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© BÜCHERmagazin, Jeanne Wellnitz (jw)
Philipp Tingler verhöhnt in "Schöne Seelen" die feine Zürcher Gesellschaft und spreizt als Romancier selbst den kleinen Finger
Philipp Tingler hat Wirtschaftswissenschaften in St. Gallen und London studiert und über Thomas Manns Beziehung zum transzendentalen Idealismus promoviert, er seziert in seinen Romanen die feinen Unterschiede zwischen dem alten Geldadel Zürichs und dem deutschen Protzbürgertum, gibt in Frauenillustrierten Stil- und Lebenshilfeberatung und belebt neuerdings auch den Schweizer Literaturclub mit seinen scharfzüngigen Einwürfen und unschweizerisch direkten Verrissen. Tinglers blasierter Dandyschriftsteller Oskar Canow, zuletzt in der Doktor-Faustus-Travestie "Dr. phil" (2010) Stil- und Modeberater des Teufels, teilt mit Oscar Wilde den Vornamen und mit dem Autor das Bewusstsein, gleichzeitig dazuzugehören und "wesensmäßig draußen" zu sein. Tingler ist Schweizer ehrenhalber, Mitglied, Hofnarr, Alltagsethnologe, mit einem Wort: nicht ganz unbestechlicher Beobachter einer Welt, in der gepflegte Indolenz und graziöse Langeweile zu Hause sind.
Tingler schreibt wie die Wiedergeburt von Thomas Mann und Oscar Wilde im Zeitalter der Diptyque-Duftkerzen und Jimmy-Choo-Stilettos; böse Zungen nannten ihn darum schon mal "Paris Hilton des Literaturbetriebs". Tatsächlich kann er wie ein alter Meister verschnörkelte, mit gravitätischer Ironie bestreute Satzgirlanden drechseln und geistreiche, leicht parfümierte Bonmots am Fließband produzieren. Seine Sittenbilder und Porträts der Goldküstenschickeria sind oft amüsant und witzig. In "Schöne Seelen" treten unter anderen auf: vornehme Giftspritzen und "Botox-Barbies", Banker, Kunsthändler und Honorarkonsule wie aus einem Suter-Roman, angesagte Schönheitschirurgen und Seelenklempner wie Doktor Hofstädder. Ronaldo Riviera, der Designer der Saison, heißt eigentlich Thorsten Mischwitzky und begann als Schaufensterdekorateur in Wuppertal.
Als leichte Gesellschaftssatire aus dem "Milieu der Nerze und Narkotika" hat Tinglers Roman seine Meriten, aber auf die Dauer nervt die flamboyante Kreuzung aus Klatsch, Tand und affektierter Geschmackskritik ("Die Vorliebe für Monogramme ist very middle class") dann doch. Ohne Plan und erzählerische Ökonomie, aber mit jeder Menge Redundanzen und Wiederholungen türmt Tingler über mehr als dreihundert Seiten hinweg geistreichelnde Dialoge und mehr oder weniger epigrammatische Sentenzen aufeinander: "Alle wichtigen Wahrheiten sind common sense."
Der Anfang ist nicht einmal schlecht, ein Todesfall in der Schönheitsklinik, wie von P. G. Wodehouse oder Evelyn Waugh gemalt. Millwa Van Runkle haucht mit dem letzten Wort "Wenigstens sterbe ich reich" ihre nicht sehr schöne Seele aus, weil Thrombosestrümpfe partout nicht zu ihren Massaro-Pantoffeln passten. An ihrem Totenbett plaudern Freunde und Feinde über gescheiterte Schönheitsoperationen, Diäten, Therapien und andere missglückte Selbstoptimierungsversuche. Leider kommt nach dieser Eröffnung nichts mehr, außer noch mehr Botox- und Psychiaterwitzen und Aphorismen. Das Bonmot "Ich hatte mal 'ne Panikattacke, weil ich mit dem Kopf in einem Prada-Pullover steckengeblieben bin, und das hier ist schlimmer" hält Tingler offenbar für so gelungen, dass er es als Romanmotto auskoppelte.
"Schöne Seelen" hat auch eine Art Handlung, aber sie ist nur ein Vorwand für Tingler, um seine Vertrautheit mit Spinoza, Nietzsche, Freud, Jung, guten Manieren und schönen Sächelchen auszustellen, Kolumnen noch einmal zu verwerten und längliche Vorträge über Kreativität und Neurose einzuflechten: Oskar unterzieht sich stellvertretend für seinen Freund Viktor einer Therapie. Alle profitieren davon: Der Schriftsteller bekommt neue Inspiration für sein leicht kränkelndes Genie, Hofstädder endlich einen Gesprächspartner, der seinen Psychotricks gewachsen ist, Viktor Zeit für sein Hobby, die Laienschauspielerei im Seniorenzentrum. Auf dem Erste-Klasse-Rückflug von Las Vegas nach Zürich macht sich Oskar am Ende ein paar erstklassige Gedanken über den VIP-Lounge-Pöbel und das Schöne an der Ironie in der "postmetaphysischen Trivialität der Spätmoderne": "Ironie ist die weltlichste Form der Transzendenz überhaupt, doch zugleich hinausweisend über ihre Weltlichkeit, darinnen liegt ihre Spiritualität."
Tingler schreibt tatsächlich "darinnen" und "worinnen" und spreizt auch sonst gern den kleinen Finger des extravaganten Snobs. Seine Damen tragen so drollige Namen wie Mopsi van Starnberg, Gwendolyne Rosenstock und Ormula von Doren, nennen ihre Freunde Chickie oder Schätzelchen, und wenn ihnen "schauderös zumute" ist, entringen sich "dunkle Seufzer aus der Tiefe ihres Busens". Die Herren treffen sich derweil zum Prinz-von-Wales-Cocktail in der Kronenhallenbar und lachen das "grausame Lachen der Eingeweihten": "Mit Ziererei und Affenposen kommt man leidlich durchs Leben, sofern man liquide ist.
Das Chichi und Blabla dieser geschmacklosen, hässlichen, oberflächlichen Welt beleidigt schöne Seelen und intelligente Köpfe. Was ist das nur für eine "Gesellschaft, in der alle unaufhörlich sprechen mussten, weshalb sie Begriffe durch Worte ersetzen und Gefühle durch Redensarten, eine Gesellschaft, in der kein Gefühl dem Strudel der Dinge und Dinglichkeiten widersteht, in der Liebe und Hingabe nur ein Wunsch, eine vage Vorstellung waren, sofern sie sich nicht auf Dinge bezogen (oder kleine Hunde), und Hass und Abscheu nur Launen. Es gab keinen treueren Begleiter dort als die American Express Centurion, keinen wahreren Freund als den Doktor mit der Spritze voll Botulinumtoxin." Gut gebrüllt, Gesellschaftslöwe, aber transzendentale Ironie ist noch keine schöne Literatur.
MARTIN HALTER
Philipp Tingler: "Schöne Seelen". Roman.
Verlag Kein & Aber, Zürich 2015. 333 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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