Ein großes Epos über die schillerndste Verbrecherszene der Nachkriegszeit. Inspiriert durch wahre Begebenheiten, erzählt mit viel schwarzem Humor und dennoch großer Empathie: David Schalko ist mit seinem Verbrecher-Epos »Schwere Knochen« ein fulminanter, einzigartiger Roman über die österreichische Nachkriegsgesellschaft gelungen - und ein faszinierender Einblick in das Innere von Menschen, deren Seelen durch den Nationalsozialismus zerstört wurden. Wien, März 1938, »Anschluss« Österreichs ans Deutsche Reich: Am Tag, als halb Wien am Heldenplatz seinem neuen Führer zujubelt, raubt eine Bande jugendlicher Kleinganoven einen stadtbekannten Nazi aus. Sieben Jahre lang müssen die Kleinkriminellen daraufhin als sogenannte Kapos für die »Aufrechterhaltung des Betriebs« in den KZs Dachau und Mauthausen sorgen und wachsen so zu Schwerverbrechern heran. Nach Kriegsende übernimmt die Bande um Ferdinand Krutzler die Wiener Unterwelt. Mit ungekannter Brutalität nutzt sie ihre Macht nicht zuletzt, um ehemalige Nazi-Widersacher aus dem Weg zu räumen.
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buecher-magazin.deWien als Kristallisationspunkt literarischer Großereignisse ist nichts Neues. In "Schwere Knochen" teilt sich die Stadt Schnitzlers, Hofmannsthals und Bernhards ihre Hauptrolle mit dem Protagonisten Ferdinand Krutzler auf so großartige Weise, dass der Autor es schafft, der Liste literarischer Viennensia noch einen entscheidenden Eintrag hinzuzufügen. Krutzler ist ein Kraftmensch, er ist aber auch ein wandelndes Paket an Emotionen. Diese Mischung bringt ihn durch die Zeit im KZ und lässt ihn zum Großverbrecher werden, der auf dem unaufhaltsamen Weg zum Wiener Gangsterboss zu sein scheint. Wie die Narben, die die Nazizeit auf der Seele hinterlassen hat, das verhindern und wie alles in einem Strudel aus immer tieferen Verstrickungen endet, erzählt Schalko mit Witz und Kraft. Die Stadt Wien ist dabei immer mehr als Kulisse. Nur sie scheint in der Lage zu sein, diese unverwechselbare Mischung aus Liebe und Hass, Verbrechen und Menschenfreundlichkeit hervorzubringen, die Krutzler und seine Mannen immer wieder in ein Wechselbad der Gefühle stürzt. Schalkos meist recht lakonischer Erzählton ist dabei ein schöner Konterpart zu dieser Achterbahn und steigert letztlich die Intensität des Textes.
© BÜCHERmagazin, Carsten Tergast (ct)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.05.2018Der Simsalabim und seine 14 Uhren
Splatter-Stoizismus, Pilzvergiftung und Halsstiche aus dem Handgelenk:
David Schalkos Roman „Schwere Knochen“ über die Unterwelt der Nachkriegsjahre in Wien
VON BURKHARD MÜLLER
Schwere Knochen. Sie sind das herausragende Merkmal des Krutzler (keiner nennt ihn je mit seinem Vornamen Ferdinand, selbst die eigene Mutter nicht), der zwei Meter misst, dasteht wie ein Berg und eine Hornbrille trägt, die ihn aussehen lässt wie einen Hirschkäfer. Öfter scheint alles Leben in ihm erloschen zu sein. Aber jeder weiß, dass es einen schweren Fehler bedeuten würde, ihn zu berühren, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das kann er nämlich überhaupt nicht leiden, und ob der Berührende es überleben würde, ist sehr ungewiss. Die Spezialität des Krutzler ist der Halsstich, in Sekundenschnelle aus dem Handgelenk geführt: Ehe der Betreffende überhaupt merkt, was ihm passiert, ist er praktisch schon tot. Der Krutzler hat nämlich, was in der Wiener Unterwelt den größten Ruhm bedeutet, seine eigene Handschrift.
