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Ein Buch wie eine Wundertüte: Der Tenor Ian Bostridge deutet Schuberts Liederzyklus "Winterreise" wie noch keiner vor ihm.
Von Eleonore Büning
Der Winterreisende von Wilhelm Müller und Franz Schubert ist ein noch junger Mann. Sehr wahrscheinlich ist er auch, anders als Schubert es war, kerngesund. Es gibt jedenfalls keinen Hinweis auf Schwindsucht oder dergleichen, nicht einmal auf einen Schnupfen. Trotz seiner Jugend aber denkt der Winterreisende ständig ans Sterben, und es begegnen ihm auf seiner Wanderschaft allerlei Vorboten des Todes, schwarze Krähen, irre Hunde, Nebensonnen, Eiswüsten und schließlich, im allerletzten Lied, der Tod selbst.
Der ist allerdings auch politisch interpretierbar: als ein gesellschaftliches Aus. Denn der Geselle, dem der Lindenbaum mit seinen Blättern das Lied vom Tod zurauscht, den das Leben aus der Bahn warf und der jetzt im Begriff steht, den Anschluss an eine geordnete bürgerliche Existenz für immer zu verpassen, er wandert durch die erstarrende Landschaft der Restaurationszeit. Die Krähen könnten auch Spitzel der Metternichschen Geheimpolizei sein. Kälte und Eis sind seit je geläufige, zur Schubertzeit jedoch, von Heine bis Andersen, fast schon gemeinplätzig gewordene Metaphern für die politische Stagnation. Auch Franz Schubert selbst, der alles andere als ein kämpferischer Burschenschaftler war (so wie einige seiner Freunde, etwa der Dichter Johann Senn), geriet ja etliche Male in Konflikt mit der Zensur.
Solcherlei Erkenntnisse über den politischen Kontext der Schubert-Müllerschen Liebeskummerlyrik sind nicht neu. Die einschlägige Literatur dazu, entstanden vor allem als musikwissenschaftliches Echo der Achtundsechziger, taucht jetzt wieder auf in der langen, bunten Bücherliste im Anhang des Buchs, das der britische Tenor Ian Bostridge geschrieben hat. Darunter die schon lange vergriffene Studie "Schubert und das Wirtshaus" von Frieder Reininghaus, aus dem Jahr 1979. Bostridge nimmt direkt Bezug darauf in seiner Exegese der letzten Strophe des Liedes "Rast" aus dem ersten Teil der "Winterreise", in der er eine "neue, rebellische Wildheit" wittert, die "von der unterdrückten Tatkraft und der Qual jener zeugt, die nicht zu handeln wagten". Oder wenn ihn das Lied "Gefrorene Tränen" zu einem Exkurs über Napoleons Rückzug aus Moskau inspiriert: "Die Winterreise mag uns an vergangene Kriege erinnern", schreibt Bostridge, "aber auch an einen eingefrorenen Frieden." Von hier schweift er weiter zu Tolstois "Krieg und Frieden", dann zu Anton von Werners "Im Etappenquartier vor Paris, 24. Oktober 1870", ein Gemälde, das festhält, wie preußische Soldaten für die französischen Dienstmädchen am aufgeklappten Flügel ein Schubertlied singen. Und ergänzt wird das Panorama durch einige Zitate aus Slavoj Zizeks Essay "Lenin als Schubertianer".
Bostridge war in seinem ersten Leben, bevor er seiner Stimme vertrauen lernte und sich ganz auf die Sängerkarriere warf, als promovierter Historiker Dozent in Oxford. Er hat, um die "Winterreise" zu analysieren, außer den literarischen und musikwissenschaftlichen auch noch ganz andere Quellen angezapft, theologische, psychologische, philosophische, physikalisch-naturwissenschaftliche und kunsthistorische. Und er streut natürlich auch persönliche Sängeranekdoten in die Erzählung ein, wohl wissend, was er seinen Fans schuldig ist.
