Race, Sex, Gender: Die erstaunlichen Hintergründe für die Diskussion unserer Gegenwart und der Beginn der modernen Anthropologie um Franz Boas, Margaret Mead und Claud Lévi-Strauss Race, Sex, Gender: Mit diesen Begriffen wird heute gegen Diskriminierung gekämpft. Dass die Biologie den Menschen nicht auf eine bestimmte Rolle festlegt und keine Kultur anderen überlegen ist, erkannte freilich schon eine rebellische Gruppe junger Wissenschaftler um den Ethnologen Franz Boas (1858-1942). Ihre Forschungen widerlegten die Lehren der Rassekundler. Boas selbst unternahm schon früh eine Expedition in die Arktis, erforschte Eskimos und Indianer. Als Professor in New York begründete er die moderne Anthropologie: Margaret Mead und Claude Lévi-Strauss verehrten ihn als Lehrer, die Nationalsozialisten verbrannten seine Bücher. Boas und sein Kreis begründeten ein Menschenbild, für das wir noch heute kämpfen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2020Wie formbar unsere Körper sind
Kultur und Biologie sind keine Gegensätze: Charles King wandelt auf den Spuren des Ethnologen Franz Boas und drei seiner Schülerinnen.
Für konservative Kulturkritiker, vor allem in den Vereinigten Staaten, ist kultureller Relativismus eine der schlimmsten Sünden. Er untergrabe die Grundlagen unserer Gesellschaftsordnung, der Sittlichkeit und der Familie. In dieser Sicht ist die Kulturanthropologie die Wurzel des Bösen - und die Genderforschung eine Inkarnation der attackierten subversiven Lehre. Die Kulturanthropologie, wie sie heute betrieben wird, hat eine komplizierte Geschichte, doch wird sie vor allem mit Franz Boas (1858 bis 1942) und seiner Schule in Verbindung gebracht. Charles King bietet in seinem Buch eine flott erzählte und dennoch fundierte Darstellung des Wirkens von Boas und drei seiner bedeutendsten Schülerinnen - Margaret Mead (1901 bis 1978), Ruth Benedict (1887 bis 1948) und der weitgehend vergessenen Zora Neale Hurston (1891 bis 1960).
Der aus Minden stammende Boas siedelte nach einem naturwissenschaftlichen Studium, einer Promotion in Meeresphysik und einer Expedition in die Arktis 1886 in die Vereinigten Staaten über und begann dort eine akademische Karriere. Im Jahr 1899 wurde er zum Professor für Anthropologie an der Columbia University in New York ernannt, eine Stelle, die er bis zu seiner Emeritierung 1936 innehatte. Er erforschte vor allem indigene Völker in der amerikanischen Arktis und interessierte sich anfänglich besonders für die Zusammenhänge zwischen Umwelt und menschlichem Verhalten. Dabei blieb er zunächst im disziplinären Rahmen der Geographie, die jedoch auch ethnographische und ethnologische Aspekte miteinbezog. Am bekanntesten ist Boas für seinen Kampf gegen Evolutionismus, Anthropometrie und wissenschaftlichen Rassismus. King beschreibt, wie Boas - der Mathematik und Physik studiert hatte und damit vielen Anthropometrikern methodologisch weit überlegen war - vor allem durch seine Erfahrung in der Arktis zu dem Schluss gelangte, die menschliche Kultur und der menschliche Körper seien ausgesprochen formbar. Die Hierarchisierung von Kulturen und Körpern hatte für Boas keine wissenschaftliche Grundlage.
Boas hatte durch seine Schülerinnen und Schüler enormen Einfluss auf die Anthropologie des zwanzigsten Jahrhunderts. Indem sich King auf Mead, Benedict und Hurston konzentriert, kann er zeigen, wie diese Anthropologinnen ihre Wissenschaft dazu nutzten, die Möglichkeiten der eigenen Kultur zu erweitern: Sie illustrierten, wie andere Kulturen die Dilemmata von Geschlecht und Gender, Autonomie und Eifersucht oder Gemeinschaft und Individualität zu lösen versuchen. Margaret Mead pflegte ein wildes Liebesleben, sie war mehrfach verheiratet und die Liebhaberin der ebenfalls verheirateten Ruth Benedict. Die Radikalität ihrer Arbeiten wird erst offenbar, wenn man sich verdeutlicht, dass trotz der Schriften von Boas und seiner Schule Eugenik bis in die zwanziger Jahre an Universitäten gelehrt wurde, während die Abschaffung der Rassentrennung noch Jahrzehnte auf sich warten ließ.
