»Schreie im Regen« zeichnet ein meisterhaftes Porträt eines vergessenen, verdrängten Chinas vor dem großen Aufschwung. Sun Guanglin wächst auf in einem kleinen chinesischen Bauerndorf. Es sind die 60er-Jahre, vom Aufschwung ist noch nichts zu spüren. Er ist ein Außenseiter, wird von der Dorfgemeinschaft wie von der Familie misstrauisch beäugt, und so verlegt er sich auf das Beobachten. Von seinem Lieblingsplatz am Teich aus sieht er, wie sein großer Bruder den Mädchen nachstellt und sein roher Bauernvater die Mutter schikaniert. Doch selbst im alltäglichen Elend Sun Guanglins blitzen Glanzlichter kindlichen Glücks und erstaunlicher Komik auf. Auf der Schwelle zur chinesischen Moderne finden sich zwischen Stadt und Land überraschende, flüchtige Momente der Geborgenheit.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.01.2019Die Erinnerung ist nicht zum Trösten da
Nanmen ist kein Combray: Yu Huas nach 27 Jahren auf Deutsch erschienener Debütroman "Schreie im Regen"
Wie erzählt einer seine Herkunftsgeschichte, dessen Familie ihm eingebleut hat, dass seine Gefühle nichts wert sind? Blickt er mit Bitterkeit auf die Kindheit zurück? Wird seine Schilderung von alten Geistern an sich gerissen? Sun Guanglin, der Erzähler von Yu Huas Roman "Schreie im Regen", wirkt angesichts der Grausamkeiten, die er im Kindesalter erfahren hat, überraschend im Reinen mit der Vergangenheit. Im Bauerndorf Nanmen in der Provinz Zhejiang wächst er während der Kulturrevolution im Hause seines saufenden, vergewaltigenden Vaters auf, der wohl am treffendsten mit der unfreiwilligen Selbstbezeichnung beschrieben ist, die er liefert, als er seine drei Sprösslinge einmal als "Hundesöhne" beschimpft. Geprügelt, verhöhnt und erniedrigt, wird Guanglin als Sechsjähriger an einen Mann "verschenkt", über den wir zunächst wenig mehr erfahren, als dass er Armeeuniform trägt, mit seiner Frau in der Stadt Sundang lebt und - das nimmt der Erzähler gleich vorweg - fünf Jahre später sterben wird.
Guanglins Andeutung, dass er bei seinen Adoptiveltern durchaus schöne Zeiten verlebt, bevor er zu seiner ursprünglichen Familie aufs Land zurückkehrt, lässt eigentlich erwarten, dass von diesen nun auch zu lesen sei. Doch die Handlung bleibt lange Zeit in Nanmen, als fühle der verstoßene Erzähler sich verpflichtet, seinen Heimatort erst "zu Ende" zu schreiben, bevor er ihm zu entkommen wagt. So erblicken wir durch die achtsamen Kinderaugen Guanglins, dem durch die familiäre Ächtung nichts weiter übrigbleibt, als stumm seine Umwelt zu beobachten, aneinandergereihte Szenen aus dem Dorfleben, die ein so plastisches wie betrübliches Bild dieses Mikrokosmos zeichnen.
Nanmen ist kein Combray. Zwar scheint nicht selten nostalgiebeladen der Mond in diesem Roman, und bisweilen ist sein Ton seufzerisch, aber ebenso oft bestimmt eine zum düsteren Sujet passende Nüchternheit die von Ulrich Kautz exzellent übersetzte Erzählstimme. Der melodramatische Titel "Schreie im Regen" leitet in dieser Hinsicht vielleicht etwas fehl; im schon 1991 erschienenen chinesischen Original, "Zài xìyu zhong huhan" (seinerzeit Yu Huas Romandebüt), ist er ein wenig abgemildert: Schreien im Nieselregen. Gründe zum verzweifelten Aufschreien gibt es indes reichlich. Immer wieder kommt der Tod ins Dorf; nie friedlich. Da ist Guanglins kleiner Bruder, der eines Tages bei einem Unfall im Fluss ertrinkt. Da ist ein junger Mann - der Großvater des Erzählers -, der vor lauter Mittellosigkeit die vom eiskalten Wind gefrorene Leiche seines eigenen Vaters verpfänden will. Vergeblich: "Sun Youyuan begrub seinen Vater, doch die Armut konnte er nicht begraben."