Die Figur des Krutzler steht im Mittelpunkt von David Schalkos Roman „Schwere Knochen“. Um ihn herum gruppiert sich die „Erdberger Spedition“, die deswegen so heißt, weil sie aus dem entsprechenden Wiener Proleten-Vorort stammt und stolz darauf ist, bei einem Einbruch so komplett und rasch zu verfahren, als wäre der Geschädigte ausgezogen. So fangen sie an, im Österreich der Dreißigerjahre: der unerschütterliche Krutzler, der nagerhaft unscheinbare Sikora, Wessely genannt „Der Bleiche“ und der indolente Fleischhauer Praschak, der unterm Pantoffel seiner Gusti steht. Ihr Pech nur, dass sie am Tag des Anschlusses, als ganz Wien auf dem Heldenplatz Hitler zujubelt, ausgerechnet dem Nazi-Huber die Wohnung ausräumen. Das bringt ihnen allen gemeinsam einen Express-Fahrschein nach Dachau ein.
Aber in Dachau gehören sie sogleich zur Lager-Elite, denn: „Ohne die Drecksarbeit der Kriminellen wäre so ein Konzentrationslager ein richtiger Sauhaufen gewesen.“ Besonders der Krutzler muss mit seinen wirksamen Methoden, die er hier zu verfeinern lernt, immer wieder Ordnung herstellen, weil die ungarischen Juden die Spanier hassen, die roten Spanier die katholischen Polen, die Polen die Schwulen und so weiter. Es ist schon eine recht gemischte Gesellschaft, die sich hier versammelt hat. Hier knüpfen die Erdberger jene Kontakte, die ihnen nach dem Krieg helfen werden, die Kleinkriminalität hinter sich zu lassen und zu den Herren der Wiener Unterwelt aufzusteigen, mit dem nachmaligen Polizeipräsidenten etwa.
Zu ihrer goldenen Zeit werden die Jahre 1945 bis 1955, als Wien (wie Berlin) in vier Besatzungszonen geteilt ist und neben Glücksspiel und Prostitution besonders der Schmuggel blüht. Aufpassen muss man nur, dass man sich mit allen Parteien des heraufziehenden Kalten Krieges gut stellt und zugleich nicht allzu tief in deren Händel gerät. Man muss dafür sorgen, dass die beinamputierte Hure Gisela, trotz ihres wilden Protests, dem russischen Kommandanten frei Haus geliefert wird, und darf sich von den blasierten Franzosen nicht provozieren lassen.
Die Aktion „Eiserner Besen“ wird den Erdbergern fast zum Verhängnis: Auf russisches Geheiß sollen sie diskret eine Reihe alter Nazis liquidieren, damit die Amerikaner sehen, dass ihre perfide Begnadigungspolitik auf Widerstand stößt. Die Erdberger machen ihre Sache allzu gut: Pilzvergiftung und Schlaganfall werden so täuschend inszeniert, die Leiche eines weiteren Opfers so professionell der Praschak’schen Fleischerei zugeführt, dass der Charakter des Strafgerichts sich ins Unsichtbare zu verlieren droht, womit die Russen auch wieder nicht zufrieden sind.
Die Risiken für ein solches Buch, das sich mit einer Unzahl von Figuren und Aktionen über fast 30 Jahre und 600 Seiten erstreckt, liegen auf der Hand. Es darf sich weder von seinem oftmals grotesken Stoff überwältigen lassen, noch ins allzu Coole abgleiten – die Muster des amerikanischen Noir wären hier fehl am Platz. Und es muss eine angemessene Art finden, sein markantes aber schweigsames Personal zu präsentieren. Sie fürchten weder Knast noch Tod, obwohl beides sie jederzeit ereilen könnte. Sofern sie über Humor verfügen, spricht er sich in den Spitznamen aus: Das Kamel heißt so wegen seines Buckels, der Simsalabim, weil er bis zu 14 gestohlene Uhren auf einmal in seinem Enddarm verschwinden lassen kann und in geselliger Runde überrascht, weil es aus ihm tickt. Diese Akteure geben sich nicht der psychologischen Reflexion zu erkennen, sondern in ihren Taten, und wenn sie reden, weiß man oft nicht gleich, was sie meinen. Keiner von ihnen spricht Hochdeutsch, so viel kann man voraussetzen. Und doch wäre es ein Fehler, wenn sie Wienerisch parlierten: das würde diese dunkle Dreigroschenoper in einen Komödienstadel verwandeln.
