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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Claudia Kemfert über den fossilen Ausstieg
Ob es um die gestiegenen Preise, die verschleppte Energiewende oder die Abhängigkeit von Russland geht: Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine wird nahezu täglich über Energiepolitik diskutiert. Doch wie ist Deutschland überhaupt in diese Lage hineingeraten? Waren die Probleme von heute vorhersehbar? Und welche Konsequenzen sollten aus den Fehlern der Vergangenheit gezogen werden? All diesen Fragen geht die Ökonomin Claudia Kemfert in ihrem Buch "Schockwellen" nach. Als Professorin für Energieökonomik und Nachhaltigkeit an der Leuphana Universität Lüneburg, Abteilungsleiterin für Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung gehört sie zu den bekanntesten Energie- und Klimaforscherinnen Deutschlands, die vielfach auch aneckt.
Ihr Engagement bei den "Scientists for Future" und manch scharfe, zugespitzte Formulierung gefallen nicht jedem. Kleine Kostprobe: "Wie es der fossilen Mafia gelang, Staat und Wirtschaft zu unterwandern und die Energiewende zu verschleppen", schlug sie auf Twitter als alternative Buchunterzeile vor. Manche Kritiker werfen ihr vor, Wissenschaft mit grünem Aktivismus zu vermischen. Kemfert versteht es, ihre Thesen prägnant, allgemeinverständlich und persönlich darzustellen. Sie schildert umfangreich ihre zahlreichen Diskussionen mit Politikern, Wissenschaftskollegen und Unternehmern. Ihre Enttäuschungen, ihre Verzweiflung und immer wieder aufkeimende Motivation, aufklären zu wollen, werden deutlich. Kemfert beklagt das einseitige Verständnis von Energiesicherheit. Denn Energiesicherheit dürfe nie isoliert, sondern sollte stets in Verbindung mit sozialer Gerechtigkeit und Klimaschutz gedacht werden.
Schon seit der Ostpolitik Willy Brandts ("Wandel durch Handel") sieht sie eine stark um sich greifende Naivität der deutschen Politik, wenn es um die Partnerschaft mit Russland geht. Die Wurzel des Problems sieht Kemfert allerdings in der Kooperation von Unternehmen wie Eon und BASF mit dem russischen Staatskonzern Gazprom und dem Bau der Ostseepipelines Nord Stream 1 und 2. Schon damals habe sich abgezeichnet, dass Russland den Bau von neuen Erdgasleitungen als Teil seiner außen- und sicherheitspolitischen Strategie begreift.
Ähnlich wie bei dem ersten Projekt Nord Stream 1 hält Kemfert den Bau der Pipeline Nord Stream 2 nicht nur im Nachhinein für einen großen Fehler. Schon damals sei klar gewesen: Wenn Russland die Lieferungen stoppen sollte, fehlte es an Leitungssystemen, um osteuropäische Länder mit Alternativen zu versorgen. Und auch der Verkauf von Gasspeichern an Russland erhöhte die Abhängigkeit. Dass die Bundesregierung damals keine Pflicht für eine Gasreserve eingeführt hat, hält Kemfert ebenso für ein großes Versäumnis. Schockiert zeigt sie sich gegenüber der Ignoranz Merkels, Steinmeiers und Gabriels. Ignoranz gegenüber den Warnungen der Wissenschaft, osteuropäischer Partner, der EU-Kommission und der USA.
Außerdem: All die fatalen Partnerschaften und Geschäftsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland hätten im Ukrainekrieg nicht diese Wucht entfachen können ohne die verschleppte Energiewende. Dass Kemfert einst für Atomkraft und LNG-Terminals warb, bezeichnen manche Kritiker als Wendigkeit. Sie selbst versucht, diesen Widerspruch aufzulösen. Atomkraft wäre für Kemfert vor 15 Jahren eine Option gewesen - vorausgesetzt, die Politik wäre schneller aus der Kohlekraft ausgestiegen und hätte die erneuerbaren Energien beherzter ausgebaut. Aufgrund der jahrzehntelangen Nutzungsdauer hätten sich damals aus ihrer Sicht auch LNG-Terminals gelohnt.
Bei diesem Thema kommt es zu einer Seltenheit: Kritik an den Grünen. Wenn auch ohne namentliche Nennung. Denn Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ließ mehrere LNG-Terminals bauen, auch um perspektivisch grünen Wasserstoff importieren zu können. Abgesehen davon betont Kemfert bisweilen in der Manier einer Oberlehrerin immer wieder, die Grünen (und natürlich sie selbst) hätten es besser gewusst. Was bezogen auf Russland und die Relevanz der Energiewende wohl auch stimmt. Angela Merkel und Sigmar Gabriel wirft sie vor, kein Interesse an einem zügigen fossilen Ausstieg gehabt zu haben. Und die Subventionen in Milliardenhöhe für Atom, Gas und Kohle seien unter den Tisch gekehrt worden. Mehr noch: Ein Netzwerk aus Lobbyisten und Pseudowissenschaftlern habe eine Kampagne gegen die Energiewende initiiert. Bundeskanzler Olaf Scholz nimmt sie ebenso in die Mangel. Ein Energieembargo hätte Kemfert zufolge ein früheres Ende des Krieges bewirken können. Daher stört sie sich gewaltig an der Kritik von Olaf Scholz an wissenschaftlichen Modellrechnungen, die nahelegten, dass Deutschland ein Energieembargo hätte verkraften können.
Auch wenn sie sich manchmal im Ton vergreift (das "Volk" fühle sich durch missverständliche Kommunikation der Regierung betrogen), brilliert Kemfert darin, die Fehler der deutschen Politik und Wirtschaft in einer packenden Erzählweise aufzuzeigen. Die verschleppte Energiewende und die Naivität gegenüber Putin werden als Sündenfall in die deutsche Geschichte eingehen. FELIX SCHWARZ
Claudia Kemfert: Schockwellen. Letzte Chance für sichere Energien und Frieden. Gebundene Ausgabe, Campus Verlag, Frankfurt / New York 2023, 310 Seiten, 26 Euro.
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