»Der Unterzeichnete hat, obwohl ihm die Gesetzgebung der letzten zwölf Jahre jede publizistische Äußerung wie den Abschluß seines philosophischen Universitätsstudiums unmöglich machte, nicht den Ehrgeiz, um jeden Preis sich gedruckt zu sehen.« Dies schrieb der 25-jährige Hans Blumenberg im November 1945 an den Insel Verlag und fügte einen Aufsatz zu Dostojewskis Novelle »Die Sanfte« bei, deren Veröffentlichung er anregte. Zu der Publikation kam es seinerzeit nicht und auch der Aufsatz blieb ungedruckt. Nun eröffnet er eine Sammlung mit Blumenbergs frühen Texten zur Literatur.
In Rezensionen, Reden und Vorträgen erkundet er die zumeist zeitgenössische deutschsprachige und internationale Literatur, schreibt aber auch über die damals neue Mode der Taschenbücher, Ratgeber und Comics. Seine subtilen Lektüren verfolgen oft Randgänge zwischen Literatur und Philosophie und thematisieren existentielle Fragen. Es sind Texte von zeitloser Brillanz, die zugleich die Nachkriegszeit wie in einem Vergrößerungsglas ansichtig werden lassen.
In Rezensionen, Reden und Vorträgen erkundet er die zumeist zeitgenössische deutschsprachige und internationale Literatur, schreibt aber auch über die damals neue Mode der Taschenbücher, Ratgeber und Comics. Seine subtilen Lektüren verfolgen oft Randgänge zwischen Literatur und Philosophie und thematisieren existentielle Fragen. Es sind Texte von zeitloser Brillanz, die zugleich die Nachkriegszeit wie in einem Vergrößerungsglas ansichtig werden lassen.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in D, A, F, L, I ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.05.2017Auf den Klippen der Romane
Nur nicht mit Magie kommen: Der Philosoph Hans Blumenberg hat in jungen Jahren oft über zeitgenössische Literatur geschrieben. Es sind Texte, die auch heute noch zu Lektüren der behandelten Schriftsteller und Dichter einladen.
Im Sommer 1954 erscheint in den "Bremer Nachrichten" eine Besprechung von Samuel Becketts "Molloy". Der Rezensent lässt angesichts dieses ersten Bands von Becketts Romantrilogie keinen Zweifel: Ein "starkes" Buch in jedem Sinn sei es, ein elementares Werk. Doch gleichzeitig klingt ein Vorbehalt an. Ein meisterlich geschriebenes Werk sei Becketts Roman zwar, doch dass er ein "gutes" Buch sei, das glaubt der Rezensent deswegen nicht. Bloß, sich schützend und mahnend zwischen Buch und Leser zu stellen, das sei nun einmal für einen Kritiker sinnlos.
Da lobt ein Rezensent ein Buch in entschiedenem Ton und gibt gleichzeitig zu bedenken, es müsse zutiefst beunruhigen, von ebendiesem Buch so fasziniert zu sein, wie es der Kritiker ist, nämlich ohne sich diese Faszination erklären zu können. Es zeigt: "Magie von unserem Pfad zu entfernen - das ist doch eine immer neu, immer anders sich stellende Aufgabe." Wo heute die Rede von der Magie eines meisterlich geschriebenen Texts zweifellos auf dessen ästhetischer Habenseite verbucht würde, wird sie dem Kritiker hier zum Vorbehalt. Denn eine Wirkung, die man sich nicht erklären könne, sei "verwirrend, gefährlich und peinlich".
Es war nicht irgendein Kritiker, der das schrieb, auch kein Literaturkritiker im strikten Sinn. Verfasst hat diesen Artikel der neunundzwanzigjährige Hans Blumenberg, damals bereits habilitiert und vier Jahre später in Hamburg auf seine erste Professur berufen. Und der junge Blumenberg, das zeigt die jetzt aus dem Nachlass des 1996 verstorbenen Philosophen edierte Sammlung seiner frühen Texte zur Literatur aus den Jahren 1945 bis 1958, war schon damals ein Leser, der ausgezeichnet Rechenschaft davon geben konnte, wie Texte ihre Wirkung entfalten. Bei Beckett aber war für ihn eine Grenze erreicht, kein Sinn zu fassen, nur ein einsames "Lachen hinter dem Ganzen", das sich offenbar noch darüber lustig macht, überhaupt auf Sinn auszugehen, und zuletzt dann noch eine Volte, die alle Ansprüche auf Deutung lächerlich macht: "Seht her, es war nichts dahinter."
Dass aber immer etwas dahinter ist, das ist der Einsatz von Blumenbergs Lektüren: von Kafka und Valéry, Ernst Jünger und Evelyn Waugh, Dostojewski und Claudel, Graham Greene und Chesterton, Faulkner und Proust, Hemingway und Eliot und noch einigen anderen. Der vorliegende Band umfasst Zeitungsartikel, die meist unter dem Kürzel "Bb" und manchmal auch unter einem Pseudonym erschienen, in der Zeitschrift "Hochland" veröffentlichte Essays, Vortragstexte, auch einige ungedruckt gebliebene Nachlassstücke. Es ist keine bloß beiläufige Textproduktion, die er präsentiert: Nach der von Blumenberg penibel geführten Publikationsliste entfällt auf sie fast die Hälfte aller für diese Jahre angeführten Texte.
Mit den literarischen Miszellen des späten Blumenberg, dem hermeneutischen Hochleistungssport, aus einer Passage den prägnanten Kommentar hervorgehen zu lassen, haben sie wenig gemein. Sie gehen ihren Gegenstand direkter an, handeln dabei von durchaus großen Fragen, hüten sich aber wohl, die ins Auge gefassten Texte unter ihnen zu begraben. Es schreibt ein Philosoph, der kundig auch in der Theologie ist: Um Nihilismus geht es, um Transzendenz und Wirklichkeitsbegriff, um Gnade und aufgeschobene Eschatologie, Mythos und Freiheit. Natürlich erkennt man darin Motive für Blumenbergs Bücher, und der Verdacht mag sich einstellen, hier würde die Literatur zur Illustration bereits eingeschlagener Wege verwendet.
