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Vorführeffekt: Ulrich Woelk schließt Geschlecht und Charakter kurz
Was ist so schlimm daran, Astrophysiker zu sein? Den Kölner Ulrich Woelk hielt es nicht in diesem Metier: Die Kunst rief. Acht Bücher hat er schon vorgelegt, ohne damit allzu große Bekanntheit zu erlangen. In seinem Erstling von 1990, "Freigang", sowie in dessen Fortsetzung von 2005, "Die Einsamkeit des Astronomen", thematisierte er unter anderem, was so schlimm daran ist, Astrophysiker zu sein: Ein desillusionierter Vertreter dieser Spezies macht diverse Lebenskrisen durch, weil Emotionen und wissenschaftliche Selbstbetrachtung einfach nicht zur Deckung kommen wollen. Einmal hält er gegen die Realität an der Lüge fest, er habe seinen Vater ermordet: ein Kurzschluss von "Homo faber" und "Stiller".
Durch Hartnäckigkeit zu den Sternen (zurück), scheint sich Woelk zu denken - und legt seinen nächsten Roman vor: "Schrödingers Schlafzimmer", wieder angereichert mit physikalischem Wissen. Wieder steht eine Lebenskrise im Mittelpunkt. Je genauer man hinschaut, desto unschärfer wird jedes Problem (so weit noch Heisenberg), und am Ende weiß man so wenig wie bei der Katze des Physikers, ob die ehelich-sexuellen Hindernisse nun eigentlich da sind oder nicht, ob die Beziehung (im Überlagerungszustand) lebt oder tot ist. Deshalb lässt man am besten einfach den Kasten zu und zwingt nichts herbei - wenn einem da nicht die Natur, die emotionale, in die Quere käme.
Man wird bei "Schrödingers Schlafzimmer" den Eindruck eines Schulphysikexperiments nicht los, bei dem passiert, was immer passiert: der Vorführeffekt. Die Übersetzung von Theoriefragmenten in Handlung hat intellektuellen, aber kaum erzählerischen Charme. Wie sich Materie im subatomaren Bereich verhält, sagt eben wenig aus über das Verhalten sublunarer Zweibeiner. Woelk schildert den unerwarteten Zusammenprall eines Paares - Doris und Oliver, dessen Beziehung mit der Zeit ermattet ist - mit dem Prinzip Romantik, das in Gestalt von Balthasar Schrödinger, Enkel des Physikers, urplötzlich auftaucht und die gesamte Nachbarschaft verzaubert. Schrödinger, "ein großer, heller, aus zarten Rosétönen modellierter Mann, der auf die sechzig zuging", ist tatsächlich Zauberer, zudem Verbalgrapscher und passionierter Klugscheißer: "Wussten Sie, dass wohnen sprachlich mit dem Verb gewinnen zusammenhängt, das auf die indogermanische Wurzel wen zurückgeht, die ursprünglich die Bedeutung von verlangen, begehren, lieben hatte?" Nein, wusste niemand. Der eifersüchtige Ehemann ergeht sich in kleinlauter Ablehnung, die ihm zugestanden wird, aber ins Leere läuft, weshalb er, eine Affäre witternd, bald die Herausforderung anzunehmen gesinnt ist: Er verspricht, zum siebten Geburtstag seines Sohnes Jonas eine Zaubervorstellung zu geben, die jedoch eine ungeheure Blamage wird und zum Zerwürfnis führt. Oliver nutzt kurzentschlossen das kursierende Gerücht, er habe eine Geliebte, um als wahrer Verführer zu erscheinen, und die Ehekrise steuert auf ihren Höhepunkt zu.
Gegen den Plot ist bis auf den etwas hochgehängten Kindergeburtstag und die Antithesenobsession wenig einzuwenden. Die Probleme beginnen bei der Ausfüllung - was für ein klischeehaftes Personal! Die Stimmungen, Meinungen, Dialoge scheinen rein mechanisch, meinetwegen auch quantenmechanisch heruntergeschrieben wie ein standardisierter Praxistest. Nichts am Kampf des "Herrn des Sehens" - Oliver Schwarz ist Optiker - gegen den (Kalauer!) "Herrn der Stäbe" beziehungsweise gegen sein Loser-Image ist interessant: Er rätselt über Kinder-Zaubertricks und lässt Google nach "Renaissance" und "Kurtisane" suchen, landet aber nicht (wie man selbst) bei "Hausarbeiten.de", sondern bei Tullia d'Aragona - und verliert bald den Verstand.
Der Zauberer ist so erotisch wie ein Teilchenbeschleuniger, eine Phrasendreschmaschine ohne jeden erkennbaren Charakter, deren Doziererei gleichwohl die Frauen in Bann schlägt. Doris, öde Do genannt, nimmt stoisch alle Belehrungen hin, als hätte sie sich damit abgefunden, als dummes Huhn auf die Welt gekommen zu sein, andererseits erweist sie sich als selbstbewusste "femme totale". Gefühlsnahe Damen und verkopfte Kerle: Otto Weiningers "Geschlecht und Charakter" scheint Pate gestanden zu haben.
Rhetorische Hinkelsteine hat Woelk vor allem um die Zauberei aufgetürmt, die sich ständig zu entscheiden haben, ob sie zur Seite des Kitsches oder zur Seite der Abgeschmacktheit herunterbollern, und meistens, ganz nach Schrödinger-Art, beides zugleich tun. "Guter Sex war eine Art von Zauberei" - ein Satz wie ein ausgewrungener Putzlappen, der gleichwohl von tiefenpsychologischer Unentrinnbarkeit ist, denn bald muss auch Do erschreckt feststellen, "dass das, wonach Frauen sich sehnten, nicht Männer waren (davon gab es genug), sondern Zauberer". Männer sehen es angeborenermaßen instrumenteller: Was "das Zaubergerät" Brille kann, das kann die Natur schon lange: "eine Zauberei aus dem Nichts".
Es bleibt bei so viel Magie ex nihilo nicht aus, dass man schließlich im magischen (Ich-)Theater landet, wo schon der Steppenwolf Harry Haller umerzogen wurde. Auch diese schwülstige Traumszene bleibt indes vom Format Hermann Hesses weit entfernt. Man könnte eher von einer enzyklopädisch erweiterten Gaby Hauptmann sprechen. Das ist bedauerlich, weil Woelk, intellektuell seinem Thema sicher gewachsen, immer wieder bis zu jenem Punkt vorstößt, an dem das freie Erzählen eigentlich begänne. Auch einige Reformulierungen des Leitthemas sind durchaus gelungen, wirken nicht artifiziell: "Do schritt durch den Metalldetektor, und nichts geschah: Sie war nicht da. Von einem bestimmten technischen Standpunkt aus gab es sie überhaupt nicht." Nicht da zu sein reicht aber nicht.
OLIVER JUNGEN.
Ulrich Woelk: "Schrödingers Schlafzimmer". Roman. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006. 320 S., br., 14,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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