Wie betrachtet eine heute 80jährige ihre Erinnerungen eines Mädchens? Wie sieht sie auf die 17jährige, die sie einmal war? Eine 17jährige, die in den 1960er Jahren im westdeutschen Harz aufwuchs, in der tiefsten Provinz. Mit einer schwer gezeichneten Mutter, die aus Schlesien geflüchtet war, der aus
ihrer hoffnungsvollen Jugend in der Hitlerzeit nur noch das Hinterhaus, die chronischen Schmerzen…mehrWie betrachtet eine heute 80jährige ihre Erinnerungen eines Mädchens? Wie sieht sie auf die 17jährige, die sie einmal war? Eine 17jährige, die in den 1960er Jahren im westdeutschen Harz aufwuchs, in der tiefsten Provinz. Mit einer schwer gezeichneten Mutter, die aus Schlesien geflüchtet war, der aus ihrer hoffnungsvollen Jugend in der Hitlerzeit nur noch das Hinterhaus, die chronischen Schmerzen und die Verbitterung blieb. Mit einem sich entziehenden Vater, der schrie, Gewalt ausübte und Freundinnen hatte. Mit einer kleinen Schwester, für die sie zuständig war. Mit französischen Filmen voller Sexappeal, verinnerlichten Bildern einer kockettierenden Brigitte Bardot, mit Twist, Rock and Roll, Musik, mit einem sexuellen Erwachen. Mit abwertenden Lehrern, mit faden gleichaltrigen Jungs und dem 15 Jahre älteren Musiklehrer, der eine intime Beziehung mit ihr aufnahm. Oder verführte sie ihn?
»Schneeflocken im Feuer« springt in den Zeitebenen zwischen der heutigen Dora, die auf ein Klassentreffen in den Harz fährt und ihren Erinnerungen an ihr früheres Ich. Flüssig las sich die an Ernaux erinnernde Archäologie des Selbsts, in der sich auf Distanz der 17jährigen angenähert wird. Die junge Dora posiert wie Brigitte Bardot, fühlt sich von Lehrern gekränkt, von den Eltern nicht gesehen, da entdeckt sie ihre Macht und Stärke durch männliches Begehren hindurch.
Doch der ambivalent schonungslos nüchterne Blick auf sich selbst, der mich am Anfang begeisterte, löst sich auf. Die 80jährige erzählt die Geschichte der jungen Dora zwar weiter, diese spitzt sich auch zu, doch ist sie zunehmend mit sich selbst und ihrem eigenen reaktiven Begehren auf einen ehemaligen Mitschüler beschäftigt. Eine Bewertung, ob es sich mit dem Musiklehrer um eine Missbrauchsgeschichte handelt, bei wem Macht und Verantwortung zu sehen sind, der Mutter, des Vaters und der sich durch den gesamten Text ziehenden Fixierung auf das männliche Begehren müssen wir Lesende selbst vornehmen.