Im Ergebnis wirkt dieses Buch wie ein Labyrinth. Es führt von den Fragen, die sich einem klugen Sänger stellen, wenn er diesen "Zyklus schauerlicher Lieder" zum vielleicht hundertsten Mal öffentlich vorträgt, zu den Antworten, die er sich als Forscher und Historiker selbst geben kann. Bostridge mäandert von Lied zu Lied, von Bild zu Bild, von einem Erklärungsmodell zum nächsten. Er schlägt manchmal abenteuerliche Umwege ein, aber wer ihm dabei folgt, dem kann plötzlich ein Licht aufgehen. Zum Beispiel: Das bekannte Bild vom "Chasseur im Walde", 1814 gemalt von Caspar David Friedrich. Dass der französisches Soldat nie wieder lebend herausfinden wird aus diesem deutschen Wald, weiß natürlich außer Schubert auch die Krähe, die auf dem toten Baumstumpf im Vordergrund hockt. Oder: die "Sechs Kissenstudien" von Albrecht Dürer von 1493, die Bostridge kommentarlos seiner Analyse des Liedes "Im Dorfe" voranstellt. "Die Menschen schnarchen in ihren Betten", heißt es bei Wilhelm Müller, Schubert hat diesen Satz umgestellt und aus phonetischen Gründen ein Wort ausgewechselt: "Es schlafen die Menschen . . . eine Nuance. Quer dazu steht aber das Hund-Grollen im Bassregister des Klaviersatzes, Bosridge findet die Klarheit dieser musikalischen Albtraum-Malerei "fast disneyartig". So schnurren die Jahrhunderte zusammen unter dem Brennglas seiner Betrachtung.
Auf nur wenigen Seiten spinnt er den Faden von Thomas Mann zu Homer Simpson und von dort über Proust und Mahler zurück zum Lindenbaum. Dieser Schubertliederzyklus ist für Bostridge "wie eine Flaschenpost, die 1828 in die Fluten des kulturellen Ozeans geworfen wurde". Er entkorkt sie, entziffert sie, befragt sie: "Was hat sie mit unseren gegenwärtigen Anliegen zu tun? Wie tritt sie, wenn auch unerwartet, mit uns in Verbindung?"
Es gibt etliche Sängerbekenntnisbücher, auch Analytisches über Schuberts Liederzyklen verfasst von Musikern wie Gerald Moore oder Dietrich Fischer-Dieskau. Aber ein Wundertütenbuch wie dieses, das gab es bisher noch nicht. Ian Bostridge hat es sich selbst Ende letzten Jahres zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt. Kaum zu glauben: ein halbes Jahrhundert! Dieser Sänger gehört ja zu denen, die exemplarisch ewige Jugend verkörpern. Sein märchenprinzenhaftes Auftreten, die stahlblauen Augen, der frische Schmelz seiner quellklaren Jünglingsstimme, dazu die feurigen Manierismen in seinen Interpretationen, all das schafft die Illusion, dass er, wie die Elben aus Bruchtal, das Altern nicht kennt.
Nicht mal neun Monate nach der Originalausgabe liegt das Buch jetzt in deutscher Übersetzung vor. Freilich, wenn ein Brite für britische Leser deutsche Lyrik analysiert, kann es bei der Rückübertragung seiner Argumente ins Deutsche leicht zu Umständlichkeiten kommen. Man sollte sich als Leser daran nicht stoßen. Dass man dabei auch umgangssprachlichen Formulierungsmoden begegnet, wäre "nicht wirklich" nötig gewesen. Schmerzlich vermisst wird ein Personen- und Sach-Register.
Ian Bostridge: "Schuberts Winterreise". Lieder von Liebe und Schmerz.
Aus dem Englischen von Annabel Zettel. Verlag C. H. Beck, München 2015. 405 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Franz Adam, Münchner Feuilleton, Dezember 2015
"Die Lektüre von Bostridges Buch wird den Leser hellhöriger und empfänglicher machen für Schuberts Meisterwerk."
Joachim Kronsbein, Literatur Spiegel, Dez 15/Jan 16
"Kenntnisreich, lebendig und im schönsten Sinne unterhaltend."
Alfred Brendel, Die Zeit, 26. November 2015
"Selten vereint ein Buch auf diesem Niveau historisches Wissen und musikalische, gut nachvollziehbare Analysen mit Einblicken in die Arbeit eines Ausnahmesängers."
Dagmar Penzlin, Deutschlandfunk, 6. Oktober 2015
"Schuberts 'Winterreise' hören und das Buch von dem englischen Sänger Ian Bostridge dazu lesen - etwas Schöneres kann man in diesem Herbst kaum tun."
Johan Schloemann, Süddeutsche Zeitung, 13. Oktober 2015
"Ein Wundertütenbuch wie dieses, das gab es bisher noch nicht."
Eleonore Büning, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Oktober 2015
"Ein Glück für die interessierte Leserschaft (...) Ein Buch klar wie Quellwasser, mit eben jener Präzision und Liebe verfasst, von der auch die Interpretation des Sängers zeugen."
Corinne Holtz, Neue Züricher Zeitung, 27. September 2015
"Der Tenor Ian Bostridge hat eine Einführung in Schuberts 'Winterreise' geschrieben - und rührt darin an das Geheimnis von Kunst überhaupt. Über den Glücksfall eines Musikbuchs."
Lucas Wiegelmann, Welt am Sonntag, 6. September 2015
"Ein unfassbares Buch. Eine Wunderkammer."
lmar Krekeler, Literarische Welt, 5. September 2015