Gaito Gasdanows Romane wurden von der Kritik als Sternstunde der Literaturgeschichte gefeiert – nun erscheinen erstmals seine besten Erzählungen auf Deutsch.
Genossin Brack hätte „vor unserer Zeit und in anderer historischer Umgebung zur Welt kommen müssen“ und der Exilrusse Pawlow beschließt, „sich genau am fünfundzwanzigsten August im Bois de Boulogne zu erschießen. „Schwarze Schwäne“ vereint Gaito Gasdanows beste Erzählungen und spannt den Bogen von der vorrevolutionären Zeit über die Sowjetepoche bis ins französische Exil. Wie in den Romanen liegen auch in den Erzählungen Lebensüberdruss und Gewalt ganz nah bei Schönheit und Verletzlichkeit. Und immer „versenkt man sich in einen Stil, dessen Makellosigkeit entwaffnend ist, und lernt Menschen kennen, für deren Seelenlandschaften man keine verlässlichen Karten mehr hat“ (Die Zeit).
Genossin Brack hätte „vor unserer Zeit und in anderer historischer Umgebung zur Welt kommen müssen“ und der Exilrusse Pawlow beschließt, „sich genau am fünfundzwanzigsten August im Bois de Boulogne zu erschießen. „Schwarze Schwäne“ vereint Gaito Gasdanows beste Erzählungen und spannt den Bogen von der vorrevolutionären Zeit über die Sowjetepoche bis ins französische Exil. Wie in den Romanen liegen auch in den Erzählungen Lebensüberdruss und Gewalt ganz nah bei Schönheit und Verletzlichkeit. Und immer „versenkt man sich in einen Stil, dessen Makellosigkeit entwaffnend ist, und lernt Menschen kennen, für deren Seelenlandschaften man keine verlässlichen Karten mehr hat“ (Die Zeit).
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Bettina Hartz wird die Figuren und Geschichten aus den von Rosemarie Tietze ausgewählten und übersetzten Erzählungen von Gaito Gasdanow nicht mehr los. Als tröstliches Winterbuch taugt der Band für sie schon wegen der melancholischen, doch nie sentimentalen Stimmung in den "meisterlichen" Geschichten aus dem russischen Bürgerkrieg, von Unglücklichen und Entwurzelten im Exil. Wie der Autor aus den russischen Klassikern und aus Joyce, Kafka und Proust einen ganz eigenen Ton entwickelt, wie er aus Assoziationen, Träumen, Reflexionen und Erinnerungen, Szenen und Dialogen schließlich glaubhafte Figuren entstehen lässt und das Wesentliche zeigt, ohne es zu benennen, das wirkt bei der Rezensentin lange nach.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.07.2021Das Gesetz der Unmöglichkeit
Gaito Gasdanow ist ein spät entdeckter Jahrhundertschriftsteller. Seine Erzählungen sind genauso brillant wie die Romane
Es gibt Bücher, denen man nur seine Liebe erklären kann. „Schwarze Schwäne“ ist so ein Buch. Neun Erzählungen von Gaito Gasdanow finden sich darin, zwischen 1927 und 1960 zunächst auf Russisch erschienen, ausgewählt und mit feinem Gehör für ihre Musikalität übersetzt von Rosemarie Tietze. Die meisten sind kürzer als dreißig Seiten, jede einzelne ein Einbruch der Schönheit und des Menschlichen in die absurde Welt; und jede ein Prisma, das die grelle Lichtflut der zerschellenden Moderne in ihre Farben aufspaltet.
Dann wieder eine Linse, die sie verdichtet, bis eine versunkene Epoche in anfangs nur geträumten Hawaiigitarren widerhallt. Die erklingen am Ende der gleichnamigen Geschichte tatsächlich. Aus einem Grammophon in einem Salon, dessen Bücherschrank mit dunklen Romantikern und Phantasten von Gogol bis Huysmans bestückt ist. Der Salon gehört einer „vielleicht dreißigjährigen Dame“, bei der man nach einer Beerdigung beisammensitzt. Auf dem Friedhof war es neblig und morastig, nun gibt es Champagner, „um zu vergessen“. „,Champagner?‘, dachte ich. ,Wie absurd!‘“
Die Schwester des Erzählers ist nach langem Siechtum gestorben. Seit Tagen schmerzen seine Füße von zu kleinen Schuhen. Sein Schwager und er dämmern betrunken vor sich hin. Die Worte eines Freundes, „ein ungewöhnlich begabter Künstler“, kommen ihm in den Sinn, Erinnerungen und Sinneseindrücke flimmern wie Lichter, die im Blinzeln zu abstrakten Formen verschwimmen.
Die Zeit verläuft nicht mehr linear, aber sie ist auch nicht gebrochen. Sie scheint vielmehr kunstvoll gefaltet. Als blickte man auf den Punkt, von dem der Urknall aller Erinnerung ausgeht. Es ist eine sanfte, aber ungeheure Präsenz, die der todmüde Rausch und die „Luftschwankungen“ der Fata-Morgana-haften Musik gebären. Die Gewalt der Vergänglichkeit steht einem vor Augen – eines Menschenlebens, des alten Russlands, eines ganzen Zeitalters.
Gasdanow hatte es 1923 ins Exil nach Paris verschlagen. In den Revolutionskriegen der entstehenden Sowjetunion war er, noch ein halbes Kind, Soldat der die Bolschewiki bekämpfenden Weißen Armee gewesen, konnte später in Bulgarien sein Abitur nachholen, bis er wie so viele russische Exilanten in der französischen Hauptstadt strandete. Er hielt sich mit allen möglichen Jobs über Wasser, studierte, fuhr nachts Taxi. Nebenher schrieb er unermüdlich.