Aber der Verdacht trügt: Bereits der junge Blumenberg ist ein hingebungsvoller Leser mit ästhetischem Gespür, der nie in die Versuchung kommt, Literatur ins zweite Glied zu rücken. Im Gegenteil bemüht er sich in einem fast programmatischen Text von 1950 darum, literarischen Werken eine Vorreiterrolle zukommen zu lassen für das, was er als die Verarbeitung nihilistischer Zeittendenz ansieht: die Behandlung von nicht objektivierbaren Erfahrungen, die in einem eingespielten Wirklichkeitsbewusstsein nicht mehr unterzubringen sind.
Die deutsche Gegenwartsliteratur, die er in diesem Text unmittelbar im Blick hat, stehe dabei zwar im "Brennpunkt nihilistischer Ereignisse" - solche Winke genügen Blumenberg, der sein Studium in den Jahren des Nationalsozialismus hatte abbrechen müssen -, bringe es aber künstlerisch meist nicht in die erste Reihe. Ihr Kennzeichen, liest man, sei eher ratlose Bestürzung und raffinierte Flucht - doch gerade deshalb komme das Problem des Nihilismus in ihr zur "unübersehbaren Aufdringlichkeit".
Die raffinierte Flucht, mit der wohl auf Ernst Jünger gezielt ist, interessiert Blumenberg dann doch mehr als die bei Autoren wie Hermann Kasack oder Elisabeth Langgässer konstatierte Bestürzung. Jünger hat ohnehin großen Kredit beim jungen Blumenberg, für den die "Marmorklippen" zu den "wichtigsten Ereignissen der deutschen Geistesgeschichte" zählen und eine "fast vollendete Dichtung" sind. Immer wieder kommt er, spürbar fasziniert, auf Jüngers Wink mit einer "neuen Theologie" zu sprechen, um dann wenige Jahre später zu Jüngers sechzigstem Geburtstag 1955 doch eine nüchterne, fast schroffe Bilanz zu ziehen: Nicht einmal die äußeren Grenzen der Theologie habe Jünger erreicht, und die "Andeutung arkaner Quellen, höherer Intuition und singulärer Einweihungen - dem Dichter noch nicht ohne weiteres illegitim -, hat sich im Fazit nicht zu echter Legitimation der Aussage verdichtet".
Solches Fazit war ein Stück weit wohl auch Distanznahme von eigenen Erwartungen. Weshalb man die programmatische Einlassung von 1950 auch nicht zu hoch bewerten darf: So klar dann seine Lektüren der englischen, französischen und amerikanischen Autoren auch auf große, aber auch kaum umgehbare Leitfragen bezogen blieben, so aufmerksam ist Blumenberg doch für die Texte selbst; und ein weit ausgreifender Leser ist er zudem, der sich durch fast den ganzen Faulkner liest, Valéry früh für sich entdeckt, vom Ideendramatiker Sartre fast ebenso früh Abschied nimmt, Aldous Huxleys Lobpreisung der Droge in den "Doors of Perception" kritisch kommentiert oder sich in Evelyn Waugh und T. S. Eliot vertieft.
Kafka ist für Blumenberg der Autor, der das Zerbrechen einer stimmigen, aus objektiv fassbaren Sachverhalten hergestellten Wirklichkeit in Reinform demonstriert. Das mag wenig überraschend sein, aber bestechend ist, wie geschickt Blumenberg dann in so vollkommen unterschiedlichen Romanwelten, wie es jene von Waugh und Faulkner sind, seine Interpretationen setzt; oder in der Auseinandersetzung mit Valérys "Mon Faust" schon die spätere intensive Beschäftigung mit diesem Autor einleitet.
Man kann die Texte mit Blick auf den späteren Blumenberg lesen, muss es wohl sogar, wenn man seine Bücher kennt. Sie zeigen ihn noch - Stichwort Nihilismus - ziemlich geradlinig auf Sinnfragen zugehend, wo der spätere Blumenberg mit Bedacht seine Umwege über weites Terrain gehen wird, aber auch das oft verknüpft mit Interpretationen literarischer Werke. Doch zum höheren Lob dieser frühen Texte ist zu sagen, dass sie auch abseits vom Interesse an Blumenbergs Denkwegen für sich einnehmen. Ein Leser wie Blumenberg geht nicht im Zeitgeist unter, an den er anknüpfte, er verführt sechzig Jahre später dazu, Romanciers und Dichter noch einmal oder auch zum ersten Mal aufzuschlagen. Und wenn er 1954 über die florierende Ratgeberliteratur - "Die Literatur des großen ,Wie'" - schreibt, war ohnehin das Unvergängliche des Buchmarkts berührt.
HELMUT MAYER
Hans Blumenberg:
"Schriften zur Literatur". 1945 bis 1958.
Hrsg. von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 372 S., geb., 32.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nur nicht mit Magie kommen: Der Philosoph Hans Blumenberg hat in jungen Jahren oft über zeitgenössische Literatur geschrieben. Es sind Texte, die auch heute noch zu Lektüren der behandelten Schriftsteller und Dichter einladen.
