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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Leistungsoptimierung im real existierenden Sozialismus: Ines Geipel schildert, wie die Raumfahrtmedizin der DDR den Körper erforschte.
Raumfahrt hatte für den marxistisch inspirierten Staatssozialismus nicht nur ökonomische, militärische und propagandistische Bedeutung. Sie war auch ein ideologisch-utopisches Projekt. Die "Eroberung des Weltalls" führte den real existierenden Sozialismus an seine verschwiegenen futuristischen Wurzeln, an die etwa der "Sieg über die Sonne" anknüpfte, die Oper des Autorenkollektivs um Kasimir Malewitsch und Welimir Chlebnikov.
Seither war es ein unterschwellig mitlaufender Nebensinn sozialistischer Revolution, nicht nur anders zu wirtschaften und Politik zu treiben als in den Jahrtausenden zuvor, sondern auch einen neuen Menschen zu schaffen: neue Innenwelten und neue Körper. "Der Mensch wird unvergleichlich stärker, klüger, feiner werden. Sein Körper - harmonischer, seine Bewegungen - rhythmischer, seine Stimme - musikalischer; die Formen des Seins werden eine dynamische Theatralik gewinnen. Der menschliche Durchschnitt wird sich bis zum Niveau eines Aristoteles, Goethe, Marx erheben. Über diesen Berggrat werden sich neue Gipfel erheben." So lauten die letzten Sätze von Leo Trotzkis Aufsatz "Literatur und Revolution" aus dem Jahr 1923. Aber ein Widerhall dieses transhumanistischen Umgestaltungsimpulses findet sich noch in dem bekannten Wort von Trotzkis Todfeind Stalin über die Schriftsteller als "Ingenieure der Seele".
Dass es besonders im Umkreis der sozialistischen Weltraumeroberung auch Ingenieure des Körpers gab, rückt das neue Buch der Sportlerin, Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ines Geipel in den Blick. Sie ist eine Art lebendes Beispiel für die Eingriffe des sozialistischen Staats in den Körper. Nach ihrem eigenen Zeugnis war sie als Leichtathletin selbst von ihnen betroffen. Bekannt wurde sie durch ihr publizistisch-politisches Engagement für die Dopingopfer der DDR-Sportpolitik. Deren Funktionäre verabreichten Athleten leistungssteigernde Medikamente mit langfristig fatalen Nebenwirkungen. Der Medaillensegen, der über dem sozialistischen Neuen Menschen niederging, propagierte die Überlegenheit des Sozialismus und seiner Gesellschaftsordnung. Der sozialistische Sportler war ein pharmakologisch auf Betriebshöhe gepimpter Übermensch.
Ines Geipels neue Recherche verlängert ihr sportpolitisches Engagement auf ein neues Untersuchungsfeld: das der sozialistischen Raumfahrtmedizin. Anstoß ist die Begegnung mit einem Mann, den sie später nicht mehr wiederfindet. Er kommt nach einer Lesung auf sie zu und behauptet, während der DDR-Zeit durch geheime medizinische Forschungen im Zusammenhang mit dem Raumfahrtprogramm der RGW-Staaten geschädigt worden zu sein. Geipel zeichnet die Aktenstudien, Begegnungen, Aufschlüsse und Erkenntnisprozesse nach, die nach dieser Begegnung im Freiburger Militärarchiv und in ostdeutschen Archiven zu den weltraumbiologischen Forschungen der DDR zustande gekommen sind. Auf literarisch reizvolle Weise entsteht ein unheimliches Bild.
Wie die sozialistische Wirtschaft ging die biotechnologische Grundlagenforschung des Ostblocks arbeitsteilig vor. Die im internationalen Vergleich avancierte DDR-Medizin untersuchte - vor allem an einer Militärärztlichen Akademie in Greifswald und in einem geheimen Militärlazarett in Bad Saarow - die Auswirkungen von Schwerelosigkeit, sensorischer Depravation und Orientierungsverlust auf den menschlichen Organismus. Die Ergebnisse liefen darauf hinaus, dass der Aufenthalt im Weltraum außerordentlich ungesund ist. Muskelschwund, Kreislaufzusammenbrüche, Depressionen, Schädigungen des Immunsystems und Verlust der weiblichen Reproduktionsfähigkeit sind auf Weltraumreisen unvermeidlich. Die Folgen längerer Flüge hätten nur mit einem Hyperdoping kompensiert werden können, dessen Folgen noch ruinöser gewesen sein dürften als die Körpertechnologie im Interesse des sozialistischen Sports.
Die unheimliche Wirkung ihres Buchs wird noch dadurch gesteigert, dass Ines Geipel verschiedene Infragestellungen ihrer schriftstellerischen und sportpolitischen Integrität - sie tauchten eben zu der Zeit auf, als sie an "Schöner Neuer Himmel" arbeitete, und der "Spiegel" machte sie zum Veröffentlichungszeitpunkt einer größeren Öffentlichkeit bekannt - als bedrohliches Störgeräusch in die Schilderung ihrer Recherchereisen einbaut. So entsteht die Anmutung eines aus verdeckten Hintergründen heraus immer noch angriffslustigen Frankenstein-Kartells aus DDR-Medizinern und Geheimdienstleuten. Ob hier berechtigte Zweifel an der Autorin mithilfe eines schauerliterarischen Kniffs abgewehrt worden sind, ist eine Frage, die über dem Buch schwebt, aber im Rahmen einer Rezension nicht entschieden werden kann.
Die unheimlichen Rechercheergebnisse entwertet diese Frage jedoch ebenso wenig wie die geschilderten politischen Problemlagen und Geipels prägnanten essayistisch-autobiographischen Stil. Zu den faszinierenden Perspektiven, die sich aus ihrem Buch ergeben, gehört nicht zuletzt die Überlegung, ob angesichts der Versuche, die Eroberung des Weltraums privatwirtschaftlich und touristisch wiederaufleben zu lassen - jüngst durch den Unternehmer Elon Musk -, eine "Familienähnlichkeit" zwischen sozialistischen und neoliberalen Selbstoptimierungsmethoden, Cyborg-Träumereien und Mensch-Maschine-Verwechslungen entstanden sein könnte, von der sich Leo Trotzki nichts hätte träumen lassen, als er den Übermenschen der kommunistischen Zukunft vorhersagte. "Über diesen Berggrat werden sich neue Gipfel erheben" - das war im Jahr 1923 ein vielleicht prophetischer Satz. Jedenfalls aber ein unerfreulicher. STEPHAN WACKWITZ
Ines Geipel: "Schöner Neuer Himmel". Aus dem Militärlabor des Ostens.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022. 288 S., geb., 22,- Euro.
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