Seine außergewöhnliche Begabung wurde früh erkannt. Mittlerweile sind mehrere seiner Romane im Hanser-Verlag erschienen. Trotzdem ist er, verglichen mit dem Superstar Nabokov, zumindest im deutschsprachigen Raum weiterhin ein Geheimtipp. Vielleicht, weil er auf Russisch schrieb. Vielleicht auch, weil die Intensität seiner Prosa oft eine leise ist. Sätze, melodiös wie die alten Romanzen, die in manchen der Geschichten gesungen werden, aber ohne deren Sentimentalität, stimmen den Ton einer warmherzigen Illusionslosigkeit und steter Reflexion an, niemals abgeklärt, immer teilnehmend, nur aus wechselnder Distanz.
Am tiefsten verstrickt in seine Träumereien ist wohl der Erzähler von „Hannah“. Dieses rothaarige Mädchen, das eine einzigartige Stimme hat, beißt ihm eines Tages beim Ringen übermütig in die Schulter und entschuldigt sich mit einem Kuss. Wenig später trennen die Revolutionswirren das junge Paar. Es entwickelt sich eine abstrakte Fernbeziehung per Brief, während Hannah in den USA eine Karriere als Sängerin beginnt und weltberühmt wird.
Als sie zu ihrem Jugendfreund nach Paris reist, steht dem Happy Ending eigentlich nichts mehr im Weg. Doch die Beziehung bleibt ihm fremd. Er muss erkennen, dass er chronisch gegen die Wirklichkeit rebelliert: „Ich wusste, dass Gefühle in reiner Form, wie ich sie auf der Bühne gesehen oder von denen ich gelesen hatte, im gewöhnlichen Leben fast nie vorkommen, ebenso wie keine Vorstellung rein als solche entstehen kann, ohne dass neben ihr ein paar unnötige Gefährten auftauchen; dies war das Gesetz der logischen Unmöglichkeit, und gerade dagegen protestierte ich stillschweigend mit aller Kraft.“
Es kommt ihm vor wie eine „Krankheit“, denn Hannah liebt er unverändert. Gasdanow schildert damit auch die seelischen Verwerfungen von Menschen, die ihre Heimat verloren haben. Die eingelegten Pilze schmecken im Exil nicht mehr, selbst die Muttersprache klingt irgendwie falsch. Man flüchtet sich in absonderliche Obsessionen. Wie Pawlow, den am Leben nichts mehr reizt außer den titelgebenden „schwarzen Schwänen“, denn sie repräsentierten eine „andere Geschichte der Welt, das ist eine Möglichkeit, alles, was existiert, anders zu verstehen“. In Australien soll es sie geben, doch ihm fehlen die Mittel, um auszuwandern. Er ist kein Spinner, sondern die personifizierte Gesundheit und Charakterstärke. Aber er „hatte wohl nie herausgefunden, wie er seine ungewöhnlichen Talente einsetzen könnte, und so blieben sie ungenutzt. Er hätte sich, glaube ich, als unübertrefflicher Schiffskapitän bewährt, doch nur unter der Voraussetzung, dass dem Schiff ständig Unfälle passiert wären“.
Sein einziger Ausweg: Suizid. „Lieber Fedja,“ lautet der Abschiedsbrief an seinen Bruder, „das Leben hier ist schwer und uninteressant. Ich wünsche Dir alles Gute. Mutter habe ich geschrieben, ich sei nach Australien gereist.“ Und ja, diese radikale Sachlichkeit ist natürlich sehr lustig, weshalb man nicht weniger berührt um den wackeren Pawlow trauert. Gerade weil fast alle Protagonisten existentiell Verlorene sind, kann Gasdanow ihrer unmöglichen Situation zuweilen nur mit Komik beikommen. Und darin ist er verdammt gut. Er liebt die Anekdote, spitzt sie gerne zur Parabel zu. Seine pointierten Beschreibungen sind oft komisch, ebenso die ausgefeilte Motivik. Das können zu enge Schuhe sein oder ein Papagei: „Pas vrai!“ (Gelogen!) kräht er unablässig, während die Helden auf Abwege geraten. „Genossin Brack“ erzählt die Tragödie des revolutionären Mordens als abgründigen Schwank. Drei junge Männer verehren besagte Tatjana Brack, deren Nachname auch auf Russisch nicht ganz koscher klingt.
Sie ist die „außereheliche Tochter eines reichen jüdischen Bankiers“ und hat ihren eigenen Kopf. Zu den dreien gehört Soikin, Spitzname „General“, der über enorme Körperkraft verfügt, Gewalt aber verabscheut. So wie Ferdinand, der Stier, an seinen Blümchen riecht, möchte der General nur friedlich seine Mandoline spielen. Weil er sich – ungebeten – als Beschützer Tatjanas aufführt, wird er jedoch immer wieder in Handgreiflichkeiten verwickelt. Dass sie mit einem anarchistischen Pianisten durchbrennt und bald darauf standrechtlich erschossen wird, kann er trotzdem nicht verhindern. Es hatte sich abgezeichnet. „Ein außerordentlich mutiges junges Mädchen“, stellt Soikins Freund Wila schon vor der verhängnisvollen Affäre fest: „Nicht einmal vor Geschlechtskrankheiten hat sie Angst.“
„Eine Seelenmesse“, der kürzeste und letzte Text des Bandes, spielt in einer Zeit, die Kategorien wie Glück kaum noch zu kennen scheint: „an einem Abend des grimmigen Winters 1942“ und wenigen darauffolgenden Wochen im besetzten Paris. Gasdanow war Mitglied der Résistance. Nach dem Krieg lebte er als Redakteur von „Radio Liberty“ auch in München, wo er 1971 starb. Elf Jahre zuvor wurde „Eine Seelenmesse“ erstmals gedruckt.