David Schalko hat darum die gewagte Entscheidung getroffen, durchweg indirekte Rede zu verwenden. An wörtlichem Dialog gibt es nur winzige Fetzen, etwa wenn der Krutzler sagt: So ein Schas, ohne Anführungszeichen. Überall sonst regiert der Konjunktiv. Und obwohl man das gerade in dieser Umgebung nicht vermutet hätte: es geht gut, selbst oder gerade bei den hemmungslosesten Ausbrüchen. „Ob sie völlig deppert sei?, sagte der Krutzler. (…) Beziehungsunfähig! Das sei sie! Halte einen Mann in ihrer Nähe nicht aus. Eine verkappte Lesbierin! Sie nütze den Geschlechtsverkehr nur aus, um sich auf jemanden draufzusetzen wie ein Vogel, der fremde Eier ausbrüte. Raffgierig! (…) Sie solle sich sofort ausziehen, damit er ihr ein Kind machen könne.“
Man darf wohl vermuten, dass der Krutzler nicht gerade „Gechlechtsverkehr“ und „Lesbierin“ gesagt, sondern zu handfesteren Vokabeln gegriffen hat, die besser zu Zeit und Ort passen. Und dennoch hat der Leser nicht den Eindruck, hier wäre etwas beschönigt oder verwässert worden. Die indirekte Rede auf Langstrecke schafft hier, wie es sonst nur lateinische Schriftsteller vermögen, Genauigkeit durch Distanz, eine Qualität, die angesichts der oft tumultuarischen Vorgänge angenehm berührt. Und zwischen dem, was alle diese Figuren tun und äußern, erhebt immer wieder auch der Erzähler seine versonnene Stimme und merkt etwa an, dass die Befreiten von Mauthausen, wie zuvor an der schlechten, nunmehr an der guten Ernährung massenweise stürben.
Der Roman bekommt durch seinen Ton und seine Haltung in den Griff, was sonst als quirliges Panoptikum nach allen Seiten auseinanderspritzen müsste wie das viele Blut, das freizusetzen die Erdberger niemals zögern. Es ist ein Ton, den man so noch nie gehört hat, und eine Haltung, die man vielleicht am besten als Splatter-Stoizismus bezeichnet. Nur zum Schluss, als schon die Sechziger erreicht sind und Wien aus einer verschollenen Vorzeit ins Licht der Moderne tritt, zeigt das Buch eine gewisse Ermüdung. Das Leben hört auf, jeden Tag lebensgefährlich zu sein (Na gut, der Krutzler legt noch mal sieben Jugos auf einmal um, aber sonst . . . ). Ohne Gefahr jedoch gibt es diese Figuren nicht. Aber das, wie gesagt, passiert zum Glück erst ganz am Ende.
David Schalko: Schwere Knochen. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 575 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Ein Buch wie dieses darf sich
nicht von seinem oft grotesken
Stoff überwältigen lassen
Wien, ca. 1946-1949: Der Blick aus dem Kaffeehaus fällt auf eine russische Patrouille.
Foto: Süddeutsche Zeitung Photo
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Splatter-Stoizismus, Pilzvergiftung und Halsstiche aus dem Handgelenk:
David Schalkos Roman „Schwere Knochen“ über die Unterwelt der Nachkriegsjahre in Wien
VON BURKHARD MÜLLER
Schwere Knochen. Sie sind das herausragende Merkmal des Krutzler (keiner nennt ihn je mit seinem Vornamen Ferdinand, selbst die eigene Mutter nicht), der zwei Meter misst, dasteht wie ein Berg und eine Hornbrille trägt, die ihn aussehen lässt wie einen Hirschkäfer. Öfter scheint alles Leben in ihm erloschen zu sein. Aber jeder weiß, dass es einen schweren Fehler bedeuten würde, ihn zu berühren, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das kann er nämlich überhaupt nicht leiden, und ob der Berührende es überleben würde, ist sehr ungewiss. Die Spezialität des Krutzler ist der Halsstich, in Sekundenschnelle aus dem Handgelenk geführt: Ehe der Betreffende überhaupt merkt, was ihm passiert, ist er praktisch schon tot. Der Krutzler hat nämlich, was in der Wiener Unterwelt den größten Ruhm bedeutet, seine eigene Handschrift.
