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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wie sich die Globalisierung ständig neu erfindet
Der in Princeton lehrende Harold James, einer der großen Wirtschaftshistoriker unserer Zeit, hat ein optimistisches Buch über die Geschichte und Gegenwart der Globalisierung geschrieben. Das an sich ist schon eine Meldung wert, denn Liberale wir er sind in den vergangenen Jahren oft in einen Pessimismus oder gar Fatalismus verfallen, was die Gegenwart und Zukunft der globalen Wirtschaftsordnung angeht. Das Buch zeigt eindrücklich auf, dass die Geschichte der letzten 180 Jahre zahlreiche Impulse hin zu einem nicht naiven Optimismus für heute enthält.
Im Mittelpunkt des Buches stehen sieben große Krisen der globalen Wirtschaftsordnung seit den 1840er-Jahren, die James "transformativ" nennt. Das bedeutet, dass die Prozesse und Akteure der Globalisierung gerade bei großen Krisen erstaunliche Fähigkeiten gezeigt haben, sich anzupassen. Um den Begriff von James' Princeton-Kollegen Markus Brunnermeier zu verwenden, hat sich die Globalisierung beim Einschlagen vieler Schocks als resilient erwiesen.
Die große Ausnahme war die Zwischenkriegszeit, als Kriegszerstörung, Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise dazu führten, dass die nationalen und internationalen Ordnungen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft implodierten. Aber diese Ausnahme und vor allem der negative Nachfrageschock der Weltwirtschaftskrise, so James, haben durch ihr traumatisches Ausmaß zu stark den Blick auf die großen Schocks geprägt. Im Mittelpunkt des Buches stehen stattdessen negative Angebotsschocks, von der großen Hungersnot der 1840er-Jahre bis zum "großen Lockdown", wie die Pandemie und deren Folge genannt werden.
Die zentrale Kluft zwischen Nachfrage- und Angebotsschocks verortet James in den sehr unterschiedlichen Analysemethoden, die sie jeweils erfordern. Nachfrageschocks wie die Weltwirtschaftskrise sind Kontexte, in denen ein Denken in Mengen dominiert. So war es in der Diagnose von John Maynard Keynes hinsichtlich der unzureichenden aggregierten Nachfragemenge nach Gütern, aber auch in der Diagnose von Milton Friedman und Anna Schwartz hinsichtlich des unzureichenden Geldmengenangebots der Federal Reserve in den frühen 1930er-Jahren.
Bei Angebotsschocks hingegen dominiert ein Denken in Preisen. Ob beim Gründerkrach der 1870er-Jahre oder der "großen Inflation" der 1970er-Jahre: Es sind Veränderungen der relativen Preise zwischen den verschiedenen Konsum- und Kapitalgütern, die hierbei laut James im analytischen Fokus stehen. Das erkennt man in den theoriehistorischen Debatten, die mit der wirtschaftshistorischen Erzählung verwoben werden. Sowohl die marginalistische Revolution von Carl Menger, William Stanley Jevons und Léon Walras der 1870er-Jahre als auch die Revolution der rationalen Erwartungen von Robert Lucas und Thomas Sargent der 1970er-Jahre, die zur mikroökonomischen Fundierung der Makroökonomik führte und sich dabei gelegentlich auf die früheren Erkenntnisse von Friedrich August von Hayek berief, deutet James als wirkungsmächtige Antworten auf die Angebotsschocks der Zeit.
Eine Meisterleistung des Buches ist ebendiese Verknüpfung von Wirtschafts- und Theoriegeschichte. James zeigt auf, dass bei wirtschaftshistorischen Verwerfungen neue Ideen - ob von Marx, Jevons, Keynes, Schumpeter, Friedman oder Hayek - auf besonders viel Anklang stoßen. Dabei spart James auch weniger prominente, dafür umso problematischere Figuren wie Karl Helfferich nicht aus, deren biographische Kippmomente als Barometer für die ideologischen Holzwege inmitten der Schockmomente dienen.
Schockmomente sind aber auch Lernmomente, die die Resilienz für die nächste Krise stärken. Viele Akteure sind angesichts großer Krisen besonders lernwillig. Politiker und Bürger sind hierbei besonders offen für neue polit-ökonomische Ideen. Unternehmer wiederum lernen gerade dann, länger erfundene Technologien marktfähig zu machen. Dampfmaschine, Motorflugzeug, Container und mRNA-Technologie lagen als Erfindungen jahrzehntelang vor, bevor sie in Dampfschiffen, Eisenbahnen, Düsenflugzeugen, Containerschiffen und Corona-Impfstoffen für Innovationen genutzt wurden, die die Flaschenhälse des Angebotsschocks auflockerten. Wenn dieses Lernen gelingt, bringen die Schockmomente vor allem eins: tiefer greifende globale Integration. Viele staatliche und private Akteure lernen gerade unter Anpassungsschmerzen und beim Begehen schwerwiegender Fehler.
James betont, dass die großen Gefahren für die Resilienz der Ordnung durch die Machtkonzentration in den Händen weniger Akteure, ob staatlich oder privat, im Zeitverlauf immer deutlicher geworden sind. Nimmt man diese zentrale Integrationsthese ernst, so ist Integration so etwas wie die DNA der modernen globalen Wirtschaftsordnung. Protektionismus, ob in der Zwischenkriegszeit oder in der aktuellen Chinadiskussion, sieht James als Irrweg, der gegen den Wesenskern der sich ständig intensivierenden Arbeits- und Wissensteilung verstößt. Dies gilt auch, wenn die Abschottung im Gewand des Begriffes "Geopolitik" kommt, dessen problematische Geschichte er in anderen Publikationen nachgezeichnet hat.
Harold James hat ein für Laien wie Fachleute höchst empfehlenswertes Buch geschrieben. Er weist überzeugend nach, dass trotz aller Sorgen die Globalisierung weiterhin unsere Zeit prägen wird. STEFAN KOLEV
Harold James: Schockmomente. Eine Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung 1850 bis heute, Verlag Herder, Freiburg 2022, 544 Seiten, 35 Euro.
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