Die Messe soll für den verstorbenen Grigori Timofejewitsch gehalten werden. Als Schwarzmarkthändler war dieser Grischa, wie ihn zu Lebzeiten alle bloß nannten, während der Besatzung schlagartig reich geworden, aber unglücklich geblieben. Die Deutschen kauften sämtliche Waren, die sich auftreiben ließen. Ein paar findige, zuvor bettelarme Russen verfügten über die nötigen Kontakte und Fähigkeiten. So auch Wolodja, der unverhofft davon profitierte, dass er sich Jahre zuvor aus reinem Interesse umfassende Kenntnisse der Metallurgie angeeignet hatte.
Ihm ist es gelungen, einen kleinen Chor für die Messe zu versammeln. Sie findet in der Wohnung des Verstorbenen statt. „Nirgends und niemals, weder davor noch danach, habe ich einen solchen Chor gehört. Nach einiger Zeit war die ganze Treppe in dem Haus, wo Grigori Timofejewitsch wohnte, voller Menschen, die dem Gesang lauschen wollten. Der heiseren und traurigen Stimme des Geistlichen respondierte der Chor, den Wolodja leitete.“ Der Erzähler zitiert die liturgischen Texte: „Alles verwelkt wie Gras, alles verwüstet“, ist erschüttert von der unerwarteten Macht dieser Musik.
Dann beschleunigt er die Zeit ins Unermessliche: In der Rückschau sei alles nur noch eine Vision, vor den Augen des Lesers wird der Moment ins schwarze Loch der Ewigkeit gezogen, und während man das Echo der Choräle noch zu hören meint, assoziiert man plötzlich eine andere Musik, Schostakowitschs 8. Streichquartett, und begreift: Gaito Gasdanow hat den ungezählten Toten des Zweiten Weltkrieges eine Messe komponiert, auf wenige Seiten komprimiert – ihnen und unseren von der Geschichte verwüsteten Seelen.
JULIANE LIEBERT
Als die große Liebe in Erfüllung
geht, muss er feststellen,
dass es reine Gefühle nicht gibt
Vor den Augen des Lesers wird
der Moment ins schwarze
Loch der Ewigkeit gezogen
Leise Prosa ohne Sentimentalität: Gaito Gasdanow und seine Frau Faina in München, wo der Autor 1971 starb.
Foto: privat/Hanser Verlag
Gaito Gasdanow: Schwarze Schwäne. Erzählungen. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze.
Carl Hanser Verlag, München 2021.
272 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Gaito Gasdanow ist ein spät entdeckter Jahrhundertschriftsteller. Seine Erzählungen sind genauso brillant wie die Romane
Es gibt Bücher, denen man nur seine Liebe erklären kann. „Schwarze Schwäne“ ist so ein Buch. Neun Erzählungen von Gaito Gasdanow finden sich darin, zwischen 1927 und 1960 zunächst auf Russisch erschienen, ausgewählt und mit feinem Gehör für ihre Musikalität übersetzt von Rosemarie Tietze. Die meisten sind kürzer als dreißig Seiten, jede einzelne ein Einbruch der Schönheit und des Menschlichen in die absurde Welt; und jede ein Prisma, das die grelle Lichtflut der zerschellenden Moderne in ihre Farben aufspaltet.
Dann wieder eine Linse, die sie verdichtet, bis eine versunkene Epoche in anfangs nur geträumten Hawaiigitarren widerhallt. Die erklingen am Ende der gleichnamigen Geschichte tatsächlich. Aus einem Grammophon in einem Salon, dessen Bücherschrank mit dunklen Romantikern und Phantasten von Gogol bis Huysmans bestückt ist. Der Salon gehört einer „vielleicht dreißigjährigen Dame“, bei der man nach einer Beerdigung beisammensitzt. Auf dem Friedhof war es neblig und morastig, nun gibt es Champagner, „um zu vergessen“. „,Champagner?‘, dachte ich. ,Wie absurd!‘“
Die Schwester des Erzählers ist nach langem Siechtum gestorben. Seit Tagen schmerzen seine Füße von zu kleinen Schuhen. Sein Schwager und er dämmern betrunken vor sich hin. Die Worte eines Freundes, „ein ungewöhnlich begabter Künstler“, kommen ihm in den Sinn, Erinnerungen und Sinneseindrücke flimmern wie Lichter, die im Blinzeln zu abstrakten Formen verschwimmen.
Die Zeit verläuft nicht mehr linear, aber sie ist auch nicht gebrochen. Sie scheint vielmehr kunstvoll gefaltet. Als blickte man auf den Punkt, von dem der Urknall aller Erinnerung ausgeht. Es ist eine sanfte, aber ungeheure Präsenz, die der todmüde Rausch und die „Luftschwankungen“ der Fata-Morgana-haften Musik gebären. Die Gewalt der Vergänglichkeit steht einem vor Augen – eines Menschenlebens, des alten Russlands, eines ganzen Zeitalters.
Gasdanow hatte es 1923 ins Exil nach Paris verschlagen. In den Revolutionskriegen der entstehenden Sowjetunion war er, noch ein halbes Kind, Soldat der die Bolschewiki bekämpfenden Weißen Armee gewesen, konnte später in Bulgarien sein Abitur nachholen, bis er wie so viele russische Exilanten in der französischen Hauptstadt strandete. Er hielt sich mit allen möglichen Jobs über Wasser, studierte, fuhr nachts Taxi. Nebenher schrieb er unermüdlich.
Seine außergewöhnliche Begabung wurde früh erkannt. Mittlerweile sind mehrere seiner Romane im Hanser-Verlag erschienen. Trotzdem ist er, verglichen mit dem Superstar Nabokov, zumindest im deutschsprachigen Raum weiterhin ein Geheimtipp. Vielleicht, weil er auf Russisch schrieb. Vielleicht auch, weil die Intensität seiner Prosa oft eine leise ist. Sätze, melodiös wie die alten Romanzen, die in manchen der Geschichten gesungen werden, aber ohne deren Sentimentalität, stimmen den Ton einer warmherzigen Illusionslosigkeit und steter Reflexion an, niemals abgeklärt, immer teilnehmend, nur aus wechselnder Distanz.