Im Sommer 1954 erscheint in den "Bremer Nachrichten" eine Besprechung von Samuel Becketts "Molloy". Der Rezensent lässt angesichts dieses ersten Bands von Becketts Romantrilogie keinen Zweifel: Ein "starkes" Buch in jedem Sinn sei es, ein elementares Werk. Doch gleichzeitig klingt ein Vorbehalt an. Ein meisterlich geschriebenes Werk sei Becketts Roman zwar, doch dass er ein "gutes" Buch sei, das glaubt der Rezensent deswegen nicht. Bloß, sich schützend und mahnend zwischen Buch und Leser zu stellen, das sei nun einmal für einen Kritiker sinnlos.
Da lobt ein Rezensent ein Buch in entschiedenem Ton und gibt gleichzeitig zu bedenken, es müsse zutiefst beunruhigen, von ebendiesem Buch so fasziniert zu sein, wie es der Kritiker ist, nämlich ohne sich diese Faszination erklären zu können. Es zeigt: "Magie von unserem Pfad zu entfernen - das ist doch eine immer neu, immer anders sich stellende Aufgabe." Wo heute die Rede von der Magie eines meisterlich geschriebenen Texts zweifellos auf dessen ästhetischer Habenseite verbucht würde, wird sie dem Kritiker hier zum Vorbehalt. Denn eine Wirkung, die man sich nicht erklären könne, sei "verwirrend, gefährlich und peinlich".
Es war nicht irgendein Kritiker, der das schrieb, auch kein Literaturkritiker im strikten Sinn. Verfasst hat diesen Artikel der neunundzwanzigjährige Hans Blumenberg, damals bereits habilitiert und vier Jahre später in Hamburg auf seine erste Professur berufen. Und der junge Blumenberg, das zeigt die jetzt aus dem Nachlass des 1996 verstorbenen Philosophen edierte Sammlung seiner frühen Texte zur Literatur aus den Jahren 1945 bis 1958, war schon damals ein Leser, der ausgezeichnet Rechenschaft davon geben konnte, wie Texte ihre Wirkung entfalten. Bei Beckett aber war für ihn eine Grenze erreicht, kein Sinn zu fassen, nur ein einsames "Lachen hinter dem Ganzen", das sich offenbar noch darüber lustig macht, überhaupt auf Sinn auszugehen, und zuletzt dann noch eine Volte, die alle Ansprüche auf Deutung lächerlich macht: "Seht her, es war nichts dahinter."
Dass aber immer etwas dahinter ist, das ist der Einsatz von Blumenbergs Lektüren: von Kafka und Valéry, Ernst Jünger und Evelyn Waugh, Dostojewski und Claudel, Graham Greene und Chesterton, Faulkner und Proust, Hemingway und Eliot und noch einigen anderen. Der vorliegende Band umfasst Zeitungsartikel, die meist unter dem Kürzel "Bb" und manchmal auch unter einem Pseudonym erschienen, in der Zeitschrift "Hochland" veröffentlichte Essays, Vortragstexte, auch einige ungedruckt gebliebene Nachlassstücke. Es ist keine bloß beiläufige Textproduktion, die er präsentiert: Nach der von Blumenberg penibel geführten Publikationsliste entfällt auf sie fast die Hälfte aller für diese Jahre angeführten Texte.
Mit den literarischen Miszellen des späten Blumenberg, dem hermeneutischen Hochleistungssport, aus einer Passage den prägnanten Kommentar hervorgehen zu lassen, haben sie wenig gemein. Sie gehen ihren Gegenstand direkter an, handeln dabei von durchaus großen Fragen, hüten sich aber wohl, die ins Auge gefassten Texte unter ihnen zu begraben. Es schreibt ein Philosoph, der kundig auch in der Theologie ist: Um Nihilismus geht es, um Transzendenz und Wirklichkeitsbegriff, um Gnade und aufgeschobene Eschatologie, Mythos und Freiheit. Natürlich erkennt man darin Motive für Blumenbergs Bücher, und der Verdacht mag sich einstellen, hier würde die Literatur zur Illustration bereits eingeschlagener Wege verwendet.
Aber der Verdacht trügt: Bereits der junge Blumenberg ist ein hingebungsvoller Leser mit ästhetischem Gespür, der nie in die Versuchung kommt, Literatur ins zweite Glied zu rücken. Im Gegenteil bemüht er sich in einem fast programmatischen Text von 1950 darum, literarischen Werken eine Vorreiterrolle zukommen zu lassen für das, was er als die Verarbeitung nihilistischer Zeittendenz ansieht: die Behandlung von nicht objektivierbaren Erfahrungen, die in einem eingespielten Wirklichkeitsbewusstsein nicht mehr unterzubringen sind.
Die deutsche Gegenwartsliteratur, die er in diesem Text unmittelbar im Blick hat, stehe dabei zwar im "Brennpunkt nihilistischer Ereignisse" - solche Winke genügen Blumenberg, der sein Studium in den Jahren des Nationalsozialismus hatte abbrechen müssen -, bringe es aber künstlerisch meist nicht in die erste Reihe. Ihr Kennzeichen, liest man, sei eher ratlose Bestürzung und raffinierte Flucht - doch gerade deshalb komme das Problem des Nihilismus in ihr zur "unübersehbaren Aufdringlichkeit".
Die raffinierte Flucht, mit der wohl auf Ernst Jünger gezielt ist, interessiert Blumenberg dann doch mehr als die bei Autoren wie Hermann Kasack oder Elisabeth Langgässer konstatierte Bestürzung. Jünger hat ohnehin großen Kredit beim jungen Blumenberg, für den die "Marmorklippen" zu den "wichtigsten Ereignissen der deutschen Geistesgeschichte" zählen und eine "fast vollendete Dichtung" sind. Immer wieder kommt er, spürbar fasziniert, auf Jüngers Wink mit einer "neuen Theologie" zu sprechen, um dann wenige Jahre später zu Jüngers sechzigstem Geburtstag 1955 doch eine nüchterne, fast schroffe Bilanz zu ziehen: Nicht einmal die äußeren Grenzen der Theologie habe Jünger erreicht, und die "Andeutung arkaner Quellen, höherer Intuition und singulärer Einweihungen - dem Dichter noch nicht ohne weiteres illegitim -, hat sich im Fazit nicht zu echter Legitimation der Aussage verdichtet".