Und da sind die vielen tyrannisierten Frauen. So beschreibt Guanglin, wie eine junge Frau öffentlich von einem Mann bloßgestellt wird, der mit ihr geschlafen hat und sie, als sie ihn dazu bewegen will, für einen Schwangerschaftstest mit ihr zum Arzt zu gehen, unter dem "Gelächter der Umstehenden" als "verdammtes Weibsstück" verunglimpft. Später erklärt ein Schulkamerad Guanglins: "Die Weiber haben drei Löcher." Wieder und wieder werden Frauen gedemütigt und wie selbstverständlich zu Sexobjekten herabgewürdigt, beäugt und begrapscht von Männern, die sie begehren und aus schierer Feigheit verachten. Das ist schwer zu lesen. Tröstlich ist nur, dass Guanglin die Misogynie seines Vaters anscheinend nicht geerbt hat: Das Machogehabe seines Mitschülers findet er "dann doch ziemlich unerträglich".
Als schon gar nicht mehr damit zu rechnen ist, führt der Roman schließlich doch noch zu den einstweiligen Adoptiveltern nach Sundang. Von Beginn an weiß man, dass Guanglin einen bedeutenden Teil seiner Kindheit außerhalb Nanmens verbracht hat, und man hat sich fast schon damit abgefunden, dass die Sundang-Jahre eben nicht Teil dieser Kindheitsmemoiren sind, da erwacht Sundang nach gut zweihundert Seiten einigermaßen plötzlich zum Leben: die vergleichsweise rührend liebevollen Adoptiveltern; zwei unverhofft herzliche Schulfreunde; ein Gefühl kindlicher Sicherheit, das dem Erzähler in Nanmen nicht vergönnt war.
In dieser Erzähltechnik liegt eine der Stärken dieses insgesamt kurzweiligen Romans: Yu Hua arbeitet mit zahlreichen Vorausdeutungen, die sich im leibhaftigen Detail erst viel später entfalten. So wird "Schreie im Regen" zum Bildungsroman, in dem der Protagonist erst im letzten Drittel wirklich in den Mittelpunkt tritt. Einen eindeutigen Fluchtpunkt oder Konflikt, auf den die Handlung zuläuft, gibt es nicht. Auch die großen Linien der chinesischen Geschichte (Maos desaströser "Großer Sprung nach vorn", die Gründung der Volkskommunen, die blutige Kulturrevolution) erscheinen nur hin und wieder im Hintergrund. Vielmehr ist dieser, Yu Huas fünfter auf Deutsch erschienener Roman, eine Familienchronik aus Kindesperspektive, in der Not und Elend nicht bloß Nationalhistorie sind, sondern vor allem privates Leiden.
Über Umwege entsteht auf diese Weise eine sensible Selbstreflexion. Das Erzähler-Ich schärft sich langsam heraus, indem es sich als Fotonegativ zum entsetzlichen Vater oder als Komplementär-Element zu den wenigen freundlichen Weggefährten hinzustellt. Man liest die klare, unaufdringliche Stimme eines Menschen, der einen unglücklichen Lebensabschnitt überwunden hat und sich nun schlicht erinnert, ohne Rachegelüste oder Trauer nach verlorener Zeit.
Nur einmal, gesteht Guanglin, habe er als Erwachsener beim Heimatbesuch eine Frau angefahren: "Wieso sollte ich heute noch eine Realität akzeptieren, der ich längst entkommen bin?" Meist erlebt man Guanglin aber besonnener. Auf den "Teich seiner Kindheit" hinter dem unliebsamen Elternhaus blickend, von dem aus er die Bewohner Nanmens zu beobachten pflegte, bemerkt er: "War bisher die verklärte Erinnerung an den Teich stets etwas Tröstliches gewesen, so rief dessen Erscheinung schlagartig meine gesamte Vergangenheit ins Gedächtnis. Während ich auf den Unrat starrte, der auf dem Wasser schwamm, wurde mir klar, dass der Teich keineswegs dazu da war, mich zu trösten. Vielmehr war er nicht nur nicht aus meiner Erinnerung verschwunden, sondern hatte hier in Nanmen sozusagen die Stellung gehalten, um mich für alle Zeiten an das zu erinnern, was gewesen ist." So erzählt das ungewollte Kind seine Herkunftsgeschichte: Es ist zu spät, als dass die Heimat etwas wiedergutmachen könnte. Und der Erinnernde zu aufmerksam, um sie zu vergessen.