Am tiefsten verstrickt in seine Träumereien ist wohl der Erzähler von „Hannah“. Dieses rothaarige Mädchen, das eine einzigartige Stimme hat, beißt ihm eines Tages beim Ringen übermütig in die Schulter und entschuldigt sich mit einem Kuss. Wenig später trennen die Revolutionswirren das junge Paar. Es entwickelt sich eine abstrakte Fernbeziehung per Brief, während Hannah in den USA eine Karriere als Sängerin beginnt und weltberühmt wird.
Als sie zu ihrem Jugendfreund nach Paris reist, steht dem Happy Ending eigentlich nichts mehr im Weg. Doch die Beziehung bleibt ihm fremd. Er muss erkennen, dass er chronisch gegen die Wirklichkeit rebelliert: „Ich wusste, dass Gefühle in reiner Form, wie ich sie auf der Bühne gesehen oder von denen ich gelesen hatte, im gewöhnlichen Leben fast nie vorkommen, ebenso wie keine Vorstellung rein als solche entstehen kann, ohne dass neben ihr ein paar unnötige Gefährten auftauchen; dies war das Gesetz der logischen Unmöglichkeit, und gerade dagegen protestierte ich stillschweigend mit aller Kraft.“
Es kommt ihm vor wie eine „Krankheit“, denn Hannah liebt er unverändert. Gasdanow schildert damit auch die seelischen Verwerfungen von Menschen, die ihre Heimat verloren haben. Die eingelegten Pilze schmecken im Exil nicht mehr, selbst die Muttersprache klingt irgendwie falsch. Man flüchtet sich in absonderliche Obsessionen. Wie Pawlow, den am Leben nichts mehr reizt außer den titelgebenden „schwarzen Schwänen“, denn sie repräsentierten eine „andere Geschichte der Welt, das ist eine Möglichkeit, alles, was existiert, anders zu verstehen“. In Australien soll es sie geben, doch ihm fehlen die Mittel, um auszuwandern. Er ist kein Spinner, sondern die personifizierte Gesundheit und Charakterstärke. Aber er „hatte wohl nie herausgefunden, wie er seine ungewöhnlichen Talente einsetzen könnte, und so blieben sie ungenutzt. Er hätte sich, glaube ich, als unübertrefflicher Schiffskapitän bewährt, doch nur unter der Voraussetzung, dass dem Schiff ständig Unfälle passiert wären“.
Sein einziger Ausweg: Suizid. „Lieber Fedja,“ lautet der Abschiedsbrief an seinen Bruder, „das Leben hier ist schwer und uninteressant. Ich wünsche Dir alles Gute. Mutter habe ich geschrieben, ich sei nach Australien gereist.“ Und ja, diese radikale Sachlichkeit ist natürlich sehr lustig, weshalb man nicht weniger berührt um den wackeren Pawlow trauert. Gerade weil fast alle Protagonisten existentiell Verlorene sind, kann Gasdanow ihrer unmöglichen Situation zuweilen nur mit Komik beikommen. Und darin ist er verdammt gut. Er liebt die Anekdote, spitzt sie gerne zur Parabel zu. Seine pointierten Beschreibungen sind oft komisch, ebenso die ausgefeilte Motivik. Das können zu enge Schuhe sein oder ein Papagei: „Pas vrai!“ (Gelogen!) kräht er unablässig, während die Helden auf Abwege geraten. „Genossin Brack“ erzählt die Tragödie des revolutionären Mordens als abgründigen Schwank. Drei junge Männer verehren besagte Tatjana Brack, deren Nachname auch auf Russisch nicht ganz koscher klingt.
Sie ist die „außereheliche Tochter eines reichen jüdischen Bankiers“ und hat ihren eigenen Kopf. Zu den dreien gehört Soikin, Spitzname „General“, der über enorme Körperkraft verfügt, Gewalt aber verabscheut. So wie Ferdinand, der Stier, an seinen Blümchen riecht, möchte der General nur friedlich seine Mandoline spielen. Weil er sich – ungebeten – als Beschützer Tatjanas aufführt, wird er jedoch immer wieder in Handgreiflichkeiten verwickelt. Dass sie mit einem anarchistischen Pianisten durchbrennt und bald darauf standrechtlich erschossen wird, kann er trotzdem nicht verhindern. Es hatte sich abgezeichnet. „Ein außerordentlich mutiges junges Mädchen“, stellt Soikins Freund Wila schon vor der verhängnisvollen Affäre fest: „Nicht einmal vor Geschlechtskrankheiten hat sie Angst.“
„Eine Seelenmesse“, der kürzeste und letzte Text des Bandes, spielt in einer Zeit, die Kategorien wie Glück kaum noch zu kennen scheint: „an einem Abend des grimmigen Winters 1942“ und wenigen darauffolgenden Wochen im besetzten Paris. Gasdanow war Mitglied der Résistance. Nach dem Krieg lebte er als Redakteur von „Radio Liberty“ auch in München, wo er 1971 starb. Elf Jahre zuvor wurde „Eine Seelenmesse“ erstmals gedruckt.
Die Messe soll für den verstorbenen Grigori Timofejewitsch gehalten werden. Als Schwarzmarkthändler war dieser Grischa, wie ihn zu Lebzeiten alle bloß nannten, während der Besatzung schlagartig reich geworden, aber unglücklich geblieben. Die Deutschen kauften sämtliche Waren, die sich auftreiben ließen. Ein paar findige, zuvor bettelarme Russen verfügten über die nötigen Kontakte und Fähigkeiten. So auch Wolodja, der unverhofft davon profitierte, dass er sich Jahre zuvor aus reinem Interesse umfassende Kenntnisse der Metallurgie angeeignet hatte.