Die Figur des Krutzler steht im Mittelpunkt von David Schalkos Roman „Schwere Knochen“. Um ihn herum gruppiert sich die „Erdberger Spedition“, die deswegen so heißt, weil sie aus dem entsprechenden Wiener Proleten-Vorort stammt und stolz darauf ist, bei einem Einbruch so komplett und rasch zu verfahren, als wäre der Geschädigte ausgezogen. So fangen sie an, im Österreich der Dreißigerjahre: der unerschütterliche Krutzler, der nagerhaft unscheinbare Sikora, Wessely genannt „Der Bleiche“ und der indolente Fleischhauer Praschak, der unterm Pantoffel seiner Gusti steht. Ihr Pech nur, dass sie am Tag des Anschlusses, als ganz Wien auf dem Heldenplatz Hitler zujubelt, ausgerechnet dem Nazi-Huber die Wohnung ausräumen. Das bringt ihnen allen gemeinsam einen Express-Fahrschein nach Dachau ein.
Aber in Dachau gehören sie sogleich zur Lager-Elite, denn: „Ohne die Drecksarbeit der Kriminellen wäre so ein Konzentrationslager ein richtiger Sauhaufen gewesen.“ Besonders der Krutzler muss mit seinen wirksamen Methoden, die er hier zu verfeinern lernt, immer wieder Ordnung herstellen, weil die ungarischen Juden die Spanier hassen, die roten Spanier die katholischen Polen, die Polen die Schwulen und so weiter. Es ist schon eine recht gemischte Gesellschaft, die sich hier versammelt hat. Hier knüpfen die Erdberger jene Kontakte, die ihnen nach dem Krieg helfen werden, die Kleinkriminalität hinter sich zu lassen und zu den Herren der Wiener Unterwelt aufzusteigen, mit dem nachmaligen Polizeipräsidenten etwa.
Zu ihrer goldenen Zeit werden die Jahre 1945 bis 1955, als Wien (wie Berlin) in vier Besatzungszonen geteilt ist und neben Glücksspiel und Prostitution besonders der Schmuggel blüht. Aufpassen muss man nur, dass man sich mit allen Parteien des heraufziehenden Kalten Krieges gut stellt und zugleich nicht allzu tief in deren Händel gerät. Man muss dafür sorgen, dass die beinamputierte Hure Gisela, trotz ihres wilden Protests, dem russischen Kommandanten frei Haus geliefert wird, und darf sich von den blasierten Franzosen nicht provozieren lassen.
Die Aktion „Eiserner Besen“ wird den Erdbergern fast zum Verhängnis: Auf russisches Geheiß sollen sie diskret eine Reihe alter Nazis liquidieren, damit die Amerikaner sehen, dass ihre perfide Begnadigungspolitik auf Widerstand stößt. Die Erdberger machen ihre Sache allzu gut: Pilzvergiftung und Schlaganfall werden so täuschend inszeniert, die Leiche eines weiteren Opfers so professionell der Praschak’schen Fleischerei zugeführt, dass der Charakter des Strafgerichts sich ins Unsichtbare zu verlieren droht, womit die Russen auch wieder nicht zufrieden sind.
Die Risiken für ein solches Buch, das sich mit einer Unzahl von Figuren und Aktionen über fast 30 Jahre und 600 Seiten erstreckt, liegen auf der Hand. Es darf sich weder von seinem oftmals grotesken Stoff überwältigen lassen, noch ins allzu Coole abgleiten – die Muster des amerikanischen Noir wären hier fehl am Platz. Und es muss eine angemessene Art finden, sein markantes aber schweigsames Personal zu präsentieren. Sie fürchten weder Knast noch Tod, obwohl beides sie jederzeit ereilen könnte. Sofern sie über Humor verfügen, spricht er sich in den Spitznamen aus: Das Kamel heißt so wegen seines Buckels, der Simsalabim, weil er bis zu 14 gestohlene Uhren auf einmal in seinem Enddarm verschwinden lassen kann und in geselliger Runde überrascht, weil es aus ihm tickt. Diese Akteure geben sich nicht der psychologischen Reflexion zu erkennen, sondern in ihren Taten, und wenn sie reden, weiß man oft nicht gleich, was sie meinen. Keiner von ihnen spricht Hochdeutsch, so viel kann man voraussetzen. Und doch wäre es ein Fehler, wenn sie Wienerisch parlierten: das würde diese dunkle Dreigroschenoper in einen Komödienstadel verwandeln.