Solches Fazit war ein Stück weit wohl auch Distanznahme von eigenen Erwartungen. Weshalb man die programmatische Einlassung von 1950 auch nicht zu hoch bewerten darf: So klar dann seine Lektüren der englischen, französischen und amerikanischen Autoren auch auf große, aber auch kaum umgehbare Leitfragen bezogen blieben, so aufmerksam ist Blumenberg doch für die Texte selbst; und ein weit ausgreifender Leser ist er zudem, der sich durch fast den ganzen Faulkner liest, Valéry früh für sich entdeckt, vom Ideendramatiker Sartre fast ebenso früh Abschied nimmt, Aldous Huxleys Lobpreisung der Droge in den "Doors of Perception" kritisch kommentiert oder sich in Evelyn Waugh und T. S. Eliot vertieft.
Kafka ist für Blumenberg der Autor, der das Zerbrechen einer stimmigen, aus objektiv fassbaren Sachverhalten hergestellten Wirklichkeit in Reinform demonstriert. Das mag wenig überraschend sein, aber bestechend ist, wie geschickt Blumenberg dann in so vollkommen unterschiedlichen Romanwelten, wie es jene von Waugh und Faulkner sind, seine Interpretationen setzt; oder in der Auseinandersetzung mit Valérys "Mon Faust" schon die spätere intensive Beschäftigung mit diesem Autor einleitet.
Man kann die Texte mit Blick auf den späteren Blumenberg lesen, muss es wohl sogar, wenn man seine Bücher kennt. Sie zeigen ihn noch - Stichwort Nihilismus - ziemlich geradlinig auf Sinnfragen zugehend, wo der spätere Blumenberg mit Bedacht seine Umwege über weites Terrain gehen wird, aber auch das oft verknüpft mit Interpretationen literarischer Werke. Doch zum höheren Lob dieser frühen Texte ist zu sagen, dass sie auch abseits vom Interesse an Blumenbergs Denkwegen für sich einnehmen. Ein Leser wie Blumenberg geht nicht im Zeitgeist unter, an den er anknüpfte, er verführt sechzig Jahre später dazu, Romanciers und Dichter noch einmal oder auch zum ersten Mal aufzuschlagen. Und wenn er 1954 über die florierende Ratgeberliteratur - "Die Literatur des großen ,Wie'" - schreibt, war ohnehin das Unvergängliche des Buchmarkts berührt.
HELMUT MAYER
Hans Blumenberg:
"Schriften zur Literatur". 1945 bis 1958.
Hrsg. von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 372 S., geb., 32.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.06.2017Jenseits der schon gewussten Wahrheit
Wie ein Philosoph durch die Lektüre belletristischer Werke zu den Grundfragen
seines Werks findet: Hans Blumenbergs „Schriften zur Literatur“ der Jahre 1945 bis 1958
VON ERNST OSTERKAMP
Es war für die Hörer von Hans Blumenbergs Vorlesungen von einigem Vorteil, wenn sie über ein breites weltliterarisches Wissen verfügten. Denn er brachte in ihnen seine stupende literarische Belesenheit in Form überraschungsvoll ausgewählter Zitate von Friedrich Hebbel bis Anaïs Nin, von Dante bis Paul Valéry argumentativ mit einer Selbstverständlichkeit zur Geltung, die jeden didaktischen Hinweis auf die Bedeutung der zitierten Autoren oder den Werkzusammenhang von vornherein ausschloss. Die Höflichkeit des Vortragenden setzte bei seinen Hörern eine umfassende literarische Bildung (von der philosophischen oder theologischen wollen wir hier gar nicht reden) voraus, von der er genau wusste, dass sie dergleichen in der Regel nicht besaßen. Gut so! Denn so ging mit der Öffnung der gedanklichen immer auch eine Erweiterung der literarischen Horizonte einher; meine Exemplare der Werke Paul Valérys habe ich, beschämt über meine literarische Unbildung, sämtlich im Anschluss an Blumenbergsche Vorlesungen erworben. Was weltliterarische Bildung ist und was sie vermag, habe ich nicht in germanistischen, sondern in den Vorlesungen des Philosophen erfahren.
Er muss ein besessener Leser gewesen sein, und in dem Jahrzehnt nach dem Krieg dürfte es nicht zuletzt der Welt- und Lebenshunger der Zeit gewesen sein, der sich auch in seinen Lektüren Bahn brach. Hans Blumenberg hat es nicht geliebt, als Person in den Vordergrund zu treten; in seinen 1945 bis 1958 entstandenen Schriften zur Literatur gibt es aber doch einige Stellen, in denen er sich dazu bekennt, ein leidenschaftlicher Leser zu sein. 1955 schrieb er in einem Zeitungsartikel über die Konjunktur der Taschenbuch-Reihen, er dürfe sich „mit einem Minimum an Koketterie zu jener Elite zählen, die schon zur Reichsmarkzeit für ein rororo-Heft im Zeitungsformat ihre Zigarettenration zu opfern nicht zögerte.“ Anrührender freilich noch ist, was ihm, wie er 1953 zum 60. Geburtstag von Hans Fallada schrieb, zu jener Zeit widerfuhr, „als wir die entlegensten Bezirke der deutschen Landwirtschaft nach Essbarem durchforschten, während uns zugleich die große Welt da draußen in niegekannten Werken moderner Literatur bestürzend aufgetan wurde“. Da saß er einmal in einem offenen Eisenbahnabteil und war, indes eine ihm gegenübersitzende „schon leicht amerikanisierte junge Dame“ ,Licht im August‘ von William Faulkner las“, in Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ versunken, und was dem kleinen Mann dort angetan wurde, verfehlte seine Wirkung auf diesen Leser nicht: „da wurde es mir ein wenig feucht in den Augen.“
Freilich, solche Bekenntnisse eines Lesers wollte der Privatdozent Blumenberg in den Düsseldorfer Nachrichten nur unter dem Pseudonym Axel Colly veröffentlichen, und dies vielleicht auch deshalb, weil er befürchten mochte, dass seine Würdigung von Falladas Fähigkeit, der „herzhaften Tapferkeit, die so wenig ausrichtet und doch das einzig Große enthält (…): sich selbst nicht aufzugeben“, literarisch eine Stimme zu verleihen, zu viel von ihm selbst hätte preisgeben können. Unter seinem eigenen Namen hat er, schon leicht amerikanisiert, hingegen große Essays über William Faulkner oder Ernest Hemingway veröffentlicht.