Diesen Hintergrund leuchtet King aus, sobald er sich Zora Neale Hurston widmet. Als intellektuelle, nonkonformistische Afroamerikanerin hatte sie es in den zwanziger Jahren besonders schwer. King schildert ihr literarisches und wissenschaftliches Wirken, wobei sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs langsam in Vergessenheit geriet. In den siebziger Jahren wurde Hurston postum gewürdigt, auch dank der Anstrengungen Alice Walkers, die sie als "eine der bedeutendsten ungelesenen Autorinnen Amerikas" bezeichnete. Mead, die ihre beiden Gefährtinnen überlebte, wurde das öffentliche Gesicht des Fachs und war mit fast allen zeitgenössischen Spezialisten der Humanwissenschaften vernetzt.
Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts erlebte die Kulturanthropologie jedoch eine tiefe Krise. Sie wurde mit dem erkenntnistheoretischen Relativismus postmoderner Philosophien zusammengeworfen. Der Anthropologe Derek Freeman lastete Margaret Mead an, in Samoa einem Streich ihrer Informantinnen aufgesessen zu sein; Soziobiologen und evolutionäre Psychologen behaupteten, biologisch fundierte Gemeinsamkeiten seien wichtiger als kulturelle Unterschiede. Obwohl Freemans Vorwürfe als gegenstandslos entlarvt wurden, ist Meads Ruf bis heute beschädigt.
Diese Gefechte dauern mit geringerer Intensität immer noch an - Autoren wie Steven Pinker oder Richard Dawkins definieren mit diesen Angriffen ihre professionelle Identität -, doch in der wissenschaftlichen Praxis haben sich kulturelle und biologische Betrachtungsweisen angenähert. Kultur und Biologie sind keine Gegensätze, sondern in der flexiblen Formung des Menschen untrennbar verwoben. Das Erbe von Franz Boas und seinen Schülerinnen und Schülern wird so schnell nicht von der Bildfläche verschwinden.
THOMAS WEBER
Charles King:
"Schule der Rebellen".
Wie ein Kreis verwegener
Anthropologen Race, Sex und Gender erfand.
Aus dem Englischen von
Nikolaus de Palézieux.
Hanser Verlag, München 2020. 480 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kultur und Biologie sind keine Gegensätze: Charles King wandelt auf den Spuren des Ethnologen Franz Boas und drei seiner Schülerinnen.
Für konservative Kulturkritiker, vor allem in den Vereinigten Staaten, ist kultureller Relativismus eine der schlimmsten Sünden. Er untergrabe die Grundlagen unserer Gesellschaftsordnung, der Sittlichkeit und der Familie. In dieser Sicht ist die Kulturanthropologie die Wurzel des Bösen - und die Genderforschung eine Inkarnation der attackierten subversiven Lehre. Die Kulturanthropologie, wie sie heute betrieben wird, hat eine komplizierte Geschichte, doch wird sie vor allem mit Franz Boas (1858 bis 1942) und seiner Schule in Verbindung gebracht. Charles King bietet in seinem Buch eine flott erzählte und dennoch fundierte Darstellung des Wirkens von Boas und drei seiner bedeutendsten Schülerinnen - Margaret Mead (1901 bis 1978), Ruth Benedict (1887 bis 1948) und der weitgehend vergessenen Zora Neale Hurston (1891 bis 1960).
