Lydia, Melanie, Tomas, Kati. Sie alle sind Schüler eines Elitegymnasiums der DDR. Während sie mit glühenden Augen Boris Vian lesen und abends im "Reimans" ihr neues Theaterstück diskutieren, erleben sie, wie der Mauerfall sie schlagartig von ihrer Vergangenheit trennt. Schwankend zwischen Hass, Verweigerung und Euphorie hören sie die Beteuerungen ihrer Eltern, dass alles ganz normal sei, die Politik, der Zusammenbruch. Jeder von ihnen reagiert anders auf die Explosion im Herbst 1989, Demut, Suizid und erwachendes Selbstbewusstsein stehen auf verwirrende Weise nebeneinander. Als wir den jugendlichen Helden dreißig Jahre später wieder begegnen, stellen sich angesichts unterschiedlichster Schicksale große Fragen: Welcher Freiheit jagen wir eigentlich nach? Und wie lange bleibt die Vergangenheit für jeden einzelnen von Bedeutung? - Julia Schoch macht den historischen Umbruch in privaten Leben erfahrbar. Und schreibt damit einen beeindruckenden Gesellschaftsroman für unsere Zeit.
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buecher-magazin.de"Sie sind infiziert mit dem Gift alter Zeiten", sagt Bodo Stamm, eine der Hauptfiguren von Julia Schochs neuem Roman. Was Bodo hier über seine Freunde sagt, mit denen er ein Internat in der DDR besucht hat, könnte das Motto von "Schöne Seelen und Komplizen" sein. Denn hier geht es um die gemeinsame Vergangenheit einer Gruppe Jugendlicher, die die letzten Wochen der DDR und die ersten Jahre des Neuanfangs erlebt haben und dies aus der jeweils eigenen Perspektive schildern. Julia Schoch, Jahrgang 1974, distanziert sich wohltuend von den Geschehnissen, mit denen ihre Protagonisten konfrontiert werden. Das Jahr 1989 bedeutet für die Schüler einer Eliteschule das Ende aller Zukunftspläne, Träume und Visionen und zugleich die Herausforderung, alles das neu zu definieren. Eine gewaltige Aufgabe für Lydia, Ruppert, Alexander, Kati und den schon zitierten Bodo, von dem auch der schöne Satz stammt: "Die Vergangenheit ist das, was fehlt, wenn man in einen Raum zurückkommt, den man gerade verlassen hat." Wie sehr die Vergangenheit nachwirkt, dokumentiert ein Klassentreffen heute. Keiner vermag sich ganz zu lösen vom Damals. Doch will man sich wirklich davon befreien oder sollte das nicht als Teil des Ichs erhalten bleiben?
© BÜCHERmagazin, Margarete von Schwarzkopf (mvs)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.02.2018Ich glaube, mit Verrat fängt alles an
Jugend ohne Ort: Julia Schoch hat einen einfühlsamen Roman über jene Generation von Ostdeutschen geschrieben, die mit dem Mauerfall erwachsen wurde.
Julia Schoch ist eine Virtuosin des Erinnerungserzählens, konziser Lebensrückblicke, mit deren Hilfe sie auf ebenso leichte wie kluge Weise unsere Gesellschaft zu porträtieren versteht, ohne vom Privaten abzugehen. Die Protagonisten dieser Autorin, die aus Bad Saarow stammt und in Potsdam lebt, besitzen fast immer eine ostdeutsche Identität. Ihr neuer Roman nimmt Menschen in den Blick, die der Mauerfall - wie Schoch selbst - mitten in der Adoleszenz traf. Mit dem atemberaubend schnell abgewickelten realsozialistischen System verschwand auch ihre Verortung in der Geschichte, eine Entwurzelung, die sie mehr als der Sozialismus (oder Sartre) zu Komplizen machte. Mit großer Menschenkenntnis und psychologischem Gespür sucht die Autorin in den Biographien heutiger Mittvierziger nach Langzeitfolgen dieser Erschütterung des Urvertrauens in die Gemeinschaft.
