahrhundertwerk, das davon erzählt, wie die Kunst aus dem gewaltsamen Irrlichern der Gewalt, der Armut und der Leidenschaften entsteht und wie sie dem Chaos ihrer Ordnung entgegensetzt: als Kraft der Verwandlung." Eisabeth von Thadden, Die Zeit, 08.10.15
"Von Putschisten und Attentätern: Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk verwandelt Zeitungsstoffe in große Romane." Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung, 04.02.05
"Pamuk schreibt mit dem bitteren Humor eines Moralisten, der Absurdes entlarvt." Monika Carbe, Neue Zürcher Zeitung, 22.02.05
"Sarkastisch und mitfühlend, von scharfer Intelligenz und erzählerischer Fantasie." Eberhard Falcke, Tages-Anzeiger, 24.03.05
"... eine märchenhafte Liebesgeschichte..." Klaus Nüchtern, Falter, 24.06.05
"Der Schriftsteller Orhan Pamuk entwirft in seinem neuen Roman ein fantastisches und realistisches Bild der Türkei." Ulrich Greiner, Die Zeit, 12.05.05
"Pamuk bringt es fertig, Märchen im Reportageton zu erzählen und Zeitungsberichte in Märchen zu verwandeln ... 'Schnee' ist ein groteskes, grausames und infernalisch komisches Buch, eine politische Farce, in der man nie auf der sicheren Seite ist und stets zwischen Lachen und Weinen schwankt." Bruno Preisendörfer, Der Tagesspiegel, 03.03.05
"Reisen in das Herz der türkischen Finsternis lässt der Schriftsteller Orhan Pamuk unternehmen ... 500 Seiten lang schlägt Pamuk hochdiszipliniert Kapriolen, die jedem anderen Autor das Genick brechen würden." Jörg Plath, Frankfurter Rundschau, 16.03.05
"Die vermessene Behauptung, mit der Pamuk antritt, lautet: Es kann euch nicht egal sein, was in dem anatolischen Kaff, dessen Namen ihr nie zuvor gehört habt,vor mehr als zehn Jahren im Laufe einiger verschneiter Wintertage so oder so ähnlich geschehen sein könnte. Nach der Lektüre des Buches ist es uns tatsächlich nicht mehr egal. Das ist kein Wunder, sondern Literatur." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.05.05