Gewiss haben aus dem Nachlass zusammengestellte Bände mit Texten über Goethe, Fontane, Ernst Jünger bereits wichtige Züge in der Physiognomie des Lesers Hans Blumenberg hervortreten lassen. Dennoch kommt dem jetzt erschienenen Band mit seinen Schriften zur Literatur aus den Jahren 1945 bis 1958 große Bedeutung schon deshalb zu, weil er einen erheblichen Beitrag zur intellektuellen Biografie des Philosophen als eines Lesers in den frühen Jahren der Bundesrepublik leistet. Dabei geht der Band mit einem Text auf signifikante Weise hinter diesen Zeitraum zurück: Im Anhang erscheint erstmals eine nicht weniger als 65 Seiten umfassende Abhandlung des 18-jährigen Schülers über Hans Carossa, und man tut gut daran, die Lektüre des Bandes mit diesem Aufsatz trotz seines superlativischen Stils, der unablässig das Höchste und Tiefste beschwört, trotz der großen geistesgeschichtlichen Formeln und der breiten Textparaphrasen zu beginnen. Denn er zeigt, wie emphatisch und identifikatorisch der junge Blumenberg gelesen hat, ja dass das Versinken in der Gegenwelt der Lektüre für ihn im Jahre 1938, im Falle Carossas verbunden mit dem religiösen Bekenntnis, ein Akt von existenzieller Bedeutung war. Man kann nur darüber spekulieren, was es für ihn, dessen Mutter jüdischer Herkunft war, in dieser Zeit umfassender Gefährdung seiner physischen und geistigen Zukunft bedeutet haben mag, seinen Entwurf von „Carossas geistiger Gestalt“ auf dessen Bild des „Menschen in Rüstung“ zulaufen zu lassen, das Carossa in seinem Roman „Der Arzt Gion“ „zum Bild der geistigen Festung ausgeweitet“ habe, um dann seinen Text mit einem schmalen Abschnitt „Geistgeweihte Zukunft“ abzuschließen. Schon in diesem Text zeigt sich, dass den Leser Blumenberg literarische Werke vor allem deshalb faszinierten, weil sie für ihn Träger ideeller Gehalte waren; die „höchste Fähigkeit des Dichters“ sei, so statuierte der jugendliche Leser, darin „beschlossen, auch das Unscheinbarste aufglänzen zu lassen im Lichte einer Idee“, und so sei der Dichter denn „befähigt, die Idee aus dem sklavischen Bann der grauen Dinge zu erlösen“. Der lesende Philosoph hat sich dies, wenngleich in weniger emphatischer Sprache, in seinen späteren Jahren auf vielfache Weise zunutze gemacht.
Lässt sich nicht auch in einer Wendung wie derjenigen, dass „in Bild und Klang eines jeden Wortes, nicht nur in seinem begrifflichen Inhalt“ „die dichterische Aussage enthalten“ sei, bereits der künftige Metaphorologe erkennen? Allerdings gibt der frühe Carossa-Aufsatz in seinem Desinteresse an Fragen der künstlerischen Form und an allen Problemen der ästhetischen Verfasstheit literarischer Texte auch schon ein Charakteristikum der Aufsätze des späten Blumenberg über Werke der Dichtung zu erkennen; so oft er zum Beispiel über die „Marienbader Elegie“ geschrieben haben mag, so entschieden verharrte er doch immer in deren biografischem oder ideengeschichtlichem Vorhof, und auch in den hier zusammengestellten frühen Schriften zur Literatur spielen Beobachtungen zu Form und ästhetischer Gestalt der besprochenen Texte nur eine marginale Rolle. Die Bedeutung der Literatur bestand für ihn, den späteren Philosophen der Metapher und des Mythos, vor allem darin, dass sie ein Erkenntnismedium sui generis darstellt, das seine diagnostische Kraft oft erheblich vor der begrifflichen Reflexion zu entfalten vermag. Er hat dies schon 1950 in seinem Vortrag „Das Problem des Nihilismus in der deutschen Literatur der Gegenwart“ ausgesprochen: Die moderne Dichtung „ist der philosophischen Analyse fast überall weit vorausgeeilt und hat Phänomene und Probleme sichtbar gemacht, an die sich das Denken nur allmählich heranzutasten vermag“. Es war dieser Befund, der den jungen Privatdozenten immer wieder in Zeitungen wie den Düsseldorfer Nachrichten und den Bremer Nachrichten und in der katholischen Zeitschrift Hochland mit hohem Qualitätsbewusstsein gleichsam im Vorfeld der Philosophie über moderne Dichtung nachdenken ließ. Wie weit er dabei im Einzelnen noch von seiner späteren Philosophie entfernt gewesen ist, lässt sich freilich daran ermessen, dass er es in einem Artikel zum 80. Geburtstag Thomas Manns fertigbrachte, dessen Roman „Joseph und seine Brüder“ – für den Autor von „Arbeit am Mythos“ doch wohl dessen wichtigstes Werk – mit keinem Wort zu erwähnen.