David Schalko hat darum die gewagte Entscheidung getroffen, durchweg indirekte Rede zu verwenden. An wörtlichem Dialog gibt es nur winzige Fetzen, etwa wenn der Krutzler sagt: So ein Schas, ohne Anführungszeichen. Überall sonst regiert der Konjunktiv. Und obwohl man das gerade in dieser Umgebung nicht vermutet hätte: es geht gut, selbst oder gerade bei den hemmungslosesten Ausbrüchen. „Ob sie völlig deppert sei?, sagte der Krutzler. (…) Beziehungsunfähig! Das sei sie! Halte einen Mann in ihrer Nähe nicht aus. Eine verkappte Lesbierin! Sie nütze den Geschlechtsverkehr nur aus, um sich auf jemanden draufzusetzen wie ein Vogel, der fremde Eier ausbrüte. Raffgierig! (…) Sie solle sich sofort ausziehen, damit er ihr ein Kind machen könne.“
Man darf wohl vermuten, dass der Krutzler nicht gerade „Gechlechtsverkehr“ und „Lesbierin“ gesagt, sondern zu handfesteren Vokabeln gegriffen hat, die besser zu Zeit und Ort passen. Und dennoch hat der Leser nicht den Eindruck, hier wäre etwas beschönigt oder verwässert worden. Die indirekte Rede auf Langstrecke schafft hier, wie es sonst nur lateinische Schriftsteller vermögen, Genauigkeit durch Distanz, eine Qualität, die angesichts der oft tumultuarischen Vorgänge angenehm berührt. Und zwischen dem, was alle diese Figuren tun und äußern, erhebt immer wieder auch der Erzähler seine versonnene Stimme und merkt etwa an, dass die Befreiten von Mauthausen, wie zuvor an der schlechten, nunmehr an der guten Ernährung massenweise stürben.
Der Roman bekommt durch seinen Ton und seine Haltung in den Griff, was sonst als quirliges Panoptikum nach allen Seiten auseinanderspritzen müsste wie das viele Blut, das freizusetzen die Erdberger niemals zögern. Es ist ein Ton, den man so noch nie gehört hat, und eine Haltung, die man vielleicht am besten als Splatter-Stoizismus bezeichnet. Nur zum Schluss, als schon die Sechziger erreicht sind und Wien aus einer verschollenen Vorzeit ins Licht der Moderne tritt, zeigt das Buch eine gewisse Ermüdung. Das Leben hört auf, jeden Tag lebensgefährlich zu sein (Na gut, der Krutzler legt noch mal sieben Jugos auf einmal um, aber sonst . . . ). Ohne Gefahr jedoch gibt es diese Figuren nicht. Aber das, wie gesagt, passiert zum Glück erst ganz am Ende.
David Schalko: Schwere Knochen. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 575 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Ein Buch wie dieses darf sich
nicht von seinem oft grotesken
Stoff überwältigen lassen
Wien, ca. 1946-1949: Der Blick aus dem Kaffeehaus fällt auf eine russische Patrouille.
Foto: Süddeutsche Zeitung Photo
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.09.2018Im Wiener Schmugglereldorado
Merksätze fürs Leben: David Schalkos Ganovenstück "Schwere Knochen" erzählt fabelhaft pointenprall
Wer sich beim Kartenspiel aufs Glück verlässt, versteht nichts vom Mischen. Freiheit meint nichts anderes, als selbst zu bestimmen, wer wann durch die eigene Hand zu Fall komme. Nicht nur der Mensch, auch der Wiener ist am Ende ein Hordentier. Der Salzburger hingegen verliert immer den Nervenkrieg gegen sich selbst. Während Wien einen in den Selbstmord treibt, geht man in Salzburg freiwillig. Ohnehin gibt es nur zwei Arten von Menschen: Kunden und Anbieter. Und der Kunde ist nie König. Wer glaubt, er sei König, ist in Wahrheit immer der Knecht.
Das sind so Merksätze fürs Leben, wie man sie hier lernen kann, vorsorgliche Leitgedanken zum Überleben in der Unterwelt, vermittelt von Autoritäten, die es wissen müssen, weil sie das Weiterleben unter widrigsten Umständen zu ihrem Hauptgeschäft gemacht haben: Stadtbekannte Gunstgewerblerinnen (wie man hier die Huren nennt), erfahrene Kleinganoven, Schieber, Schmuggler, Kartenspieler, ehrenwerte Zuhälter und hochverdiente Bandenbosse, denen die gesamte Stadt und ihre Stoßbezirke in strenger Kompetenzverteilung unterstellt ist.