CORNELIUS DIECKMANN
Yu Hua: "Schreie
im Regen". Roman.
Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz. S. Fischer
Verlag, Frankfurt am Main 2018. 336 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nanmen ist kein Combray: Yu Huas nach 27 Jahren auf Deutsch erschienener Debütroman "Schreie im Regen"
Wie erzählt einer seine Herkunftsgeschichte, dessen Familie ihm eingebleut hat, dass seine Gefühle nichts wert sind? Blickt er mit Bitterkeit auf die Kindheit zurück? Wird seine Schilderung von alten Geistern an sich gerissen? Sun Guanglin, der Erzähler von Yu Huas Roman "Schreie im Regen", wirkt angesichts der Grausamkeiten, die er im Kindesalter erfahren hat, überraschend im Reinen mit der Vergangenheit. Im Bauerndorf Nanmen in der Provinz Zhejiang wächst er während der Kulturrevolution im Hause seines saufenden, vergewaltigenden Vaters auf, der wohl am treffendsten mit der unfreiwilligen Selbstbezeichnung beschrieben ist, die er liefert, als er seine drei Sprösslinge einmal als "Hundesöhne" beschimpft. Geprügelt, verhöhnt und erniedrigt, wird Guanglin als Sechsjähriger an einen Mann "verschenkt", über den wir zunächst wenig mehr erfahren, als dass er Armeeuniform trägt, mit seiner Frau in der Stadt Sundang lebt und - das nimmt der Erzähler gleich vorweg - fünf Jahre später sterben wird.
Guanglins Andeutung, dass er bei seinen Adoptiveltern durchaus schöne Zeiten verlebt, bevor er zu seiner ursprünglichen Familie aufs Land zurückkehrt, lässt eigentlich erwarten, dass von diesen nun auch zu lesen sei. Doch die Handlung bleibt lange Zeit in Nanmen, als fühle der verstoßene Erzähler sich verpflichtet, seinen Heimatort erst "zu Ende" zu schreiben, bevor er ihm zu entkommen wagt. So erblicken wir durch die achtsamen Kinderaugen Guanglins, dem durch die familiäre Ächtung nichts weiter übrigbleibt, als stumm seine Umwelt zu beobachten, aneinandergereihte Szenen aus dem Dorfleben, die ein so plastisches wie betrübliches Bild dieses Mikrokosmos zeichnen.
Nanmen ist kein Combray. Zwar scheint nicht selten nostalgiebeladen der Mond in diesem Roman, und bisweilen ist sein Ton seufzerisch, aber ebenso oft bestimmt eine zum düsteren Sujet passende Nüchternheit die von Ulrich Kautz exzellent übersetzte Erzählstimme. Der melodramatische Titel "Schreie im Regen" leitet in dieser Hinsicht vielleicht etwas fehl; im schon 1991 erschienenen chinesischen Original, "Zài xìyu zhong huhan" (seinerzeit Yu Huas Romandebüt), ist er ein wenig abgemildert: Schreien im Nieselregen. Gründe zum verzweifelten Aufschreien gibt es indes reichlich. Immer wieder kommt der Tod ins Dorf; nie friedlich. Da ist Guanglins kleiner Bruder, der eines Tages bei einem Unfall im Fluss ertrinkt. Da ist ein junger Mann - der Großvater des Erzählers -, der vor lauter Mittellosigkeit die vom eiskalten Wind gefrorene Leiche seines eigenen Vaters verpfänden will. Vergeblich: "Sun Youyuan begrub seinen Vater, doch die Armut konnte er nicht begraben."