Freilich konnte die Literatur ihre diagnostische Kraft im Hinblick auf die Probleme der modernen Wirklichkeit für Blumenberg nur dann entfalten, wenn sie sich nicht mit philosophischen Traditionsbeständen und Ansprüchen auflud. Darin gründete seine Distanz zur zeitgenössischen deutschen Literatur. Diese sei „in ihrer Gestaltung der Zeitphänomene philosophisch außerordentlich vorbelastet. Sie bringt es nicht zu der unreflektierten Unbefangenheit, die sich ganz dem Bezug zur Wirklichkeit öffnet.“ Der Leser darf sich also nicht darüber wundern, dass Namen wie Robert Musil oder Hermann Broch in diesen Schriften nicht auftauchen. Unter den deutschsprachigen Autoren der Moderne brachte Blumenberg uneingeschränkte Bewunderung nur Franz Kafka entgegen, der dem neuzeitlichen „faustischen“ Bewusstsein universeller Objektivierbarkeit und Machbarkeit der Welt in „apokalyptischen Bildern“ ein Ende gesetzt habe.
Zu Ernst Jünger trat Blumenberg im hier dokumentierten Jahrzehnt in wachsende Distanz. Seinen Wirklichkeitshunger sättigte er dagegen bevorzugt an der modernen angelsächsischen Literatur: an Graham Greene und Evelyn Waugh, an Ernest Hemingway, T. S. Eliot und William Faulkner, denen er große Essays widmete. Sie zu lesen lohnt sich auch heute noch, weil er sich in ihnen jeweils auf der Grundlage der Kenntnis des Gesamtwerks, soweit es ihm verfügbar war, mit philosophisch-theologischer Begriffsschärfe um die Herausarbeitung werkkonstitutiver zentraler Gedankenfiguren und der fundamentalen Werkproblematik bemühte. In dem kritischen Essay über Eliot hat Hans Blumenberg fast en passant zu einer Wesensbestimmung der Dichtung gefunden, die wie nichts sonst zu erklären hilft, was dem Philosophen die Lektüre großer Poesie unentbehrlich machte: „weil Dichtung, wie Kunst überhaupt, es mehr mit der Wahrheit zu tun hat, deren wir bedürfen, als mit der, die wir schon besitzen.“
„Es wird“, so hat 1950 – im Jahr seiner Habilitation – schon der Dreißigjährige in seinem Vortrag über das Nihilismusproblem geschrieben, „deshalb immer eine echte Aufgabe philosophischer Besinnung sein, die in der Kunst und Dichtung bezeugte Erfahrung sorgfältig abzuhören und sich von dem als echtes Zeugnis Erkannten in der Richtung des Denkens, des Ansatzes der Fragen bestimmen zu lassen.“ Der Philosoph hat sich konsequent daran gehalten und deshalb bei den Hörern seiner Vorlesungen ein weltliterarisches Bewusstsein vorausgesetzt. In dem 1958 erschienenen Essay über Faulkner (dem letzten in dieser Sammlung) zitiert er den amerikanischen Autor: „Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist nicht einmal vergangen.“ Und lässt hierauf den Ausruf folgen: „Das ist genau die Formel des Mythos!“ Gelegentlich drängt sich der Eindruck auf, Hans Blumenberg habe erst in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der modernen Literatur zu Grundfragen seines Denkens und zur Sicherheit seines Stils gefunden.
Der Welt- und Lebenshunger der
Nachkriegszeit wird sich in seinen
Lektüren Bahn gebrochen haben
Beobachtungen zu Form und
ästhetischer Gestalt der Texte
spielen nur eine marginale Rolle
Vor allem die angelsächsische
Literatur sättigte
seinen Wirklichkeitshunger
Philosoph Hans Blumenberg (1920–1996)
Foto: Peter Zollna/Suhrkamp Verlag
Hans Blumenberg: Schriften zur Literatur. 1945-1958. Herausgegeben von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 371 Seiten,
32 Euro. E-Book 27,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wie ein Philosoph durch die Lektüre belletristischer Werke zu den Grundfragen
seines Werks findet: Hans Blumenbergs „Schriften zur Literatur“ der Jahre 1945 bis 1958
VON ERNST OSTERKAMP
Es war für die Hörer von Hans Blumenbergs Vorlesungen von einigem Vorteil, wenn sie über ein breites weltliterarisches Wissen verfügten. Denn er brachte in ihnen seine stupende literarische Belesenheit in Form überraschungsvoll ausgewählter Zitate von Friedrich Hebbel bis Anaïs Nin, von Dante bis Paul Valéry argumentativ mit einer Selbstverständlichkeit zur Geltung, die jeden didaktischen Hinweis auf die Bedeutung der zitierten Autoren oder den Werkzusammenhang von vornherein ausschloss. Die Höflichkeit des Vortragenden setzte bei seinen Hörern eine umfassende literarische Bildung (von der philosophischen oder theologischen wollen wir hier gar nicht reden) voraus, von der er genau wusste, dass sie dergleichen in der Regel nicht besaßen. Gut so! Denn so ging mit der Öffnung der gedanklichen immer auch eine Erweiterung der literarischen Horizonte einher; meine Exemplare der Werke Paul Valérys habe ich, beschämt über meine literarische Unbildung, sämtlich im Anschluss an Blumenbergsche Vorlesungen erworben. Was weltliterarische Bildung ist und was sie vermag, habe ich nicht in germanistischen, sondern in den Vorlesungen des Philosophen erfahren.