Es versteht sich, dass dies auch die Polizei vor Ort einschließt, mit der man gedeihlich zu einer Sozialpartnerschaft zusammengefunden hat. Schließlich kennt man sich aus Dachau und Mauthausen, denn im Konzentrationslager mussten sich die Kriminellen vom Wiener Stadtrand auch schon mit den Kommunisten, Russen, Juden sowie Polen arrangieren, statt andauernd bloß zum deutschen Herrenmenschen aufzuschauen: "Genau genommen war das spätere Österreich damals im KZ entstanden." Noch so etwas, das wir hier bald lernen: dass Lachen und Schaudern eng beieinander liegen. In diesem fulminanten Milieuroman ist das Vergnügliche oftmals des Grauslichen Anfang, den wir noch gerade ertragen.
Aufs Glück hat David Schalko sich jedoch nicht verlassen müssen, denn vom Mischen versteht dieser Autor sehr viel. Seine Mischung enthält Krimi, insbesondere Série Noire, dazu Lager-, Großstadt- und Sozialroman, außerdem Great Caper und Geheimagentenstory, Politthriller, Mafiaballade sowie Zuhälterromanze, gewiss auch einiges an Kolportage, Längen oder Hängern, aber insgesamt ergibt sich eine derart starke Mixtur, dass man süchtig werden kann: Ein Dreischillingroman, Grand Guignol und greller Spaß, so handlungs- wie pointenprall, voll schräger Typen, irrer Szenen, Alltagsweisheit, Aberwitz und Kabinettstückchen, vieles davon total überdreht und eben dadurch schwindelnd mitreißend.
Es handelt sich um eine historische Verbrechersaga, angesiedelt im tiefsten zwanzigsten Jahrhundert und offenbar auf tatsächlichen Motiven und Figuren basierend, die der Erzähler souverän zu seiner Geschichte ausfabuliert. Im Wien der dreißiger bis frühen sechziger Jahre folgen wir vor großer zeitgeschichtlicher Kulisse - Anschluss, Weltkrieg, Alliiertenherrschaft in der Viersektorenstadt, Stalins Tod, österreichischer Staatsvertrag, Kubakrise, Mauerbau - den Fährnissen einer Viererclique, zu der sich Halbwüchsige im dritten Bezirk zusammenfinden, als sie einen Pakt fürs Leben schließen.
Zunächst auf Trickbetrug und ungebetene Wohnungsräumungen spezialisiert (weshalb sie als "Erdberger Spedition" bekannt werden), drehen sie im alliierten Schmugglereldorado der Nachkriegszeit bald richtig große Dinger, erst recht da sie als Kapos im Konzentrationslager das professionell organisierte Verbrechen am eigenen Leib kennengelernt haben. Das Lager hat sie daher, wie es heißt, nicht zu Opfern, sondern zu Tätern gemacht. So übernehmen sie die Wiener Unterwelt samt Glücksspiel- und Bordellbetrieben und können sich sogar gegen den konkurrierenden Nachwuchs, der von einer eifernden Puffmutter reichlich produziert wird, lange halten. Zunehmend aber brechen im Kleeblatt Streit und Zwistigkeiten aus und in Wien neue Zeiten an. Am Schluss ist zwar die junge Konkurrenz erledigt, doch die Clique ebenso.
Zentralfigur der ausschweifenden Handlung ist ein gewisser Ferdinand Krutzler, von hünenhafter Statur und überall als Notwehrspezialist bekannt, weil er nach geschäftlichen Meinungsverschiedenheiten bereits elfmal Freispruch wegen tödlicher Notwehr bekommen hat (mit ein bisschen Hilfe seiner Freunde). Er ist es auch, der über die titelgebenden "schweren Knochen" verfügt, nicht etwa nur weil er ein schwerer Junge ist, sondern buchstäblich physisch, nämlich erbbedingt. Das jedenfalls attestiert ihm sein Kumpan, der sich mit Knochen auskennt, weil er Erbe eines Fleischergeschäfts ist und dort selbst in fleischarmen Nachkriegsjahren erstaunlich reiche Ware vorhält (wozu der Inhaber gelegentlich auch Krutzlers Notwehropfer, vorzugsweise alte Nazis, filetiert). Dargeboten wird dies alles in achtzehn langen Abschnitten von einem wundersam allwissenden Erzähler, der nie aus seiner Anonymität heraustritt, halb Stimme des Milieus, halb teilnehmender Beobachter, kenntnisreich, verständnisvoll und dennoch dezidiert entrückt - als lauschten wir in einem Wiener Vorstadtbeisl in achtzehn hart durchzechten Nächten der Suada eines späten Zeitzeugen.
