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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Lisa Kreißler erzählt von einem Umzug
Berühmte und wirkungsvolle Romananfänge werden in Hobbyschriftsteller-Foren, aber auch in Onlinesegmenten von Zeitungen thematisiert. Dabei liegt der Fokus meist auf dem ersten Satz, der durch Überraschungsmomente oder gelungene Formulierungen glänzen soll. Unbeachtet bleiben in solchen Sammlungen meist unübliche Romanbeginne, wie solche, die vor den Beginn der Handlung einen Brief stellen. Das berühmteste Beispiel dafür wäre wohl E. T. A. Hoffmanns Erzählung "Der Sandmann", die gleich drei Briefe an den Anfang stellt. Der Erzähler vermittelt damit Vorwissen, an das er die Erzählung dann anschließen möchte.
Auch Lisa Kreißlers dritter Roman, "Schreie & Flüstern", stellt einen Brief an den Beginn, allerdings transportiert dieser weniger ein Vorwissen ans Publikum, sondern schafft ein erzählerisches Setting. Der Brief ist eine Sammlung von Erinnerungen, die eine Mutter ihrem Sohn im Erwachsenenalter übergeben möchte: "Es soll dir ermöglichen, dir die Zeit anzusehen, an die du dich nicht erinnern wirst können, die Zeit unserer Verwandlung."
Diese Verwandlung besteht in einem Umzug der Erzählerin Vera, ihres Partners Claus und ihres Sohns Siggi aus der hippen Leipziger Innenstadt ins beschauliche Örtchen Pohle in Niedersachsen. Dieser Lebensraumwechsel birgt für die Schriftstellerin Vera eine Konfrontation auf mehreren Ebenen mit sich. Einerseits mit ihrer Kindheit und Familie, denn in einem Dorf nahe Pohle ist sie aufgewachsen; ihre Großmutter, ihr Onkel und ihre Eltern leben nun wieder in unmittelbarer Nähe. Andererseits sieht sich Vera auch in Opposition zu den anderen Dorfbewohnern, die als Landwirte und Vertreiber von Klimaanlagen so anders sind als die Schriftstellerin und der bildende Künstler Claus. Noch dazu kommen turbulente Bauarbeiten an dem alten Hof, den Vera und Claus zu ihrem Wohnhaus umbauen wollen.
Die Erzählerin fokussiert in ihren Schilderungen dabei immer wieder die Emotionen: In den präzisen Beschreibungen der Gemütszustände ihrer selbst ebenso wie denen ihrer Familie und Freunde liegt die erzählerische Stärke des Romans. Der Stolz ihres Sohnes darüber, auf einem Trecker mitfahren zu dürfen, äußert sich darin, "dass er keinen Zweifel daran hat, sich genau am richtigen Platz zu befinden". Auch Gefühle von Trauer und Verlust werden in dieser Bildhaftigkeit beschrieben, denn das Thema von Tod und Vergänglichkeit zieht sich als Leitmotiv durch den Roman. Vera und Siggi verbindet ihre Angst vor dem eigenen Sterben: ",Aber ich, ich sterbe nicht!', Siggi schaut mich hoffnungsvoll an. 'Doch, du stirbst auch irgendwann', sage ich leise . . . Siggi beißt in seinen Pfannkuchen. Er überlegt. Dann verzieht er das Gesicht und seine Angst brennt so hell in seinen Augen, dass ich selbst fast zu weinen anfange."
Die sprachliche Stärke des Romans liegt in den zahlreichen Metaphern und Vergleichen, die sich häufiger dem thematischen Feld Raumfahrt und Weltall zuordnen lassen: Vera beobachtet die Dörfler, die "in ihrer Raumkapsel an uns vorbeigleiten" statt in Autos vorbeifahren. Als ihre Mutter Tomaten erntet, schwebt deren Gesicht "zwischen den rankenden Pflanzen wie ein rätselhafter Planet". Eine Baumkrone wird zum "grünen Raumschiff", und abends wird es nicht kalt, sondern "Kälte sinkt sachte aus dem Weltall auf uns herab". In dieser Metaphorik mögen sich die Entfremdungsgefühle der Erzählerin ausdrücken, die sich im Dorf Pohle wie ein Alien fühlt.
Nach dieser Lesart könnten ebenso Elemente des magischen Realismus im Roman aufgefasst werden. Während der Autofahrt am Umzugstag beschreibt die Erzählerin ihre Eindrücke: "Alles was du siehst, ist gerade erst erfunden: die Gräser, Bäume. Der Milan, der über deinen Kopf hinwegzieht, ist ein Drache. Er will dich erkennen. Er schaut von oben auf dich herab. Er weiß, dass du Angst hast."
Obwohl diese Angst und die (Selbst-)Entfremdung der Erzählerin den Roman "Schreie & Flüstern" prägen, gelingt es Lisa Kreißler auch, Gefühle von Zuversicht und Neugierde zu formulieren. Und somit wird die Hoffnung, die Vera im Brief zu Beginn äußert, jedenfalls in Bezug aufs Publikum erfüllt: "und zu deinem 25. bekommst du dieses Album, in der Hoffnung, es möge dir Türen öffnen." EMILIA KRÖGER
Lisa Kreißler: "Schreie & Flüstern". Roman.
Mairisch Verlag, Hamburg 2021. 224 S., geb., 20,- Euro.
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