In Motivik und intimer Erzählweise schließt das Buch an Schochs vorhergehende Werke an, ist aber weiter gefasst. Statt der Vertiefung in eine (gescheiterte) Einzelbeziehung haben wir diesmal ein Panoptikum vor uns: "Schöne Seelen und Komplizen" ist ein Generationenroman im vollen Wortsinn, nimmt sich kaleidoskopisch eine ganze Schulklasse eines DDR-Elitegymnasiums zum Gegenstand. Allein sechzehn Ich-Erzähler treten auf, zahlreiche weitere Figuren begegnen uns in den miteinander verwobenen Berichten. Ein Unterschied zu den früheren Büchern besteht auch darin, dass wir sämtlichen Erzählern zu zwei Zeitpunkten begegnen, in der Gegenwart - hier hat die Retrospektion ihren Platz - und im Moment der weltgeschichtlichen Umwälzungen von 1989 bis 1992, die den mit ersten Liebeserfahrungen vollauf beschäftigten Zeitgenossen freilich kaum als solche erscheinen.
Lydia etwa kehrt wie betäubt von ihrem ersten Ausflug in den Westen zurück, nicht weil sie der Kapitalismus überwältigt hätte, sondern weil sie im Bus den zuvor ob seines Dissidentenhabitus angehimmelten Jungregisseur Arno mit einer Rothaarigen entdeckt hat, ein Verrat, der auf ihren Verrat an Tomas folgte, der Beginn eines Lebens auf der Lauer: "Ich glaube, mit Verrat fängt alles an." Die ersten Seiten des Romans spielen noch vor dem Mauerfall, und obwohl es die letzten Atemzüge der DDR sind, ist noch alles da: Das Regime überwacht und straft nach alter Herren Manier. So muss sich Ruppert vor dem obrigkeitstreuen Schulrektor und zwei Überwachern für einen falschen Satz verantworten, ein anderer Lehrer versucht, den widerstrebenden Alexander mit Nachdruck für den Armeedienst zu rekrutieren: "Diplomlehrer für Deutsch/Geschichte, das wäre doch eine tolle Kombination für dich, rief er, das wirst du doch nicht aufs Spiel setzen."
Die fröhlich pubertierenden Schüler indes bilden trotz aller jugendlichen Intrigen eine verschworene Gemeinschaft, in der selbst eine belächelte Systemverteidigerin wie Kati - ihr Vater ist ein hohes Tier in der Partei - ihren Platz hat. Die Wende ist in ihrem Koordinatensystem nur indirekt zu bemerken, auch weil der Schulunterricht einfach weiterläuft. Allerdings werden nun mehr und mehr Lehrer ausgetauscht, und das zuvor Gelernte gilt zu großen Teilen als wertlos. Der neue Rektor aus dem Westen erweist sich auf seine Weise freilich ebenfalls als Überwacher. Dass sie eine Zeitenwende erleben, kommt den Jugendlichen immer wieder schockartig zu Bewusstsein, wenn etwa Martin der Amerikanerin Megan erklärt: "Es gibt keine Mütter und Väter mehr . . . Seit dem Mauerfall lebt jeder sein Leben." Und Vivien, von Liebeskummer umwölkt, erkennt bereits die Gefahr, dass man den Umbruch auch als Rechtfertigung wird nutzen können: "alles, was uns später nicht gelingt, das ganze öde Leben, schieben wir einfach auf jetzt, auf das, was gerade abläuft um uns herum."
In der Tat lässt sich diese Strategie im zweiten Teil des Buches wiederfinden, wenngleich nicht bei sämtlichen Protagonisten. Zumal ihnen vieles gut gelungen ist. Die im Osten für sie vorgesehene Kader-Karriere haben die meisten schlicht auf westliche Weise verwirklicht. Sie sind Paradevertreter egozentrischer Bürgerlichkeit geworden, einige glücklich, andere nicht. Was jedoch alle eint, ist das geheime Band der annullierten Jugend. "Sie haben alle aus demselben vergifteten Brunnen getrunken. Sie sind infiziert mit dem Gift der alten Zeit", fasst es der genialische Autist Bodo zusammen. Mehr staunend als melancholisch blicken die nicht mehr jungen und noch nicht alten Helden nun auf ihr eben noch so klaffend offenes, aber dann meist in Richtung Paareinsamkeit verunfalltes Leben, das vom Ende her gesehen wie ein mit schlafwandlerischer Sicherheit abgeschrittener Schneckenweg anmutet, der in immer enger werdenden Zirkeln um eine leere Mitte führt, in die man früher oder später hineinstürzen wird. Halt sucht man da wieder aneinander.