Ihm ist es gelungen, einen kleinen Chor für die Messe zu versammeln. Sie findet in der Wohnung des Verstorbenen statt. „Nirgends und niemals, weder davor noch danach, habe ich einen solchen Chor gehört. Nach einiger Zeit war die ganze Treppe in dem Haus, wo Grigori Timofejewitsch wohnte, voller Menschen, die dem Gesang lauschen wollten. Der heiseren und traurigen Stimme des Geistlichen respondierte der Chor, den Wolodja leitete.“ Der Erzähler zitiert die liturgischen Texte: „Alles verwelkt wie Gras, alles verwüstet“, ist erschüttert von der unerwarteten Macht dieser Musik.
Dann beschleunigt er die Zeit ins Unermessliche: In der Rückschau sei alles nur noch eine Vision, vor den Augen des Lesers wird der Moment ins schwarze Loch der Ewigkeit gezogen, und während man das Echo der Choräle noch zu hören meint, assoziiert man plötzlich eine andere Musik, Schostakowitschs 8. Streichquartett, und begreift: Gaito Gasdanow hat den ungezählten Toten des Zweiten Weltkrieges eine Messe komponiert, auf wenige Seiten komprimiert – ihnen und unseren von der Geschichte verwüsteten Seelen.
JULIANE LIEBERT
Als die große Liebe in Erfüllung
geht, muss er feststellen,
dass es reine Gefühle nicht gibt
Vor den Augen des Lesers wird
der Moment ins schwarze
Loch der Ewigkeit gezogen
Leise Prosa ohne Sentimentalität: Gaito Gasdanow und seine Frau Faina in München, wo der Autor 1971 starb.
Foto: privat/Hanser Verlag
Gaito Gasdanow: Schwarze Schwäne. Erzählungen. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze.
Carl Hanser Verlag, München 2021.
272 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2022Auf Wegen durch die Stadt genährte Tagträume
Die Neuentdeckung eines russischen Stars geht weiter: Wer die Erzählungen von Gaito Gasdanow liest, entstanden in dessen Pariser Exiljahren, der fragt sich, wer noch mal Joyce oder Proust gewesen sind.
Wer noch nach einem Buch sucht für die langen, kalten, dunklen Wochen des neuen Jahres, nach einem Begleiter, der wie ein im Zimmer aufgestellter Samowar tröstet und wärmt und eine melancholisch-sehnsuchtsvolle Geselligkeit schenkt, greife zu Gaito Gasdanows Band mit Erzählungen, "Schwarze Schwäne".
Seit Rosemarie Tietze in den zurückliegenden zehn Jahren drei Romane und eine Novelle von Gasdanow übersetzt hat, wird der russische Autor auch im deutschsprachigen Publikum bekannter. Wer einmal in einen seiner Romane eingetaucht ist, in diese einzigartig traurige, nie sentimentale, immer klare, leichte Sprache, wird auch diesen neuen Erzählungsband wie einen Schatz nach Hause tragen. Und kurz innehalten, wie im Theater, bevor der Vorhang sich öffnet, ehe er oder sie die erste Seite aufschlägt und zu lesen beginnt, und dann mit Leib und Seele sich einlassen. Den Auftakt des neuen Bands macht "Genossin Brack", eine wundersame Geschichte aus dem russischen Bürgerkrieg.
Gasdanows Leben war schwer und entbehrungsreich. 1903 wurde der Schriftsteller in Sankt Petersburg geboren, lebte in Sibirien, in Twer und in der Ukraine, wo er eine Kadettenschule besuchte. Mit knapp sechzehn Jahren trat er während des russischen Bürgerkriegs in einen Verband der Weißen ein; nach dem Sieg der Roten Armee verschlug es ihn von der Krim in die Türkei, schließlich nach Bulgarien, wo er in einem eigens für russische Flüchtlinge eingerichteten Gymnasium sein Abitur ablegte. 1923 kam er nach Paris, einer von Hunderttausenden russischen Emigranten, die sich dort durchzuschlagen versuchten, mit Gelegenheitsjobs, als Kriminelle; viele waren obdachlos oder Clochards.
Gaito Gasdanow war also einer von ihnen. Er war Lastenträger, Lokomotivenwäscher, Mechaniker bei Citroën, dann fuhr er viele Jahre lang nachts Taxi.
Nebenher studierte er an der Sorbonne. Er las und schrieb wie ein Besessener. Seine ersten Texte, die dann gegen Ende der Zwanzigerjahre in Zeitungen und Zeitschriften der russischen Emigration erschienen, brachten ihm sofort Anerkennung ein, aber wenig Geld. Gestorben ist er 1971 in München.
Die neun Erzählungen, die Rosemarie Tietze aus den mehr als fünfzig der russischen Gasdanow-Gesamtausgabe ausgewählt hat, entstanden, mit Ausnahme der letzten, "Eine Seelenmesse", in diesen schweren Jahren des Pariser Exils zwischen den beiden Weltkriegen.
Sie sind allesamt kleine Meisterwerke. Das Wunder dieser Erzählungen ist die Verbindung aus dem, was den Zauber, den Irrsinn, die totale seelische Fremdheit der russischen Literatur für den westeuropäischen Leser ausmacht, mit dem Besten der grotesk-absurden, impressionistischen, existenzialistischen Moderne, wie sie mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs in den Literaturen von Irland bis Galizien entstand. Gasdanow hatte seit frühester Kindheit Gogol, Dostojewski, Tolstoi und Tschechow in sich eingesaugt, dazu die hierzulande wenig bekannte russische Lyrik; und ebenso hatte er dann, im Pariser Exil, Joyce, Kafka, Proust, Céline studiert. Allmählich entwickelte und komponierte er aus beiden Strömen seine ganz eigene Art des stream of consciousness.
Denn Gasdanow erzählt weder chronologisch, noch gibt es bei ihm einen verlässlichen Erzähler, der die Vorkommnisse ordnet und uns Leserinnen und Lesern aus sicherem Abstand eine Story präsentiert.
