Es ist in der Literatur besonders das beredte Schweigen, welches Rückschlüsse auf die Gemütsverfassung oder die Absichten des fiktionalen Personals zulässt. Schweigen als die nicht in Worte gefasste und damit der Welt nicht zugänglich gemachte Rede impliziert eine Hermetik und Unzugänglichkeit der Intentionen von Protagonist und Autor, das Eine in das Andere greifend. Der Autor versagt seinem Protagonisten die Sprache dort, wo er den Hörer-und zum Ausgang des Mittelalters hin den Leser-im Ungewissen lassen will über dessen tatsächliche und damit verborgene Absichten hinsichtlich eines weiteren Handlungsverlaufs, dessen im Dunkeln liegender Fortgang insbesondere durch dieses Schweigen seine Spannung bewahrt. Nur die Fantasie des Hörers vermag dieses Schweigen zu füllen in einem sehr individuellen interpretatorischen Akt, der die Leerstelle in der Rede immer wieder von neuem aufarbeitet. Die Kunstfertigkeit des Autors lässt aber das Schweigen in der Literatur, bei deren Rezeption nur einer der fünf Sinne zur Anwendung kommen kann, artifizieller erscheinen als in der von einem Hörer verfolgten tatsächlichen und realen Rede. Die Gründe für das Versagen der Rede sind so vielfältig wie seine Auswirkungen, die Wahrnehmung von Schweigen so unterschiedlich wie die es auslösenden Gedankengänge und ihre Gründe. Im höfischen Epos wie in Gottfrieds Tristan ist das Schweigen ein anderes, hängt es doch eng mit der damaligen Sozialisation in ihrem gesellschaftlichen Kontext zusammen. Das Schweigen dient dort den gesellschaftlich erlernten Regeln wie in anderen Schweigesituationen ihrem Bruch. So dient es dem mittelalterlichen Dichter als Mittel einer zeitgenössischen Gesellschaftskritik an einer höfischen Gesellschaft, in der Lüge, Verstellung, Falschheit und Intrigen eine entscheidende Rolle spielen.