Für jede dieser Figuren einen eigenen, absolut glaubhaften Ton gefunden zu haben macht den Wert des Buches aus. Dass Kati auch ein Vierteljahrhundert später noch verängstigt damit rechnet, ein Komplott werde gegen sie geschmiedet, ist so nachvollziehbar wie Franziskas Verzweiflung an ihrem schwäbischen Ehemann ("das Gefühl, ich würde meine Vergangenheit verraten, wenn ich sein Urteil unterstützte"), Stefanies Frage, was von ihren Erfahrungen "überhaupt brauchbar ist", oder die Organisationsobsession Rebekkas, die auch in der wiedervereinigten Republik an der "schrecklichen Ergebenheit der Menschen" leidet. Mit Bindungen haben hier fast alle ihre Probleme, aber darin unterscheiden sie sich kaum von ihren Zeitgenossen aus dem Westen. Das Gefühl, von der "Weltgeschichte verfolgt" zu werden, kann wie bei Lydia schließlich auch dazu führen, gerade deshalb an einer Beziehung, deren Feuer erloschen ist, festzuhalten.
Nicht zufällig geht es auf den letzten Seiten um Fotografien. Sie können das Verschwinden der Zeiten nicht aufhalten, aber sichtbar machen. Der Fotograf Stephen Shore schaffe es gar, versichert uns Ellen, vorausschauend melancholisch zu fotografieren. Aber mehr noch, er entdecke in dem bevorstehenden Untergang wieder einen Anfang, in diesem Fall einen Jungen am Fenster. Etwas Ähnliches versucht - von der anderen Seite her - diese stilsichere Erzählung, die damit weit mehr ist als ein Wenderoman mit Epilog. Sie unterscheidet sich etwa von Peter Richters "89/90" nicht nur durch die stärkere literarische Durchformung und eine größere Empathie für die Figuren (hier marodieren keine Skinhead-Banden durch rechtsfreie Räume), sondern vor allem durch die Ausrichtung aufs Grundsätzliche: kein Schnappschuss, sondern eine Langzeitbelichtung, auf der Glück und Unglück, Erwartung und Kompromisse, Eros und Karrieren abstrakte Muster bilden, aber dabei eine tiefere Sehnsucht sichtbar machen. Trotz einiger arg prononcierter Bezüge - muss Alexander als Historiker ausgerechnet einen Vortrag mit dem Titel "The German Unification - a Myth?" halten? - ist die innere Konsistenz dieses vielstimmigen Ringens mit der fast zu großen, jede Rückbindung abgetrennt habenden Freiheit beeindruckend, ja, geradezu erhellend.
OLIVER JUNGEN
Julia Schoch: "Schöne Seelen und Komplizen". Roman.
Piper Verlag, München 2018. 314 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jugend ohne Ort: Julia Schoch hat einen einfühlsamen Roman über jene Generation von Ostdeutschen geschrieben, die mit dem Mauerfall erwachsen wurde.