"Schwere Knochen" ist bereits Schalkos vierter Roman, und mit ihm hat er sich endgültig in die Meisterliga von Wolf Haas hineingeschrieben. Bislang hat der Autor, Jahrgang 1973, eher als Regisseur, insbesondere Film- und Fernsehmacher reüssiert. Die Idee zu dem historischen Ganovenstück soll er, wie man liest, schon lang gehegt und eigentlich als Serienformat geplant haben. Da ihm aber das Budget von Tom Tykwer und Achim von Borries offenbar nicht zur Verfügung stand, wurde daraus ein Roman: Tschuschenstadt Wien statt Babylon Berlin - ein Glücksfall für die Literatur und eine Lust für alle, die ohnehin das Kopfkino am höchsten schätzen, weil Bilder nirgends stärker leuchten als in der eigenen Vorstellungskraft.
Im knappen Vorwort heißt es: "Diese Geschichte ist bestimmt nicht wahr" - zum Glück, kann man da gewiss nur anfügen. Schöner aber sind wir lange nicht beschwindelt worden, und selten kommt das Schwere derart leichtgängig daher.
TOBIAS DÖRING
David Schalko: "Schwere Knochen". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 576 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Merksätze fürs Leben: David Schalkos Ganovenstück "Schwere Knochen" erzählt fabelhaft pointenprall
Wer sich beim Kartenspiel aufs Glück verlässt, versteht nichts vom Mischen. Freiheit meint nichts anderes, als selbst zu bestimmen, wer wann durch die eigene Hand zu Fall komme. Nicht nur der Mensch, auch der Wiener ist am Ende ein Hordentier. Der Salzburger hingegen verliert immer den Nervenkrieg gegen sich selbst. Während Wien einen in den Selbstmord treibt, geht man in Salzburg freiwillig. Ohnehin gibt es nur zwei Arten von Menschen: Kunden und Anbieter. Und der Kunde ist nie König. Wer glaubt, er sei König, ist in Wahrheit immer der Knecht.
Das sind so Merksätze fürs Leben, wie man sie hier lernen kann, vorsorgliche Leitgedanken zum Überleben in der Unterwelt, vermittelt von Autoritäten, die es wissen müssen, weil sie das Weiterleben unter widrigsten Umständen zu ihrem Hauptgeschäft gemacht haben: Stadtbekannte Gunstgewerblerinnen (wie man hier die Huren nennt), erfahrene Kleinganoven, Schieber, Schmuggler, Kartenspieler, ehrenwerte Zuhälter und hochverdiente Bandenbosse, denen die gesamte Stadt und ihre Stoßbezirke in strenger Kompetenzverteilung unterstellt ist.
Es versteht sich, dass dies auch die Polizei vor Ort einschließt, mit der man gedeihlich zu einer Sozialpartnerschaft zusammengefunden hat. Schließlich kennt man sich aus Dachau und Mauthausen, denn im Konzentrationslager mussten sich die Kriminellen vom Wiener Stadtrand auch schon mit den Kommunisten, Russen, Juden sowie Polen arrangieren, statt andauernd bloß zum deutschen Herrenmenschen aufzuschauen: "Genau genommen war das spätere Österreich damals im KZ entstanden." Noch so etwas, das wir hier bald lernen: dass Lachen und Schaudern eng beieinander liegen. In diesem fulminanten Milieuroman ist das Vergnügliche oftmals des Grauslichen Anfang, den wir noch gerade ertragen.
Aufs Glück hat David Schalko sich jedoch nicht verlassen müssen, denn vom Mischen versteht dieser Autor sehr viel. Seine Mischung enthält Krimi, insbesondere Série Noire, dazu Lager-, Großstadt- und Sozialroman, außerdem Great Caper und Geheimagentenstory, Politthriller, Mafiaballade sowie Zuhälterromanze, gewiss auch einiges an Kolportage, Längen oder Hängern, aber insgesamt ergibt sich eine derart starke Mixtur, dass man süchtig werden kann: Ein Dreischillingroman, Grand Guignol und greller Spaß, so handlungs- wie pointenprall, voll schräger Typen, irrer Szenen, Alltagsweisheit, Aberwitz und Kabinettstückchen, vieles davon total überdreht und eben dadurch schwindelnd mitreißend.