Der aus Minden stammende Boas siedelte nach einem naturwissenschaftlichen Studium, einer Promotion in Meeresphysik und einer Expedition in die Arktis 1886 in die Vereinigten Staaten über und begann dort eine akademische Karriere. Im Jahr 1899 wurde er zum Professor für Anthropologie an der Columbia University in New York ernannt, eine Stelle, die er bis zu seiner Emeritierung 1936 innehatte. Er erforschte vor allem indigene Völker in der amerikanischen Arktis und interessierte sich anfänglich besonders für die Zusammenhänge zwischen Umwelt und menschlichem Verhalten. Dabei blieb er zunächst im disziplinären Rahmen der Geographie, die jedoch auch ethnographische und ethnologische Aspekte miteinbezog. Am bekanntesten ist Boas für seinen Kampf gegen Evolutionismus, Anthropometrie und wissenschaftlichen Rassismus. King beschreibt, wie Boas - der Mathematik und Physik studiert hatte und damit vielen Anthropometrikern methodologisch weit überlegen war - vor allem durch seine Erfahrung in der Arktis zu dem Schluss gelangte, die menschliche Kultur und der menschliche Körper seien ausgesprochen formbar. Die Hierarchisierung von Kulturen und Körpern hatte für Boas keine wissenschaftliche Grundlage.
Boas hatte durch seine Schülerinnen und Schüler enormen Einfluss auf die Anthropologie des zwanzigsten Jahrhunderts. Indem sich King auf Mead, Benedict und Hurston konzentriert, kann er zeigen, wie diese Anthropologinnen ihre Wissenschaft dazu nutzten, die Möglichkeiten der eigenen Kultur zu erweitern: Sie illustrierten, wie andere Kulturen die Dilemmata von Geschlecht und Gender, Autonomie und Eifersucht oder Gemeinschaft und Individualität zu lösen versuchen. Margaret Mead pflegte ein wildes Liebesleben, sie war mehrfach verheiratet und die Liebhaberin der ebenfalls verheirateten Ruth Benedict. Die Radikalität ihrer Arbeiten wird erst offenbar, wenn man sich verdeutlicht, dass trotz der Schriften von Boas und seiner Schule Eugenik bis in die zwanziger Jahre an Universitäten gelehrt wurde, während die Abschaffung der Rassentrennung noch Jahrzehnte auf sich warten ließ.
Diesen Hintergrund leuchtet King aus, sobald er sich Zora Neale Hurston widmet. Als intellektuelle, nonkonformistische Afroamerikanerin hatte sie es in den zwanziger Jahren besonders schwer. King schildert ihr literarisches und wissenschaftliches Wirken, wobei sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs langsam in Vergessenheit geriet. In den siebziger Jahren wurde Hurston postum gewürdigt, auch dank der Anstrengungen Alice Walkers, die sie als "eine der bedeutendsten ungelesenen Autorinnen Amerikas" bezeichnete. Mead, die ihre beiden Gefährtinnen überlebte, wurde das öffentliche Gesicht des Fachs und war mit fast allen zeitgenössischen Spezialisten der Humanwissenschaften vernetzt.
Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts erlebte die Kulturanthropologie jedoch eine tiefe Krise. Sie wurde mit dem erkenntnistheoretischen Relativismus postmoderner Philosophien zusammengeworfen. Der Anthropologe Derek Freeman lastete Margaret Mead an, in Samoa einem Streich ihrer Informantinnen aufgesessen zu sein; Soziobiologen und evolutionäre Psychologen behaupteten, biologisch fundierte Gemeinsamkeiten seien wichtiger als kulturelle Unterschiede. Obwohl Freemans Vorwürfe als gegenstandslos entlarvt wurden, ist Meads Ruf bis heute beschädigt.
Diese Gefechte dauern mit geringerer Intensität immer noch an - Autoren wie Steven Pinker oder Richard Dawkins definieren mit diesen Angriffen ihre professionelle Identität -, doch in der wissenschaftlichen Praxis haben sich kulturelle und biologische Betrachtungsweisen angenähert. Kultur und Biologie sind keine Gegensätze, sondern in der flexiblen Formung des Menschen untrennbar verwoben. Das Erbe von Franz Boas und seinen Schülerinnen und Schülern wird so schnell nicht von der Bildfläche verschwinden.
THOMAS WEBER
Charles King:
"Schule der Rebellen".
Wie ein Kreis verwegener
Anthropologen Race, Sex und Gender erfand.
Aus dem Englischen von
Nikolaus de Palézieux.