Julia Schoch ist eine Virtuosin des Erinnerungserzählens, konziser Lebensrückblicke, mit deren Hilfe sie auf ebenso leichte wie kluge Weise unsere Gesellschaft zu porträtieren versteht, ohne vom Privaten abzugehen. Die Protagonisten dieser Autorin, die aus Bad Saarow stammt und in Potsdam lebt, besitzen fast immer eine ostdeutsche Identität. Ihr neuer Roman nimmt Menschen in den Blick, die der Mauerfall - wie Schoch selbst - mitten in der Adoleszenz traf. Mit dem atemberaubend schnell abgewickelten realsozialistischen System verschwand auch ihre Verortung in der Geschichte, eine Entwurzelung, die sie mehr als der Sozialismus (oder Sartre) zu Komplizen machte. Mit großer Menschenkenntnis und psychologischem Gespür sucht die Autorin in den Biographien heutiger Mittvierziger nach Langzeitfolgen dieser Erschütterung des Urvertrauens in die Gemeinschaft.
In Motivik und intimer Erzählweise schließt das Buch an Schochs vorhergehende Werke an, ist aber weiter gefasst. Statt der Vertiefung in eine (gescheiterte) Einzelbeziehung haben wir diesmal ein Panoptikum vor uns: "Schöne Seelen und Komplizen" ist ein Generationenroman im vollen Wortsinn, nimmt sich kaleidoskopisch eine ganze Schulklasse eines DDR-Elitegymnasiums zum Gegenstand. Allein sechzehn Ich-Erzähler treten auf, zahlreiche weitere Figuren begegnen uns in den miteinander verwobenen Berichten. Ein Unterschied zu den früheren Büchern besteht auch darin, dass wir sämtlichen Erzählern zu zwei Zeitpunkten begegnen, in der Gegenwart - hier hat die Retrospektion ihren Platz - und im Moment der weltgeschichtlichen Umwälzungen von 1989 bis 1992, die den mit ersten Liebeserfahrungen vollauf beschäftigten Zeitgenossen freilich kaum als solche erscheinen.
Lydia etwa kehrt wie betäubt von ihrem ersten Ausflug in den Westen zurück, nicht weil sie der Kapitalismus überwältigt hätte, sondern weil sie im Bus den zuvor ob seines Dissidentenhabitus angehimmelten Jungregisseur Arno mit einer Rothaarigen entdeckt hat, ein Verrat, der auf ihren Verrat an Tomas folgte, der Beginn eines Lebens auf der Lauer: "Ich glaube, mit Verrat fängt alles an." Die ersten Seiten des Romans spielen noch vor dem Mauerfall, und obwohl es die letzten Atemzüge der DDR sind, ist noch alles da: Das Regime überwacht und straft nach alter Herren Manier. So muss sich Ruppert vor dem obrigkeitstreuen Schulrektor und zwei Überwachern für einen falschen Satz verantworten, ein anderer Lehrer versucht, den widerstrebenden Alexander mit Nachdruck für den Armeedienst zu rekrutieren: "Diplomlehrer für Deutsch/Geschichte, das wäre doch eine tolle Kombination für dich, rief er, das wirst du doch nicht aufs Spiel setzen."
Die fröhlich pubertierenden Schüler indes bilden trotz aller jugendlichen Intrigen eine verschworene Gemeinschaft, in der selbst eine belächelte Systemverteidigerin wie Kati - ihr Vater ist ein hohes Tier in der Partei - ihren Platz hat. Die Wende ist in ihrem Koordinatensystem nur indirekt zu bemerken, auch weil der Schulunterricht einfach weiterläuft. Allerdings werden nun mehr und mehr Lehrer ausgetauscht, und das zuvor Gelernte gilt zu großen Teilen als wertlos. Der neue Rektor aus dem Westen erweist sich auf seine Weise freilich ebenfalls als Überwacher. Dass sie eine Zeitenwende erleben, kommt den Jugendlichen immer wieder schockartig zu Bewusstsein, wenn etwa Martin der Amerikanerin Megan erklärt: "Es gibt keine Mütter und Väter mehr . . . Seit dem Mauerfall lebt jeder sein Leben." Und Vivien, von Liebeskummer umwölkt, erkennt bereits die Gefahr, dass man den Umbruch auch als Rechtfertigung wird nutzen können: "alles, was uns später nicht gelingt, das ganze öde Leben, schieben wir einfach auf jetzt, auf das, was gerade abläuft um uns herum."