Es handelt sich um eine historische Verbrechersaga, angesiedelt im tiefsten zwanzigsten Jahrhundert und offenbar auf tatsächlichen Motiven und Figuren basierend, die der Erzähler souverän zu seiner Geschichte ausfabuliert. Im Wien der dreißiger bis frühen sechziger Jahre folgen wir vor großer zeitgeschichtlicher Kulisse - Anschluss, Weltkrieg, Alliiertenherrschaft in der Viersektorenstadt, Stalins Tod, österreichischer Staatsvertrag, Kubakrise, Mauerbau - den Fährnissen einer Viererclique, zu der sich Halbwüchsige im dritten Bezirk zusammenfinden, als sie einen Pakt fürs Leben schließen.
Zunächst auf Trickbetrug und ungebetene Wohnungsräumungen spezialisiert (weshalb sie als "Erdberger Spedition" bekannt werden), drehen sie im alliierten Schmugglereldorado der Nachkriegszeit bald richtig große Dinger, erst recht da sie als Kapos im Konzentrationslager das professionell organisierte Verbrechen am eigenen Leib kennengelernt haben. Das Lager hat sie daher, wie es heißt, nicht zu Opfern, sondern zu Tätern gemacht. So übernehmen sie die Wiener Unterwelt samt Glücksspiel- und Bordellbetrieben und können sich sogar gegen den konkurrierenden Nachwuchs, der von einer eifernden Puffmutter reichlich produziert wird, lange halten. Zunehmend aber brechen im Kleeblatt Streit und Zwistigkeiten aus und in Wien neue Zeiten an. Am Schluss ist zwar die junge Konkurrenz erledigt, doch die Clique ebenso.
Zentralfigur der ausschweifenden Handlung ist ein gewisser Ferdinand Krutzler, von hünenhafter Statur und überall als Notwehrspezialist bekannt, weil er nach geschäftlichen Meinungsverschiedenheiten bereits elfmal Freispruch wegen tödlicher Notwehr bekommen hat (mit ein bisschen Hilfe seiner Freunde). Er ist es auch, der über die titelgebenden "schweren Knochen" verfügt, nicht etwa nur weil er ein schwerer Junge ist, sondern buchstäblich physisch, nämlich erbbedingt. Das jedenfalls attestiert ihm sein Kumpan, der sich mit Knochen auskennt, weil er Erbe eines Fleischergeschäfts ist und dort selbst in fleischarmen Nachkriegsjahren erstaunlich reiche Ware vorhält (wozu der Inhaber gelegentlich auch Krutzlers Notwehropfer, vorzugsweise alte Nazis, filetiert). Dargeboten wird dies alles in achtzehn langen Abschnitten von einem wundersam allwissenden Erzähler, der nie aus seiner Anonymität heraustritt, halb Stimme des Milieus, halb teilnehmender Beobachter, kenntnisreich, verständnisvoll und dennoch dezidiert entrückt - als lauschten wir in einem Wiener Vorstadtbeisl in achtzehn hart durchzechten Nächten der Suada eines späten Zeitzeugen.
"Schwere Knochen" ist bereits Schalkos vierter Roman, und mit ihm hat er sich endgültig in die Meisterliga von Wolf Haas hineingeschrieben. Bislang hat der Autor, Jahrgang 1973, eher als Regisseur, insbesondere Film- und Fernsehmacher reüssiert. Die Idee zu dem historischen Ganovenstück soll er, wie man liest, schon lang gehegt und eigentlich als Serienformat geplant haben. Da ihm aber das Budget von Tom Tykwer und Achim von Borries offenbar nicht zur Verfügung stand, wurde daraus ein Roman: Tschuschenstadt Wien statt Babylon Berlin - ein Glücksfall für die Literatur und eine Lust für alle, die ohnehin das Kopfkino am höchsten schätzen, weil Bilder nirgends stärker leuchten als in der eigenen Vorstellungskraft.
Im knappen Vorwort heißt es: "Diese Geschichte ist bestimmt nicht wahr" - zum Glück, kann man da gewiss nur anfügen. Schöner aber sind wir lange nicht beschwindelt worden, und selten kommt das Schwere derart leichtgängig daher.
TOBIAS DÖRING
David Schalko: "Schwere Knochen". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 576 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein Glücksfall für die Literatur« Tobias Döring FAZ 20180912