Vielmehr mischt ein Ich-Erzähler - der sich vom eigentlichen Geschehen abseits hält und nur schemenhaft sichtbar wird - eigene Reflexionen, Erinnerungen und Assoziationen mit denen seiner Figuren, an deren Schicksal er mit Herz und Verstand Anteil nimmt. Dazu streut er fragmentarische Szenen und Dialoge ein. Aus dem Gewebe aus Stimmen, Charakteren und Szenerien treten allmählich die entscheidenden Momente im Leben eines Menschen hervor, seine nur ihm eigentümlichen Eigenschaften und Vorlieben, Stimmungen, es sind in Worten gemalte Porträts, die zu bestimmen versuchen, was einen Menschen zu diesem einen, besonderen macht, wie er eingefügt ist in die Beziehungen zu anderen, ihm Nahestehenden, die er liebt oder verabscheut, hasst oder begehrt - nicht selten alles gleichzeitig.
Gasdanows Erzählungen wirken autobiografisch grundiert. Sie sind aber zugleich so künstlich, so stilisiert, dass man sie unmöglich mit dem Leben verwechseln kann. Trotz der vielen Abschweifungen ist kein Wort überflüssig, alle Sätze, alle Szenen sind vielmehr Bausteine, die, zusammengefügt, das Essentielle der Epoche und der in ihr verloren gegangenen Generation einfangen.
Eine Generation, die verinnerlicht hat, dass Leiden zum Leben gehört, dass das Leben vielleicht vor allem Leiden ist. Sie lügen, stehlen, prostituieren sich, sind alles andere als Heilige. Doch trotz ihrer miserablen Lebensumstände und ihrer maßlosen Enttäuschung treten sie nie als Opfer auf. Sie bewahren, gleich, was ihnen zustößt, eine unerschütterliche Haltung und Würde.
Von Unglücklichen erzählt Gasdanow, die noch unglücklicher werden, wenn ihre Wünsche und Träume doch in Erfüllung gehen - denn keine Erfüllung ihrer Wünsche könnte je an die über viele Jahre gehegten phantastischen Vorstellungen heranreichen, an die auf langen Gängen durch die Stadt genährten Tagträume.
Werden diese Unglücklichen aus ihren Illusionen gerissen, verlieren sie die in ihrem Innersten bewahrte, vor allen verborgene ideale Welt der Liebe, des Reichtums, des Ruhms. Das gewonnene Glück schmeckt dagegen schal, ist die größte, grausamste Enttäuschung, die den Entwurzelten das letzte Stückchen Boden unter den durchlöcherten Schuhsohlen wegzieht. Im Exil erfährt alles Bekannte, Vertraute eine Verwandlung: Die Menschen, mit denen man früher zusammenlebte, erkennt man kaum wieder; das Essen, nach alten Rezepten zubereitet, schmeckt nicht mehr; die eigene Sprache, umgeben vom französischen Idiom, klingt falsch. Kein erreichtes, erreichbares Glück macht den erlittenen Verlust wett, den Verlust der Heimat und den der geliebten Menschen.
Gaito Gasdanows große Kunst ist, das Wesentliche zu zeigen, ohne es direkt zu benennen (wodurch dieses Wesentliche sofort banalisiert würde). Er erschafft eine Welt, die es, vielleicht, in der Realität nie gegeben hat, die aber in seiner Seele existiert und wahrer ist als das, was wir täglich in der Zeitung lesen.
Seine Erzählungen sind traurige, wehmütige, absurde Märchen, die noch lange nach dem Lesen in einem leben, von denen Bruchstücke in die nächtlichen Träume wandern, die einem urplötzlich einfallen, wenn man mit einem Unbekannten spricht oder auf einer Parkbank sitzt oder mit der Straßenbahn durch die späte Nacht fährt und auf die Lichter der Stadt schaut. Sie werden zu einem Teil der eigenen inneren Wirklichkeit und strahlen in das gelebte Leben aus. Was lässt sich Schöneres über die Kunst eines Autors sagen? BETTINA HARTZ.
Gaito Gasdanow: "Schwarze Schwäne". Ausgewählt, aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort von Rosemarie Tietze. Hanser Verlag, 271 Seiten, 24 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Neuentdeckung eines russischen Stars geht weiter: Wer die Erzählungen von Gaito Gasdanow liest, entstanden in dessen Pariser Exiljahren, der fragt sich, wer noch mal Joyce oder Proust gewesen sind.
Wer noch nach einem Buch sucht für die langen, kalten, dunklen Wochen des neuen Jahres, nach einem Begleiter, der wie ein im Zimmer aufgestellter Samowar tröstet und wärmt und eine melancholisch-sehnsuchtsvolle Geselligkeit schenkt, greife zu Gaito Gasdanows Band mit Erzählungen, "Schwarze Schwäne".
Seit Rosemarie Tietze in den zurückliegenden zehn Jahren drei Romane und eine Novelle von Gasdanow übersetzt hat, wird der russische Autor auch im deutschsprachigen Publikum bekannter. Wer einmal in einen seiner Romane eingetaucht ist, in diese einzigartig traurige, nie sentimentale, immer klare, leichte Sprache, wird auch diesen neuen Erzählungsband wie einen Schatz nach Hause tragen. Und kurz innehalten, wie im Theater, bevor der Vorhang sich öffnet, ehe er oder sie die erste Seite aufschlägt und zu lesen beginnt, und dann mit Leib und Seele sich einlassen. Den Auftakt des neuen Bands macht "Genossin Brack", eine wundersame Geschichte aus dem russischen Bürgerkrieg.