In der Tat lässt sich diese Strategie im zweiten Teil des Buches wiederfinden, wenngleich nicht bei sämtlichen Protagonisten. Zumal ihnen vieles gut gelungen ist. Die im Osten für sie vorgesehene Kader-Karriere haben die meisten schlicht auf westliche Weise verwirklicht. Sie sind Paradevertreter egozentrischer Bürgerlichkeit geworden, einige glücklich, andere nicht. Was jedoch alle eint, ist das geheime Band der annullierten Jugend. "Sie haben alle aus demselben vergifteten Brunnen getrunken. Sie sind infiziert mit dem Gift der alten Zeit", fasst es der genialische Autist Bodo zusammen. Mehr staunend als melancholisch blicken die nicht mehr jungen und noch nicht alten Helden nun auf ihr eben noch so klaffend offenes, aber dann meist in Richtung Paareinsamkeit verunfalltes Leben, das vom Ende her gesehen wie ein mit schlafwandlerischer Sicherheit abgeschrittener Schneckenweg anmutet, der in immer enger werdenden Zirkeln um eine leere Mitte führt, in die man früher oder später hineinstürzen wird. Halt sucht man da wieder aneinander.
Für jede dieser Figuren einen eigenen, absolut glaubhaften Ton gefunden zu haben macht den Wert des Buches aus. Dass Kati auch ein Vierteljahrhundert später noch verängstigt damit rechnet, ein Komplott werde gegen sie geschmiedet, ist so nachvollziehbar wie Franziskas Verzweiflung an ihrem schwäbischen Ehemann ("das Gefühl, ich würde meine Vergangenheit verraten, wenn ich sein Urteil unterstützte"), Stefanies Frage, was von ihren Erfahrungen "überhaupt brauchbar ist", oder die Organisationsobsession Rebekkas, die auch in der wiedervereinigten Republik an der "schrecklichen Ergebenheit der Menschen" leidet. Mit Bindungen haben hier fast alle ihre Probleme, aber darin unterscheiden sie sich kaum von ihren Zeitgenossen aus dem Westen. Das Gefühl, von der "Weltgeschichte verfolgt" zu werden, kann wie bei Lydia schließlich auch dazu führen, gerade deshalb an einer Beziehung, deren Feuer erloschen ist, festzuhalten.
Nicht zufällig geht es auf den letzten Seiten um Fotografien. Sie können das Verschwinden der Zeiten nicht aufhalten, aber sichtbar machen. Der Fotograf Stephen Shore schaffe es gar, versichert uns Ellen, vorausschauend melancholisch zu fotografieren. Aber mehr noch, er entdecke in dem bevorstehenden Untergang wieder einen Anfang, in diesem Fall einen Jungen am Fenster. Etwas Ähnliches versucht - von der anderen Seite her - diese stilsichere Erzählung, die damit weit mehr ist als ein Wenderoman mit Epilog. Sie unterscheidet sich etwa von Peter Richters "89/90" nicht nur durch die stärkere literarische Durchformung und eine größere Empathie für die Figuren (hier marodieren keine Skinhead-Banden durch rechtsfreie Räume), sondern vor allem durch die Ausrichtung aufs Grundsätzliche: kein Schnappschuss, sondern eine Langzeitbelichtung, auf der Glück und Unglück, Erwartung und Kompromisse, Eros und Karrieren abstrakte Muster bilden, aber dabei eine tiefere Sehnsucht sichtbar machen. Trotz einiger arg prononcierter Bezüge - muss Alexander als Historiker ausgerechnet einen Vortrag mit dem Titel "The German Unification - a Myth?" halten? - ist die innere Konsistenz dieses vielstimmigen Ringens mit der fast zu großen, jede Rückbindung abgetrennt habenden Freiheit beeindruckend, ja, geradezu erhellend.
OLIVER JUNGEN
Julia Schoch: "Schöne Seelen und Komplizen". Roman.
Piper Verlag, München 2018. 314 S., geb., 20,- [Euro].
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»Ein luzides, vielstimmiges Buch über die Politik im einzelnen Leben.« Berliner Zeitung 20180707