Er muss ein besessener Leser gewesen sein, und in dem Jahrzehnt nach dem Krieg dürfte es nicht zuletzt der Welt- und Lebenshunger der Zeit gewesen sein, der sich auch in seinen Lektüren Bahn brach. Hans Blumenberg hat es nicht geliebt, als Person in den Vordergrund zu treten; in seinen 1945 bis 1958 entstandenen Schriften zur Literatur gibt es aber doch einige Stellen, in denen er sich dazu bekennt, ein leidenschaftlicher Leser zu sein. 1955 schrieb er in einem Zeitungsartikel über die Konjunktur der Taschenbuch-Reihen, er dürfe sich „mit einem Minimum an Koketterie zu jener Elite zählen, die schon zur Reichsmarkzeit für ein rororo-Heft im Zeitungsformat ihre Zigarettenration zu opfern nicht zögerte.“ Anrührender freilich noch ist, was ihm, wie er 1953 zum 60. Geburtstag von Hans Fallada schrieb, zu jener Zeit widerfuhr, „als wir die entlegensten Bezirke der deutschen Landwirtschaft nach Essbarem durchforschten, während uns zugleich die große Welt da draußen in niegekannten Werken moderner Literatur bestürzend aufgetan wurde“. Da saß er einmal in einem offenen Eisenbahnabteil und war, indes eine ihm gegenübersitzende „schon leicht amerikanisierte junge Dame“ ,Licht im August‘ von William Faulkner las“, in Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ versunken, und was dem kleinen Mann dort angetan wurde, verfehlte seine Wirkung auf diesen Leser nicht: „da wurde es mir ein wenig feucht in den Augen.“
Freilich, solche Bekenntnisse eines Lesers wollte der Privatdozent Blumenberg in den Düsseldorfer Nachrichten nur unter dem Pseudonym Axel Colly veröffentlichen, und dies vielleicht auch deshalb, weil er befürchten mochte, dass seine Würdigung von Falladas Fähigkeit, der „herzhaften Tapferkeit, die so wenig ausrichtet und doch das einzig Große enthält (…): sich selbst nicht aufzugeben“, literarisch eine Stimme zu verleihen, zu viel von ihm selbst hätte preisgeben können. Unter seinem eigenen Namen hat er, schon leicht amerikanisiert, hingegen große Essays über William Faulkner oder Ernest Hemingway veröffentlicht.
Gewiss haben aus dem Nachlass zusammengestellte Bände mit Texten über Goethe, Fontane, Ernst Jünger bereits wichtige Züge in der Physiognomie des Lesers Hans Blumenberg hervortreten lassen. Dennoch kommt dem jetzt erschienenen Band mit seinen Schriften zur Literatur aus den Jahren 1945 bis 1958 große Bedeutung schon deshalb zu, weil er einen erheblichen Beitrag zur intellektuellen Biografie des Philosophen als eines Lesers in den frühen Jahren der Bundesrepublik leistet. Dabei geht der Band mit einem Text auf signifikante Weise hinter diesen Zeitraum zurück: Im Anhang erscheint erstmals eine nicht weniger als 65 Seiten umfassende Abhandlung des 18-jährigen Schülers über Hans Carossa, und man tut gut daran, die Lektüre des Bandes mit diesem Aufsatz trotz seines superlativischen Stils, der unablässig das Höchste und Tiefste beschwört, trotz der großen geistesgeschichtlichen Formeln und der breiten Textparaphrasen zu beginnen. Denn er zeigt, wie emphatisch und identifikatorisch der junge Blumenberg gelesen hat, ja dass das Versinken in der Gegenwelt der Lektüre für ihn im Jahre 1938, im Falle Carossas verbunden mit dem religiösen Bekenntnis, ein Akt von existenzieller Bedeutung war. Man kann nur darüber spekulieren, was es für ihn, dessen Mutter jüdischer Herkunft war, in dieser Zeit umfassender Gefährdung seiner physischen und geistigen Zukunft bedeutet haben mag, seinen Entwurf von „Carossas geistiger Gestalt“ auf dessen Bild des „Menschen in Rüstung“ zulaufen zu lassen, das Carossa in seinem Roman „Der Arzt Gion“ „zum Bild der geistigen Festung ausgeweitet“ habe, um dann seinen Text mit einem schmalen Abschnitt „Geistgeweihte Zukunft“ abzuschließen. Schon in diesem Text zeigt sich, dass den Leser Blumenberg literarische Werke vor allem deshalb faszinierten, weil sie für ihn Träger ideeller Gehalte waren; die „höchste Fähigkeit des Dichters“ sei, so statuierte der jugendliche Leser, darin „beschlossen, auch das Unscheinbarste aufglänzen zu lassen im Lichte einer Idee“, und so sei der Dichter denn „befähigt, die Idee aus dem sklavischen Bann der grauen Dinge zu erlösen“. Der lesende Philosoph hat sich dies, wenngleich in weniger emphatischer Sprache, in seinen späteren Jahren auf vielfache Weise zunutze gemacht.