Gasdanows Leben war schwer und entbehrungsreich. 1903 wurde der Schriftsteller in Sankt Petersburg geboren, lebte in Sibirien, in Twer und in der Ukraine, wo er eine Kadettenschule besuchte. Mit knapp sechzehn Jahren trat er während des russischen Bürgerkriegs in einen Verband der Weißen ein; nach dem Sieg der Roten Armee verschlug es ihn von der Krim in die Türkei, schließlich nach Bulgarien, wo er in einem eigens für russische Flüchtlinge eingerichteten Gymnasium sein Abitur ablegte. 1923 kam er nach Paris, einer von Hunderttausenden russischen Emigranten, die sich dort durchzuschlagen versuchten, mit Gelegenheitsjobs, als Kriminelle; viele waren obdachlos oder Clochards.
Gaito Gasdanow war also einer von ihnen. Er war Lastenträger, Lokomotivenwäscher, Mechaniker bei Citroën, dann fuhr er viele Jahre lang nachts Taxi.
Nebenher studierte er an der Sorbonne. Er las und schrieb wie ein Besessener. Seine ersten Texte, die dann gegen Ende der Zwanzigerjahre in Zeitungen und Zeitschriften der russischen Emigration erschienen, brachten ihm sofort Anerkennung ein, aber wenig Geld. Gestorben ist er 1971 in München.
Die neun Erzählungen, die Rosemarie Tietze aus den mehr als fünfzig der russischen Gasdanow-Gesamtausgabe ausgewählt hat, entstanden, mit Ausnahme der letzten, "Eine Seelenmesse", in diesen schweren Jahren des Pariser Exils zwischen den beiden Weltkriegen.
Sie sind allesamt kleine Meisterwerke. Das Wunder dieser Erzählungen ist die Verbindung aus dem, was den Zauber, den Irrsinn, die totale seelische Fremdheit der russischen Literatur für den westeuropäischen Leser ausmacht, mit dem Besten der grotesk-absurden, impressionistischen, existenzialistischen Moderne, wie sie mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs in den Literaturen von Irland bis Galizien entstand. Gasdanow hatte seit frühester Kindheit Gogol, Dostojewski, Tolstoi und Tschechow in sich eingesaugt, dazu die hierzulande wenig bekannte russische Lyrik; und ebenso hatte er dann, im Pariser Exil, Joyce, Kafka, Proust, Céline studiert. Allmählich entwickelte und komponierte er aus beiden Strömen seine ganz eigene Art des stream of consciousness.
Denn Gasdanow erzählt weder chronologisch, noch gibt es bei ihm einen verlässlichen Erzähler, der die Vorkommnisse ordnet und uns Leserinnen und Lesern aus sicherem Abstand eine Story präsentiert.
Vielmehr mischt ein Ich-Erzähler - der sich vom eigentlichen Geschehen abseits hält und nur schemenhaft sichtbar wird - eigene Reflexionen, Erinnerungen und Assoziationen mit denen seiner Figuren, an deren Schicksal er mit Herz und Verstand Anteil nimmt. Dazu streut er fragmentarische Szenen und Dialoge ein. Aus dem Gewebe aus Stimmen, Charakteren und Szenerien treten allmählich die entscheidenden Momente im Leben eines Menschen hervor, seine nur ihm eigentümlichen Eigenschaften und Vorlieben, Stimmungen, es sind in Worten gemalte Porträts, die zu bestimmen versuchen, was einen Menschen zu diesem einen, besonderen macht, wie er eingefügt ist in die Beziehungen zu anderen, ihm Nahestehenden, die er liebt oder verabscheut, hasst oder begehrt - nicht selten alles gleichzeitig.
Gasdanows Erzählungen wirken autobiografisch grundiert. Sie sind aber zugleich so künstlich, so stilisiert, dass man sie unmöglich mit dem Leben verwechseln kann. Trotz der vielen Abschweifungen ist kein Wort überflüssig, alle Sätze, alle Szenen sind vielmehr Bausteine, die, zusammengefügt, das Essentielle der Epoche und der in ihr verloren gegangenen Generation einfangen.
Eine Generation, die verinnerlicht hat, dass Leiden zum Leben gehört, dass das Leben vielleicht vor allem Leiden ist. Sie lügen, stehlen, prostituieren sich, sind alles andere als Heilige. Doch trotz ihrer miserablen Lebensumstände und ihrer maßlosen Enttäuschung treten sie nie als Opfer auf. Sie bewahren, gleich, was ihnen zustößt, eine unerschütterliche Haltung und Würde.
Von Unglücklichen erzählt Gasdanow, die noch unglücklicher werden, wenn ihre Wünsche und Träume doch in Erfüllung gehen - denn keine Erfüllung ihrer Wünsche könnte je an die über viele Jahre gehegten phantastischen Vorstellungen heranreichen, an die auf langen Gängen durch die Stadt genährten Tagträume.
Werden diese Unglücklichen aus ihren Illusionen gerissen, verlieren sie die in ihrem Innersten bewahrte, vor allen verborgene ideale Welt der Liebe, des Reichtums, des Ruhms. Das gewonnene Glück schmeckt dagegen schal, ist die größte, grausamste Enttäuschung, die den Entwurzelten das letzte Stückchen Boden unter den durchlöcherten Schuhsohlen wegzieht. Im Exil erfährt alles Bekannte, Vertraute eine Verwandlung: Die Menschen, mit denen man früher zusammenlebte, erkennt man kaum wieder; das Essen, nach alten Rezepten zubereitet, schmeckt nicht mehr; die eigene Sprache, umgeben vom französischen Idiom, klingt falsch. Kein erreichtes, erreichbares Glück macht den erlittenen Verlust wett, den Verlust der Heimat und den der geliebten Menschen.
Gaito Gasdanows große Kunst ist, das Wesentliche zu zeigen, ohne es direkt zu benennen (wodurch dieses Wesentliche sofort banalisiert würde). Er erschafft eine Welt, die es, vielleicht, in der Realität nie gegeben hat, die aber in seiner Seele existiert und wahrer ist als das, was wir täglich in der Zeitung lesen.