Und da sind die vielen tyrannisierten Frauen. So beschreibt Guanglin, wie eine junge Frau öffentlich von einem Mann bloßgestellt wird, der mit ihr geschlafen hat und sie, als sie ihn dazu bewegen will, für einen Schwangerschaftstest mit ihr zum Arzt zu gehen, unter dem "Gelächter der Umstehenden" als "verdammtes Weibsstück" verunglimpft. Später erklärt ein Schulkamerad Guanglins: "Die Weiber haben drei Löcher." Wieder und wieder werden Frauen gedemütigt und wie selbstverständlich zu Sexobjekten herabgewürdigt, beäugt und begrapscht von Männern, die sie begehren und aus schierer Feigheit verachten. Das ist schwer zu lesen. Tröstlich ist nur, dass Guanglin die Misogynie seines Vaters anscheinend nicht geerbt hat: Das Machogehabe seines Mitschülers findet er "dann doch ziemlich unerträglich".
Als schon gar nicht mehr damit zu rechnen ist, führt der Roman schließlich doch noch zu den einstweiligen Adoptiveltern nach Sundang. Von Beginn an weiß man, dass Guanglin einen bedeutenden Teil seiner Kindheit außerhalb Nanmens verbracht hat, und man hat sich fast schon damit abgefunden, dass die Sundang-Jahre eben nicht Teil dieser Kindheitsmemoiren sind, da erwacht Sundang nach gut zweihundert Seiten einigermaßen plötzlich zum Leben: die vergleichsweise rührend liebevollen Adoptiveltern; zwei unverhofft herzliche Schulfreunde; ein Gefühl kindlicher Sicherheit, das dem Erzähler in Nanmen nicht vergönnt war.
In dieser Erzähltechnik liegt eine der Stärken dieses insgesamt kurzweiligen Romans: Yu Hua arbeitet mit zahlreichen Vorausdeutungen, die sich im leibhaftigen Detail erst viel später entfalten. So wird "Schreie im Regen" zum Bildungsroman, in dem der Protagonist erst im letzten Drittel wirklich in den Mittelpunkt tritt. Einen eindeutigen Fluchtpunkt oder Konflikt, auf den die Handlung zuläuft, gibt es nicht. Auch die großen Linien der chinesischen Geschichte (Maos desaströser "Großer Sprung nach vorn", die Gründung der Volkskommunen, die blutige Kulturrevolution) erscheinen nur hin und wieder im Hintergrund. Vielmehr ist dieser, Yu Huas fünfter auf Deutsch erschienener Roman, eine Familienchronik aus Kindesperspektive, in der Not und Elend nicht bloß Nationalhistorie sind, sondern vor allem privates Leiden.
Über Umwege entsteht auf diese Weise eine sensible Selbstreflexion. Das Erzähler-Ich schärft sich langsam heraus, indem es sich als Fotonegativ zum entsetzlichen Vater oder als Komplementär-Element zu den wenigen freundlichen Weggefährten hinzustellt. Man liest die klare, unaufdringliche Stimme eines Menschen, der einen unglücklichen Lebensabschnitt überwunden hat und sich nun schlicht erinnert, ohne Rachegelüste oder Trauer nach verlorener Zeit.
Nur einmal, gesteht Guanglin, habe er als Erwachsener beim Heimatbesuch eine Frau angefahren: "Wieso sollte ich heute noch eine Realität akzeptieren, der ich längst entkommen bin?" Meist erlebt man Guanglin aber besonnener. Auf den "Teich seiner Kindheit" hinter dem unliebsamen Elternhaus blickend, von dem aus er die Bewohner Nanmens zu beobachten pflegte, bemerkt er: "War bisher die verklärte Erinnerung an den Teich stets etwas Tröstliches gewesen, so rief dessen Erscheinung schlagartig meine gesamte Vergangenheit ins Gedächtnis. Während ich auf den Unrat starrte, der auf dem Wasser schwamm, wurde mir klar, dass der Teich keineswegs dazu da war, mich zu trösten. Vielmehr war er nicht nur nicht aus meiner Erinnerung verschwunden, sondern hatte hier in Nanmen sozusagen die Stellung gehalten, um mich für alle Zeiten an das zu erinnern, was gewesen ist." So erzählt das ungewollte Kind seine Herkunftsgeschichte: Es ist zu spät, als dass die Heimat etwas wiedergutmachen könnte. Und der Erinnernde zu aufmerksam, um sie zu vergessen.
CORNELIUS DIECKMANN
Yu Hua: "Schreie
im Regen". Roman.
Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz. S. Fischer
Verlag, Frankfurt am Main 2018. 336 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main