Lässt sich nicht auch in einer Wendung wie derjenigen, dass „in Bild und Klang eines jeden Wortes, nicht nur in seinem begrifflichen Inhalt“ „die dichterische Aussage enthalten“ sei, bereits der künftige Metaphorologe erkennen? Allerdings gibt der frühe Carossa-Aufsatz in seinem Desinteresse an Fragen der künstlerischen Form und an allen Problemen der ästhetischen Verfasstheit literarischer Texte auch schon ein Charakteristikum der Aufsätze des späten Blumenberg über Werke der Dichtung zu erkennen; so oft er zum Beispiel über die „Marienbader Elegie“ geschrieben haben mag, so entschieden verharrte er doch immer in deren biografischem oder ideengeschichtlichem Vorhof, und auch in den hier zusammengestellten frühen Schriften zur Literatur spielen Beobachtungen zu Form und ästhetischer Gestalt der besprochenen Texte nur eine marginale Rolle. Die Bedeutung der Literatur bestand für ihn, den späteren Philosophen der Metapher und des Mythos, vor allem darin, dass sie ein Erkenntnismedium sui generis darstellt, das seine diagnostische Kraft oft erheblich vor der begrifflichen Reflexion zu entfalten vermag. Er hat dies schon 1950 in seinem Vortrag „Das Problem des Nihilismus in der deutschen Literatur der Gegenwart“ ausgesprochen: Die moderne Dichtung „ist der philosophischen Analyse fast überall weit vorausgeeilt und hat Phänomene und Probleme sichtbar gemacht, an die sich das Denken nur allmählich heranzutasten vermag“. Es war dieser Befund, der den jungen Privatdozenten immer wieder in Zeitungen wie den Düsseldorfer Nachrichten und den Bremer Nachrichten und in der katholischen Zeitschrift Hochland mit hohem Qualitätsbewusstsein gleichsam im Vorfeld der Philosophie über moderne Dichtung nachdenken ließ. Wie weit er dabei im Einzelnen noch von seiner späteren Philosophie entfernt gewesen ist, lässt sich freilich daran ermessen, dass er es in einem Artikel zum 80. Geburtstag Thomas Manns fertigbrachte, dessen Roman „Joseph und seine Brüder“ – für den Autor von „Arbeit am Mythos“ doch wohl dessen wichtigstes Werk – mit keinem Wort zu erwähnen.
Freilich konnte die Literatur ihre diagnostische Kraft im Hinblick auf die Probleme der modernen Wirklichkeit für Blumenberg nur dann entfalten, wenn sie sich nicht mit philosophischen Traditionsbeständen und Ansprüchen auflud. Darin gründete seine Distanz zur zeitgenössischen deutschen Literatur. Diese sei „in ihrer Gestaltung der Zeitphänomene philosophisch außerordentlich vorbelastet. Sie bringt es nicht zu der unreflektierten Unbefangenheit, die sich ganz dem Bezug zur Wirklichkeit öffnet.“ Der Leser darf sich also nicht darüber wundern, dass Namen wie Robert Musil oder Hermann Broch in diesen Schriften nicht auftauchen. Unter den deutschsprachigen Autoren der Moderne brachte Blumenberg uneingeschränkte Bewunderung nur Franz Kafka entgegen, der dem neuzeitlichen „faustischen“ Bewusstsein universeller Objektivierbarkeit und Machbarkeit der Welt in „apokalyptischen Bildern“ ein Ende gesetzt habe.
Zu Ernst Jünger trat Blumenberg im hier dokumentierten Jahrzehnt in wachsende Distanz. Seinen Wirklichkeitshunger sättigte er dagegen bevorzugt an der modernen angelsächsischen Literatur: an Graham Greene und Evelyn Waugh, an Ernest Hemingway, T. S. Eliot und William Faulkner, denen er große Essays widmete. Sie zu lesen lohnt sich auch heute noch, weil er sich in ihnen jeweils auf der Grundlage der Kenntnis des Gesamtwerks, soweit es ihm verfügbar war, mit philosophisch-theologischer Begriffsschärfe um die Herausarbeitung werkkonstitutiver zentraler Gedankenfiguren und der fundamentalen Werkproblematik bemühte. In dem kritischen Essay über Eliot hat Hans Blumenberg fast en passant zu einer Wesensbestimmung der Dichtung gefunden, die wie nichts sonst zu erklären hilft, was dem Philosophen die Lektüre großer Poesie unentbehrlich machte: „weil Dichtung, wie Kunst überhaupt, es mehr mit der Wahrheit zu tun hat, deren wir bedürfen, als mit der, die wir schon besitzen.“
„Es wird“, so hat 1950 – im Jahr seiner Habilitation – schon der Dreißigjährige in seinem Vortrag über das Nihilismusproblem geschrieben, „deshalb immer eine echte Aufgabe philosophischer Besinnung sein, die in der Kunst und Dichtung bezeugte Erfahrung sorgfältig abzuhören und sich von dem als echtes Zeugnis Erkannten in der Richtung des Denkens, des Ansatzes der Fragen bestimmen zu lassen.“ Der Philosoph hat sich konsequent daran gehalten und deshalb bei den Hörern seiner Vorlesungen ein weltliterarisches Bewusstsein vorausgesetzt. In dem 1958 erschienenen Essay über Faulkner (dem letzten in dieser Sammlung) zitiert er den amerikanischen Autor: „Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist nicht einmal vergangen.“ Und lässt hierauf den Ausruf folgen: „Das ist genau die Formel des Mythos!“ Gelegentlich drängt sich der Eindruck auf, Hans Blumenberg habe erst in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der modernen Literatur zu Grundfragen seines Denkens und zur Sicherheit seines Stils gefunden.
Der Welt- und Lebenshunger der
Nachkriegszeit wird sich in seinen
Lektüren Bahn gebrochen haben
Beobachtungen zu Form und
ästhetischer Gestalt der Texte
spielen nur eine marginale Rolle
Vor allem die angelsächsische
Literatur sättigte
seinen Wirklichkeitshunger
Philosoph Hans Blumenberg (1920–1996)
Foto: Peter Zollna/Suhrkamp Verlag
Hans Blumenberg: Schriften zur Literatur. 1945-1958. Herausgegeben von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 371 Seiten,
32 Euro. E-Book 27,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Bereits der junge Blumenberg ist ein hingebungsvoller Leser mit ästhetischem Gespür ... « Helmut Mayer Frankfurter Allgemeine Zeitung 20170505