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Steven E. Aschheim verfolgt drei kontrastierende deutsch-jüdische Lebensgeschichten
Auf den ersten Blick erscheint die Zusammenstellung der drei Namen vielleicht etwas willkürlich: hier Hannah Arendt und Gershom Scholem, zwei weltbekannte Wissenschaftler und höchst präsente Intellektuelle des zwanzigsten Jahrhunderts; dort Victor Klemperer, bei Lebzeiten eher unscheinbarer Romanistikprofessor, der erst 1995, fünfunddreißig Jahre nach seinem Tod, zu breitestem Ruhm kommt, aber nicht als Wissenschaftler, sondern durch "Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten", seine persönlichen Tagebücher aus der NS-Diktatur. Was die drei verbindet, ist ihre Herkunft, und das schmale, essayistisch-elegante Buch von Steven E. Aschheim, emeritierter Professor der Hebräischen Universität Jerusalem, setzt genau an dieser Stelle an: mit der Frage nach drei deutsch-jüdischen Lebensgeschichten im Zeitalter von Antisemitismus, Nationalsozialismus, Weltkrieg und Schoa.
Aschheim beschäftigt sich also auch bei Scholem und Arendt zunächst gerade nicht mit dem wissenschaftlichen Werk, sondern mit persönlichen Dokumenten, Briefwechseln, Tagebüchern, Erinnerungen; erst in zweiter Linie kommt die Reaktion auf die Vernichtung des europäischen Judentums innerhalb ihrer Arbeit zur Sprache. Und dadurch erweist sich die Wahl der drei Namen als höchst produktiv, stehen sie doch für drei radikal verschiedene Optionen in Hinblick auf das eigene jüdische Selbstverständnis, drei Optionen, die zum Teil, doch nicht nur mit Generationsunterschieden zu tun haben.
Erstaunlich ist zunächst, wie wenig Gershom Scholem, nach Aschheim "der größte judaistische Gelehrte und Denker im 20. Jahrhundert", in seinem Weg durch die politische Katastrophe bestimmt wurde. Als Gerhard Scholem 1897 in Berlin geboren, fällte er seine Lebensentscheidung lange zuvor und definitiv. Als entschiedener Zionist emigrierte er schon 1923 nach Palästina und wurde bald zu einem der jüngsten Professoren der Hebräischen Universität. Große Bekanntheit erlangte 1964 sein polemischer Aufsatz "Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch", doch die Erkenntnis, dass dieses Gespräch "niemals etwas anderes [war] als eine Fiktion, eine Fiktion, von der Sie mir erlauben werden zu sagen, daß sie zu hoch bezahlt worden ist", war für Scholem keine Konsequenz aus der Schoa: "Es war diese einfache und ach, so weitreichende Wahrnehmung, die so viele von uns in unserer Jugend betroffen und uns bestimmt hat, von der Illusion eines Deutschjudentums abzulassen."
Von daher ist Victor Klemperer, 1881 geboren, Scholems entschiedener Antipode; doch gewusst haben die beiden voneinander nichts. Klemperer, der sich als nichts anderes verstehen wollte denn als Deutscher, war so lange wie möglich der Repräsentant jener jüdischen Assimilation, die der junge Scholem radikal bekämpfte. So lange wie möglich, das heißt, bis die Nationalsozialisten den in einer "Mischehe" in Deutschland Überlebenden gewaltsam zwangen, sein Judentum zur Kenntnis zu nehmen und dann auch irgendwie zu akzeptieren.
Hannah Arendt wiederum, 1906 geboren, steht zwischen den beiden, doch keineswegs als Unentschiedene, sondern in radikaler Unabhängigkeit. "Jude sein gehört für mich zu den unbezweifelbaren Gegebenheiten meines Lebens", schrieb sie 1963 an Scholem, "und ich habe an solchen Faktizitäten niemals etwas ändern wollen". Trotzdem widersetzte sie sich strikt der vollständigen Identifikation mit diesem "Jude sein" und löste sich nie von der Herkunft aus der deutschen Philosophie. Letztlich führte diese radikale, mitunter extrem betonte Unabhängigkeit auch zu dem unheilbaren Bruch mit dem Freund Scholem.
Aschheims Buch überzeugt durch die Konzentration, mit der er seine lebensgeschichtliche Perspektive verfolgt. Im Kern läuft es hinaus auf die Frage, wer eigentlich die Definition des "Jude seins" festschreibt und wer sich ihr verweigert. Für Scholem lautet die frühe Lehre aus der gescheiterten Assimilation, dass ein Jude eben kein Deutscher sei - und deshalb der Zionismus die konsequente, freie Entscheidung. Für Klemperer, am anderen Extrem, ist der Zwang, sich als Jude zu verstehen und nicht mehr als Deutscher, ein Gewaltakt, den er hinnehmen muss, sich aber niemals lebendig zu eigen macht: Auch nach dem Krieg bleibt er, was er vorher war, ein deutscher, jetzt zutiefst in seinen Lebensgrundlagen erschütterter Professor. Und Hannah Arendt ist die Einzige der drei, die versucht, die Katastrophe der Schoa auch in ihrem wissenschaftlichen Werk zu verstehen, besonders durch "Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft" (1955), aber auch durch das höchst umstrittene "Eichmann in Jerusalem" (1963/64).
Aschheims genauer Darstellung geht es nicht um ein Urteil: Er entwirft drei ganz unterschiedliche, dennoch gleichwertige Möglichkeiten, als Jude die Epoche des Unheils zu überstehen. Die eine richtige Möglichkeit konnte es nicht geben. WOLFGANG MATZ
Steven E. Aschheim: "Scholem, Arendt, Klemperer". Deutsch- jüdische Identität in Krisenzeiten.
A. d. Englischen von J.E. Dunkhase. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2023. 149 S., br., 18,- Euro
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