Seine Erzählungen sind traurige, wehmütige, absurde Märchen, die noch lange nach dem Lesen in einem leben, von denen Bruchstücke in die nächtlichen Träume wandern, die einem urplötzlich einfallen, wenn man mit einem Unbekannten spricht oder auf einer Parkbank sitzt oder mit der Straßenbahn durch die späte Nacht fährt und auf die Lichter der Stadt schaut. Sie werden zu einem Teil der eigenen inneren Wirklichkeit und strahlen in das gelebte Leben aus. Was lässt sich Schöneres über die Kunst eines Autors sagen? BETTINA HARTZ.
Gaito Gasdanow: "Schwarze Schwäne". Ausgewählt, aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort von Rosemarie Tietze. Hanser Verlag, 271 Seiten, 24 Euro.
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"Die Neuentdeckung eines russischen Stars geht weiter: Wer die Erzählungen von Gaito Gasdanow liest, entstanden in dessen Pariser Exiljahren, der fragt sich, wer noch mal Joyce oder Proust gewesen sind." Bettina Harz, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.01.22
"[E]in Schatzkästlein von abgründig funkelnder Prosa aus den 'schwierigen und hungrigen Zeiten' in Russland und Paris. [...] Gasdanows Paris schillert traurig wie Nabokovs Berlin, und wenn er es nicht zum Weltruhm brachte wie dieser, so mag das einfach am Pech liegen, wohl aber auch daran, dass er nicht den Sprung in eine andere Sprache gemacht hat. Umso eindringlicher sei es gesagt: Wir wollen auch den ganzen Gasdanow auf Deutsch!" Franz Haas, Neue Zürcher Zeitung, 25.11.21
"Die Texte sind jeweils nur ein paar Seiten lang, aber sie finden jeweils genau die Momente, in denen sich ganze Epochen brechen [...]. Knochen. Revolutionäre, Anarchisten, Mönche gibt es hier zu bestaunen und Sätze von erschütternder Schönheit." Felix Stephan, Süddeutsche Zeitung, 17.07.21
"Seine Erzählungen sind voller Überraschungen, Wendungen und Umbrüche, weil sie den Existenzmomenten der Figuren und deren Seelenregungen folgen [...]. Gasdanows schroffe und zarte Sätze haben in mehr als einem Sinne Takt." Christine Hamel, BR2 Diwan, 20.06.21
"Beschwörend an Gasdanows Erzählungen ist nicht nur die flackernde Tiefe, die in jedem einzelnen Gedanken liegt, sondern auch ihre Dramaturgie. [...] Rosemarie Tietzes fantastische Übersetzung von Gaito Gasdanows Erzählungen entspricht einer Seelenmesse, so lautet auch der Titel der letzten Geschichte. Man geht nicht unbedingt leichter daraus hervor, aber mit der Ahnung, dass die Schönheit am Ende vielleicht doch das letzte Wort hat." Lisa Kreißler, NDR Kultur, 10.05.21
"Für Gasdanow gilt Singularität. Ein genialischer Außenseiter. Weiter zu entdecken." Jürgen Verdofsky, Frankfurter Rundschau, 07.05.21
"Gasdanow ist auch ein Flaneur, der seine Impressionen, Erinnerungen und Gedanken über die Vergänglichkeit in einen Bewusstseinsstrom flicht, dessen rhythmischem Sog man sich nur schwer entziehen kann." Tobias Schwartz, Tagesspiegel, 02.05.21
"[E]in Schatzkästlein von abgründig funkelnder Prosa aus den 'schwierigen und hungrigen Zeiten' in Russland und Paris. [...] Gasdanows Paris schillert traurig wie Nabokovs Berlin, und wenn er es nicht zum Weltruhm brachte wie dieser, so mag das einfach am Pech liegen, wohl aber auch daran, dass er nicht den Sprung in eine andere Sprache gemacht hat. Umso eindringlicher sei es gesagt: Wir wollen auch den ganzen Gasdanow auf Deutsch!" Franz Haas, Neue Zürcher Zeitung, 25.11.21
"Die Texte sind jeweils nur ein paar Seiten lang, aber sie finden jeweils genau die Momente, in denen sich ganze Epochen brechen [...]. Knochen. Revolutionäre, Anarchisten, Mönche gibt es hier zu bestaunen und Sätze von erschütternder Schönheit." Felix Stephan, Süddeutsche Zeitung, 17.07.21
"Seine Erzählungen sind voller Überraschungen, Wendungen und Umbrüche, weil sie den Existenzmomenten der Figuren und deren Seelenregungen folgen [...]. Gasdanows schroffe und zarte Sätze haben in mehr als einem Sinne Takt." Christine Hamel, BR2 Diwan, 20.06.21
"Beschwörend an Gasdanows Erzählungen ist nicht nur die flackernde Tiefe, die in jedem einzelnen Gedanken liegt, sondern auch ihre Dramaturgie. [...] Rosemarie Tietzes fantastische Übersetzung von Gaito Gasdanows Erzählungen entspricht einer Seelenmesse, so lautet auch der Titel der letzten Geschichte. Man geht nicht unbedingt leichter daraus hervor, aber mit der Ahnung, dass die Schönheit am Ende vielleicht doch das letzte Wort hat." Lisa Kreißler, NDR Kultur, 10.05.21
"Für Gasdanow gilt Singularität. Ein genialischer Außenseiter. Weiter zu entdecken." Jürgen Verdofsky, Frankfurter Rundschau, 07.05.21
"Gasdanow ist auch ein Flaneur, der seine Impressionen, Erinnerungen und Gedanken über die Vergänglichkeit in einen Bewusstseinsstrom flicht, dessen rhythmischem Sog man sich nur schwer entziehen kann." Tobias Schwartz, Tagesspiegel, 02.05.21