Hanser Verlag, München 2020. 480 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Der Autor Charles King erzählt spannend und gut geschrieben die Geschichte seiner ProtagonistInnen: ihre Reisen, Kämpfe, Lieben, Leidenschaften, aber auch ihre Zweifel und Verirrungen. Vor allem erzählt er die Geschichte des Rassismus zur Hochzeit von Kolonialismus und Rassentheorie sowie dessen Unterhöhlung durch die neue Wissenschaft der Anthropologie." Edith Kresna, die tageszeitung, 10.10.20
"Elegant erzählte Wissenschaftsgeschichte ... Brillant verbindet der Autor die persönlichen und intellektuellen Geschichten von Franz Boas und seinen vier Forschungsassistentinnen und Starschülerinnen Margaret Mead, Ruth Benedict, Zora Neale Hurston und Cara Deloria ... ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit" Ina Boesch, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 28.06.20
"Dieses Buch muss gelesen werden! Es ist ein Vergnügen" Leander Scholz, Deutschlandfunk, 10.05.20
"Ein kenntnisreicher und lebendig erzählter Beitrag zur Geschichte der Ethnologie. Seine Darstellung zeigt, dass politische Verhältnisse, zeitgebundene Erkenntnismethoden und -interessen sowie die private Lebensführung der Akteure einen erheblichen Anteil daran haben, was jeweils als empirisch gesichertes Wissen gilt. Und sie verdeutlicht, wie gross der Anteil der Pionierinnen und Pioniere des Faches daran war, die Vorherrschaft patriarchalischer und rassistischer Auffassungen in Wissenschaft und Gesellschaft zu brechen." Thomas Wagner, Neue Zürcher Zeitung, 06.05.20
"Ein glänzend geschriebenes Buch ... Ein großes Verdienst dieses Buchs ist seine zeitkritische Vermessung des wissenschaftlichen Feldes, von dem es handelt. Damit betreibt King eine Art rückwärtsgewandte Ethnografie, in der auch die blinden Flecken der progressiven Welt sichtbar werden." Sebastian Fuchs, Die Welt, 25.04.20
"Charles King bietet in seinem Buch eine flott erzählte und dennoch fundierte Darstellung des Wirkens von Boas und drei seiner bedeutensten Schülerinnen - Margeret Mead, Ruth Benedict und der weitgehend vergessenen Zora Neale Hurston." Thomas Weber, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.03.20
"Elegant erzählte Wissenschaftsgeschichte ... Brillant verbindet der Autor die persönlichen und intellektuellen Geschichten von Franz Boas und seinen vier Forschungsassistentinnen und Starschülerinnen Margaret Mead, Ruth Benedict, Zora Neale Hurston und Cara Deloria ... ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit" Ina Boesch, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 28.06.20
"Dieses Buch muss gelesen werden! Es ist ein Vergnügen" Leander Scholz, Deutschlandfunk, 10.05.20
"Ein kenntnisreicher und lebendig erzählter Beitrag zur Geschichte der Ethnologie. Seine Darstellung zeigt, dass politische Verhältnisse, zeitgebundene Erkenntnismethoden und -interessen sowie die private Lebensführung der Akteure einen erheblichen Anteil daran haben, was jeweils als empirisch gesichertes Wissen gilt. Und sie verdeutlicht, wie gross der Anteil der Pionierinnen und Pioniere des Faches daran war, die Vorherrschaft patriarchalischer und rassistischer Auffassungen in Wissenschaft und Gesellschaft zu brechen." Thomas Wagner, Neue Zürcher Zeitung, 06.05.20
"Ein glänzend geschriebenes Buch ... Ein großes Verdienst dieses Buchs ist seine zeitkritische Vermessung des wissenschaftlichen Feldes, von dem es handelt. Damit betreibt King eine Art rückwärtsgewandte Ethnografie, in der auch die blinden Flecken der progressiven Welt sichtbar werden." Sebastian Fuchs, Die Welt, 25.04.20
"Charles King bietet in seinem Buch eine flott erzählte und dennoch fundierte Darstellung des Wirkens von Boas und drei seiner bedeutensten Schülerinnen - Margeret Mead, Ruth Benedict und der weitgehend vergessenen Zora Neale Hurston." Thomas Weber, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.03.20